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Wenn die Freundschaft mit Wackenroder von hoher Bedeutung für Ludwig's innere Entwickelung war, und die mit Burgsdorff später wichtige Folgen für sein äußeres Leben hatte, so kam endlich noch ein drittes Verhältniß hinzu, welches sogleich einen entscheidenden Einfluß auf sein Schicksal nach beiden Seiten hin gewinnen sollte. Dies war die Verbindung mit Wilhelm Hensler, dem Stiefsohn des Kapellmeisters Reichardt.
Auch er war eine offene, muntere und bewegliche Natur, für jeden bedeutenden Eindruck fähig und empfänglich. Erst später war er nach Berlin in das Haus seines Stiefvaters gekommen, um auf Gedike's Anstalt seine Ausbildung zu vollenden. Hier wurde er Ludwig's unmittelbarer Nachbar auf der Schulbank. Man gefiel sich gegenseitig, entdeckte manche Uebereinstimmungen in Wesen und Neigung, und knüpfte endlich ein vertrauliches Verhältniß an. Hensler unterließ es nicht, den neugewonnenen Freund in das Haus des Stiefvaters einzuführen, wo jener so allgemeine Theilnahme und Zuneigung erweckte, daß er bald in demselben vollständig heimisch wurde. Zu Zeiten übersiedelte sich Ludwig ganz dorthin, und wie Arbeit und Zerstreuungen theilte Hensler auch das Zimmer mit ihm. Er konnte mehr für den Sohn als den Freund des Hauses gelten. Der Vater legte diesem 76 Verkehr keinerlei Hinderniß in den Weg. Mit voller Befriedigung sah er die Anlagen des Sohnes immer selbständiger hervortreten; es schien rathsam, ihm größere Freiheit zu gestatten, ihn gewähren zu lassen.
Auch gab es in Berlin vielleicht kein Haus, das für die Fortbildung einer emporkeimenden Dichterkraft eine bessere Schule gewesen wäre als das des Kapellmeisters Reichardt. Es war ein Sammelplatz für Künste und Künstler. Der frische Geist der dichterischen und künstlerischen Erhebung, der Deutschland seit zwei Jahrzehnden durchzog und es fast zu verjüngen schien, wirkte hier lebendiger als irgendwo. Man besaß Geist und Geschmack, verfolgte mit Antheil jede neue Wendung in Kunst und Literatur, und nahm eifrig für und wider Partei. Mit dem Nachdruck des tiefern Kunsteifers wurde Musik getrieben, Goethe verehrte man als den Genius der neuern Zeit und Poesie, und allgemeine künstlerische Ausbildung galt für unerläßliche Pflicht. Hier war der Kreis, in dem Ludwig's jugendliches Talent seiner Reise entgegengeführt werden konnte.
Reichardt selbst war ein Mann, ganz geeignet, Jüngere anzuregen, zu bilden, in das Verständniß der Poesie und Musik einzuführen. Er stand im Mittelpunkte des musikalischen Lebens, welches in den letzten Jahren einen glänzendern Aufschwung genommen hatte. Im Jahre 1775 war er an Graun's Stelle nach Berlin berufen worden, er hatte einige Opern componirt, und war seit dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelm's II. als Director des neubegründeten Orchesters der Italienischen Oper in einen umfassendern Wirkungskreis getreten. Mit Sängern und Schauspielern, mit Künstlern aller Art brachte ihn sein Beruf in Berührung, mit vielen wissenschaftlichen und dichterischen Namen hatte er Verbindungen, fremde Künstler und Gelehrte versäumten es 77 nicht, sein Haus zu besuchen. Er selbst war voll Geist und Beweglichkeit. Auf die Entwickelung seines musikalischen Talents legte er keinen ausschließlichen Werth. Durch eine vielseitige, allgemeine Bildung, durch Kenntnisse in den verschiedensten Fächern, durch lebhafte Theilnahme an allen Ausgaben des Lebens wollte er sich von seinen einseitigen Fachgenossen unterscheiden, er wollte kein dürftiger, halbgebildeter Musikmeister sein. Er war ein eifriger Anhänger Kant's und der neuen kritischen Philosophie. Er hatte eine Zeitlang in dem Fache der Verwaltung gearbeitet. Später hatte er bedeutende Reisen unternommen, hatte Italien gesehen, war in Paris und London gewesen, und war mit Goethe in Berührung gekommen, dessen »Claudine von Villa bella« er componirt hatte. Auch als Schriftsteller war er aufgetreten. Er war Virtuos und Componist, theoretischer und schriftstellender Musiker. Aber diese unruhige Vielthätigkeit zersplitterte doch seine Kräfte und beförderte ein starkes Selbstvertrauen, welches, da er Alles kennen und verstehen wollte, ihn bisweilen über seine Grenzen hinausführte.
Auf Ludwig wirkte zunächst die Frische der anregenden Kraft, der bedeutende Name in der Kunstwelt, die angesehene Stellung des Mannes. Zum ersten Male blickte er hier in ein anerkanntes, von Geist getragenes, glänzend erscheinendes Kunstleben. Wovon er sonst nur einzelne Seiten aus der Ferne gesehen hatte, das trat ihm hier als ein Ganzes, in sich Fertiges entgegen. An diesen neuen Vorbildern begann er seine Kräfte zu messen. Aus der allgemeinern Vorbereitung der Schule ging er nun in die künstlerischen Lehrjahre über, welche ihm schon jene Richtung geben sollten, die ihn einige Jahre später in die Literatur hineinführte.
Zunächst fand seine Neigung für das Theater hier nicht nur neue Nahrung, sondern auch Ausbildung. Es 78 war die Zeit, wo in Berlin die Theaterliebhaberei immer mehr Boden gewann. Die Bühne galt für ein hauptsächliches Mittel allgemeiner und volksthümlicher Bildung, die Anregungen großer Talente in der Schauspielerwelt kamen hinzu, die dem früher verachteten Stande Anerkennung zu erobern anfingen. Man eiferte ihnen nach, las in Gemeinschaft dramatische Dichtungen nach Rollenvertheilung, und stellte endlich zu eigener Uebung in geselligen Kreisen Versuche in den mimischen Künsten an. In Reichardt's Hause sah man es daher nicht ungern, als sich um den Stiefsohn eine Anzahl fähiger Jünglinge sammelte, und aus kindischen Anfängen ein Liebhabertheater hervorging, das zuletzt die Haltung ernster Studien annahm.
Bis dahin hatte Ludwig sein Theatertreiben in alter Weise fortgesetzt. Zu Hause, im Freien, wo es irgend anging, hatte er mit seinen Geschwistern auf improvisirter Bühne wie ehemals gespielt. Wie früher in der Kirche, hatte er später einmal in einem abgelegenen Theile des Thiergartens einen freien Platz entdeckt, der von Bäumen und dunkelm Gebüsch umschlossen, durch seine tiefe Stille und die Sicherheit vor Ueberfällen störender Spaziergänger zur Darstellung irgendeiner Tragödie einzuladen schien. Sogleich begann man Gerstenberg's »Ugolino« abzuspielen, der sich damals besonderer Gunst erfreute, weil er mit dem geringsten Personenaufwande im Gräßlichen das Höchste leistete, was zu erreichen war. Natürlich spielte Ludwig den Ugolino, die Uebrigen thaten ihr Bestes, als zu ihrer großen Ueberraschung aus dem Seitengebüsche ein Mann hervortrat, welcher die Schauspieler unbemerkt belauscht hatte. »Sie haben Ihre Sache recht brav gemacht, junger Mann«, wandte er sich zu Ludwig; »aber wie kommen Sie bei Ihrer Jugend schon zu diesem gräßlichen Stücke?« Ein Vorwurf, welchen man bei 79 der Anerkennung, die man gefunden hatte, sehr gern in den Kauf nahm.
Alles gewann ein anderes Ansehen, als man unter Reichardt's Augen zu spielen anfing. Es sollte kein Spiel mehr bleiben; es sollte eine Gelegenheit zur Ausbildung des guten Geschmacks und feiner Sitten, eine Schule für glückliche Anlagen werden. Zu der leitenden Einsicht gesellten sich bedeutendere Hülfsmittel. Ein ziemlich zahlreiches, für die Sache begeistertes Personal fand sich beisammen. Alle Freunde Hensler's und Ludwig's wurden dazu herangezogen, die irgend Lust und Neigung hatten, an diesen Versuchen theilzunehmen. Durch Kauf und Geschenk erwarb man eine Art von Garderobe, und für manchen andern Bedarf sorgte die Geschicklichkeit Friedrich Tieck's, den der Vater 1790 zu dem Bildhauer Bettkober in die Lehre gab. An den Darstellungen selbst nahm er weniger Antheil, aber für die Ritterstücke wußte er die unentbehrlichen Helme und Panzer mit kunstgeübter Hand aus Pappe, Gold- und Silberpapier anzufertigen, und den edeln Rost des Alterthums so täuschend nachzuahmen, daß auch er in seiner Kunst allgemeinen Beifall erwarb. Endlich konnte man auf ein, wenn auch nicht zahlreiches, doch gebildetes und urtheilsfähiges Publicum rechnen, das zugleich durch seine persönliche Theilnahme ermuthigend einwirkte.
Man wagte sich an die Darstellung großer, ja classischer Schauspiele. Vor keiner Schwierigkeit bebte man zurück, je unübersteiglicher die Hindernisse schienen, desto lieber suchten die jungen Künstler sie zu überwinden. Ihre Phantasie nahm den höchsten Flug, und dem Schwersten glaubten sie sich gewachsen. Neben einigen geläufigen Bühnenstücken spielten sie Lessing's »Schatz« und »Philotas«. Dann gingen sie zu den beliebten Ritterstücken über, in denen sie in allem 80 Waffenschmucke prangen konnten, und endlich im Sturmschritte zu Shakspeare. Man theilte sich in Rollen und Rollenfächer; ein wahrhafter Künstlerwetteifer entstand, ein Jeder suchte sich von der besten Seite zu zeigen. Wackenroder schien durch sein ernstes Wesen für die Darstellung von Königen und Fürsten geeignet, Toll und Hensler spielten die jugendlich kriegerischen Helden, Bothe die Greise, Viering und Piesker übernahmen die komischen Rollen. Die schwierigsten Charaktere im Trauerspiele wie im Lustspiele hatte man Ludwig mit voller Anerkennung seiner Ueberlegenheit abgetreten.
Und in der That, neben der kindischen Unbehülflichkeit der Einen und der leichten Liebhaberei der Andern trat bei ihm die glückliche Anlage für mimische Charakterdarstellung unzweideutig hervor. Auch besaß er Alles, was dazu erforderlich war; eine edle, schlanke Gestalt, eine klangvolle, umfassende Stimme, die von den feinsten Wandlungen bis zum gewaltigen Donner der Leidenschaft anschwellen konnte, ein ausdrucksvolles Gesicht, das mit ungesuchter Kunst jede Bewegung des Innern widerspiegelte. Doch seine Hauptstärke lag in einem andern Punkte; der Dichter machte bei ihm den Schauspieler. Es war nicht die nachahmende Darstellung des gewöhnlichen Schauspielers, welche er gab, sondern er schuf selbst, wenn er spielte, er ging dem Dichter nicht allein nach, er ergänzte und überholte ihn oft. Es leitete ihn ein tieferes, ahnendes Verständniß der Dichterwerke. Mit den ersten Worten, die er sprach, erfüllte ihn seine Rolle ganz, die Täuschung wurde zur Wahrheit, er wandelte sich in den fremden Charakter um. Er glaubte die Person zu sein, welche er darstellte, und war es auch nach dem Eindrucke zu schließen, welchen er auf seine Freunde, auf die Zuschauer machte. In dem Augenblicke, wo Otto von Wittelsbach (er 81 spielte diese Rolle in dem damals beliebten Stücke dieses Namens von Babo) von dem Gefühle tödtlicher Beleidigung und schwarzen Undanks gestachelt zum Mörder wird, ergriff ihn bei den sonderbar dunkeln Worten: »Was wollen die Hunde mit ihrem Bellen?« eine innere Wuth, ein solches Außersichsein im eigentlichen Sinne des Worts, daß Wackenroder, der den Kaiser spielte, und seine Umgebung sich scheu vor ihm zurückzogen, weil sie im Ernst fürchteten, er könne ein Unheil anrichten.
Einen nicht geringern Erfolg hatte er in humoristischen Rollen, in denen er seiner komischen Laune den vollen Zügel schießen ließ; so als Falstaff, wo Wackenroder wiederum als König, Hensler als Prinz, Toll als Percy neben ihm auftraten. Beachtete er dagegen das Spiel seiner Freunde, so schien es ihnen nicht voller Ernst mit der Sache, als seien sie in ihren Rollen Doppelwesen, deren äußere Hälfte zu der innern nicht passen wollte. Hatte er selbst bei seinen Darstellungen ein Vorbild, so war es Fleck, und er mochte versuchen, die Eindrücke hervorzurufen, welche er von jenem in seinen Hauptrollen empfangen hatte.
Frühzeitig hatte Reichardt Ludwig's hervortretenden Beruf erkannt, er folgte ihm mit Aufmerksamkeit, und durch ein eingehendes und wohlmeinendes Urtheil leitete er ihn allmälig von seinem kühnen Naturalismus zu einer bewußtern Kunstübung an. Zunächst wies er ihn auf die Nothwendigkeit hin, seine Stimme zu bilden und zu beherrschen. Als er einst allgemeinen Beifall dadurch geerntet hatte, daß er unerwartet die Stimme wechselte, und in einem fremden, bis zur Täuschung nachgeahmten Ton gesprochen hatte, sagte Reichardt zu ihm: »Junger Freund, Sie misbrauchen und gefährden Ihr Organ. Jedes musikalische Instrument ist auf einen gewissen Ton gestimmt, und die Aufgabe des Virtuosen 82 ist, diesen immer reiner und voller herauszuarbeiten. Je mehr dies geschieht, um so sicherer ist auch die Wirkung. Nicht anders ist es mit der Stimme des Menschen. Jedes Organ hat seinen eigenthümlichen Grundton. Es kommt darauf an, diesen nach allen Nüancen hin auszubilden, deren er fähig ist. Vertauscht man willkürlich diesen natürlichen Ton mit einem fremden, unnatürlichen, erzwungenen, so geräth man in Gefahr, jenen zu verlieren, und um eines eiteln Kunststücks willen das Organ zu Grunde zu richten.« Auch führte er wol weiter aus, wie es nicht darauf ankomme, durch eine gewaltsame Anstrengung desselben die Zuhörer in Staunen zu setzen, es vielmehr zu beherrschen, es nicht verschwenderisch auszugeben, sondern im rechten Zeitpunkte mit aller Kraft wirken zu lassen. Die durch die Stimme selbst gebotene Art der Anwendung schütze sie nicht nur vor krankhaftem Reiz, sondern stärke und erweitere sie.
Den Werth dieser einfachen und natürlichen Regeln lernte Ludwig durch ihre Befolgung bald genug anerkennen. Gern achtete er daher auch auf manchen andern Wink Reichardt's. Zugleich begann er mit Eifer Engel's »Mimik« zu lesen, welche damals in hohem Ansehen stand. Endlich hatte Reichardt auch dafür Sorge getragen, daß sein Kunstjünger Gelegenheit fand, die großen Vorbilder, die er sich gewählt hatte, fortgesetzt in eigener Anschauung zu studiren. Er hatte bei Engel, der im Verein mit Ramler das sogenannte Nationaltheater seit 1787 leitete, für ihn und seinen Stiefsohn ein Freibillet ausgewirkt. So wurde Ludwig durch Anlage und Eifer bald über die Grenzen der gewöhnlichen Liebhaberei und jugendlichen Begeisterung hinausgeleitet, und es schien in der That, als ob die Vorbereitung für die Bühne seine stille Absicht sei.
Indessen gewannen diese Darstellungen noch einen Reiz 83 anderer Art, der freilich nicht aus dem Kunsteifer hervorging. Zu den Spielen vor den Coulissen gesellte sich ein zweites hinter denselben, das mindestens ebenso anziehend war als jenes. Zu dem Publicum gehörte auch Reichardt's Frau und deren Schwestern, Töchter des hamburgischen Pastors Alberti, der ein Freund Lessing's gewesen war und in der theologischen Welt keinen unbedeutenden Namen hatte. Die beiden jüngern Schwestern, ein paar heranwachsende Mädchen, waren mit den Kunstgenossen bald bekannter geworden, und wurden von diesen trotz ihrer Jugend und Anmuth mit dem ehrwürdigen Namen der »Tanten«, den sie in der Familie führten, scherzweise bezeichnet. Anfangs hatten die Tanten den dramatischen Spielen mit vollem Beifalle zugesehen, dann ließen sie sich bereit finden, auf ihre Stellung zu verzichten, und zur Unterstützung dieser Kunstübungen einige passende Rollen zu übernehmen. Nun erhielten die Vorstellungen einen verdoppelten Schwung; man spielte mit dem feurigsten Eifer, und unter der Hülle der gemalten Leidenschaft fing die wirkliche an lebendig zu werden.
Es konnte nicht fehlen, daß der Ruf dieser werdenden Kunstschule über die bescheidenen Grenzen der Familie und des Hauses hinausging. Reichardt mochte das nicht ungern sehen, und bald fand sich eine Gelegenheit, die gewonnene Virtuosität auf einem ganz andern Schauplatze zu zeigen.
Auch mit dem Hofe stand Reichardt in Verbindung. Seine Stellung als Kapellmeister führte das mit sich; es fehlte ihm nicht an Freunden, und sein Talent hatte ihm die besondere Gunst des Königs erworben. Er verkehrte auch in dem Hause der damals immer noch einflußreichen Frau des Kämmeriers Rietz. Diese hatte ein geschmackvolles Haustheater errichten lassen, auf welchem vor dem Könige und dessen nächster Umgebung bisweilen Vorstellungen gegeben wurden. Bei den 84 Singspielen wurde auch Reichardt zu Rathe gezogen. Bei einer festlichen Veranlassung sollte von einigen Sängern des großen Theaters »Erwin und Elwire« dargestellt werden. Reichardt hatte die Leitung übernommen, und selbst einen auf die Tagesfeier bezüglichen Prolog gedichtet. Sein Stiefsohn sollte ihn sprechen, und die Vorstellung mit malerischen Gruppirungen schließen, welche von seinen jüngern Kindern ausgeführt werden sollten. Das Ganze sollte den Charakter eines Familienfestes tragen.
Hensler wies indeß die ihm zugetheilte Rolle mit Entrüstung zurück, er stimmte dem Urtheil der öffentlichen Meinung über die Festgeberin vollkommen bei, und betheuerte, er werde sich niemals dazu hergeben, vor ihr, in ihrem Hause als Declamator und Lobredner aufzutreten. Der Stiefvater war in nicht geringer Verlegenheit. Endlich aber wurde der Widerstrebende dennoch durch Nützlichkeitsgründe bestimmt, sich der verhaßten Aufgabe zu unterziehen. Die jungen Schauspieler hofften nämlich durch Reichardt's Vermittelung die zu dieser Vorstellung angefertigten glänzenden Gewänder für ihre eigene Garderobe erwerben zu können.
Wirklich kam das Festspiel, wie es Reichardt beabsichtigt hatte, zu Stande. Hensler sprach seinen Prolog vor dem Könige und dessen Umgebung. Die trockene, gezwungene Weise, in der es geschah, wurde ihm entschuldigend als jugendliche Befangenheit und Ungeschick des Anfängers ausgelegt, und er war zufrieden, nicht weiter in Anspruch genommen zu werden. Dagegen gingen die Gruppirungen am Schlusse unter allgemeinem Beifall von Statten. Der König sprach seine Zufriedenheit aus, ließ sich die Kinder vorführen, und lobte ihre Geschicklichkeit und Anstelligkeit. Auch Ludwig hatte zu dieser Vorstellung Zutritt erhalten. Er hatte seinem Freunde hinter den Coulissen mit Spannung zugehört, und 85 hier seinen Standpunkt so gewählt, daß er den Blick auf den Zuschauerraum, den König und den Hofkreis frei hatte. Nach dem Schlusse betrat er den Saal, und wurde der mächtigen Frau als hoffnungsvoller junger Mensch vorgestellt.
Spiele, welche mit so großem Ernst betrieben wurden und zu solchen Folgen führten, waren allerdings den Studien nicht eben förderlich. Wie gern vergaßen die tragischen Helden die demüthigere Rolle, welche sie den Tag über auf der Schulbank spielten! Auf solche Erregungen der Phantasie und Anspannung aller Kräfte folgte die Ermattung, die in den Lehrstunden übel vermerkt wurde. Endlich wurden diese Spiele selbst bei Gedike verdächtigt.
Zu untergeordneten Rollen hatte man hin und wieder einen Schulgefährten, Namens Schmohl, den Sohn eines wohlhabenden Bauern, herangezogen, der nun an den Freunden zum Verräther wurde, und nicht ohne Scheinheiligkeit Gedike auf den übeln Einfluß solcher Theaterliebhaberei aufmerksam machte. In der nächsten Lehrstunde blieben Verhör und Strafrede nicht aus. Es sei stadtkundig geworden, daß man Schauspielerei treibe, wie es damit stehe. Man versäume darüber seine Schulpflichten, und komme auf unnütze Gedanken und üble Angewohnheiten. Dagegen trat Ludwig als Vertheidiger seiner Liebhaberei und seiner Freunde auf. Er könne dem Herrn Rath die Versicherung geben, Alles sei in bester Ordnung. Es hätten sich zu diesen Uebungen eine Anzahl seiner Schüler verbunden, welche er selbst zu den besten zu rechnen pflege. Auch sei weder ihm noch seinen Freunden eine grobe Pflichtverletzung nachgewiesen worden. Endlich fänden diese Aufführungen in dem Hause und unter den Augen eines angesehenen und geachteten Mannes, des Herrn Kapellmeisters Reichardt, statt, der seinen Kindern und deren Freunden dieses Vergnügen erlaubt habe, darin eine nützliche 86 Uebung erkenne, und alle Zeit nach dem Rechten gesehen habe. Durch diese altkluge Rede schien der Herr Rath zufriedengestellt, und so war denn der Sturm für diesmal glücklich abgeschlagen.
Zu den einstudirten Schauspielen gesellten sich endlich improvisirte Aufführungen, die bei Schauspielern und Zuschauern fast noch mehr Beifall fanden, weil man sich hier freier bewegen konnte. Es waren dramatische Darstellungen von Sprüchwörtern. Der Gang der Handlung wurde dem Thema gemäß gemeinschaftlich verabredet, dann überließ man es dem Einzelnen, die Andeutungen auszufüllen und zu lebendiger Wirkung zu bringen. Hier konnte sich nicht nur ein gewandtes Spiel, sondern ein schlagfertiger Witz, Erfindungskraft und Phantasie, Fluß der Rede, überhaupt Geistesgegenwart auf das glänzendste zeigen. Dichter und Schauspieler traten in unmittelbarer, ursprünglicher Verbindung hervor. Eben das war Ludwig's Stärke. Fast leidenschaftlich liebte er diese Spiele, zu denen er auch in spätern Jahren gern zurückkehrte.
Reichardt's Haus war für ihn zur Kunstschule geworden. Nicht nur sein Talent für Poesie und Schauspiel war ihm selbst bewußter geworden und zu einer gewissen allgemeinen Anerkennung gekommen, sein Sinn und Geschmack für die Künste, für Kunst überhaupt, wurden angeregt, geweckt, geläutert. In einem Kreise, wo man nur Musik athmete, mußte sich endlich auch sein bisher noch geschlossenes Gefühl öffnen. Wie oft hörte er nicht musikalische Aufführungen, Gespräche über Musik, Urtheile über Werth oder Unwerth einzelner Compositionen. Gewann er auch jetzt keine Neigung, selbst ausführend theilzunehmen, so fing er doch an, in den classischen Werken die Geheimnisse der Musik zu ahnen. Auch hier hatte er, durch Eingebung geleitet, im Gegensatz zum Modegeschmack sich zu Mozart's großen Tondichtungen 87 hingewandt, ohne sich durch die Tageskritiken, und selbst so gewichtige Stimmen wie Reichardt's, irre machen zu lassen. Mozart's siegreicher Gegner war Dittersdorf, dessen komische Opern auch in Berlin unter großem Andrange des Publicums gegeben wurden. Man zog den »Doctor und Apotheker« dem »Figaro« und »Don Juan« vor, und »Die Liebe im Narrenhause« konnte in öffentlichen Anzeigen als das erste musikalische Kunstwerk angepriesen werden.
In überraschender Weise sollte Ludwig's Anerkennung Mozart's belohnt werden. Als er eines Abends, es war im Jahre 1789, seiner Gewohnheit nach lange vor dem Anfange der Vorstellung die halbdunkeln, noch leeren Räume des Theaters betrat, erblickte er im Orchester einen ihm unbekannten Mann. Er war klein, rasch, beweglich und blöden Auges, eine unansehnliche Figur in grauem Ueberrock. Er ging von einem Notenpult zum andern, und schien die aufgelegten Musikalien eifrig durchzusehen. Ludwig begann sogleich ein Gespräch anzuknüpfen. Man unterhielt sich vom Orchester, vom Theater, der Oper, dem Geschmacke des Publicums. Unbefangen sprach er seine Ansichten aus, aber mit der höchsten Bewunderung von den Opern Mozart's. »Sie hören also Mozart's Opern oft und lieben sie?« fragte der Unbekannte. »Das ist ja recht schön von Ihnen, junger Mann.« Man setzte die Unterhaltung noch eine Zeit lang fort; der Zuschauerraum füllte sich allmälig, endlich wurde der Fremde von der Bühne her abgerufen. Seine Reden hatten Ludwig eigenthümlich berührt, er forschte nach. Es war Mozart selbst gewesen, der große Meister, der mit ihm gesprochen, ihm seine Anerkennung ausgedrückt hatte.
Hatte die Neigung zu musikalischer Bildung in Berlin, durch manche Umstände begünstigt, in dieser Zeit offenbar zugenommen, so ließ sich vom Geschmacke für die bildenden 88 Künste umsoweniger sagen. Es fehlte an bedeutenden Anregungen, an Gelegenheit, durch häufigen Anblick von Gemälden und Bildwerken Auge und Sinn zu üben und zu bilden. Zwar hatte man die Akademie der Künste, auch war Schadow bereits hervorgetreten, und außerdem gab es noch manchen Künstler; doch hatte man des Nothwendigen und Unentbehrlichen noch zu viel zu thun, um einen großen Luxus mit den Künsten treiben zu können. Die einzige Sammlung, welche es gab, die aber weder an Meisterwerken ersten Ranges reich war, noch einen unbedingten Zutritt gestattete, war die des königlichen Schlosses. Die Möglichkeit, Gemälde nebeneinander zu sehen und zu vergleichen, gewährte nur die Kunstausstellung, welche die Akademie veranstaltete. Die Sehnsucht nach einem tiefen Blick in die Kunstwelt der Farben war indeß bei Ludwig erwacht, und zu fast schmerzlicher Höhe stieg sie bei seinem Freunde Wackenroder. Mit ihrem Durst nach Kunst und Kunsterkenntniß schienen sie in dieser Dürre fast allein zu stehen, als sie die Einwirkungen eines Mannes erfuhren, der für künstlerische Bildung in weitern Kreisen eifrig zu wirken suchte, nämlich von Karl Philipp Moritz.
Der Hofrath Moritz war als ein sonderbarer, launenhafter, aber geistvoller Mann bekannt. Er galt für einen Archäologen und Kunstkenner, für einen Kritiker und Sprachforscher, für einen vielseitigen, thätigen Schriftsteller und feinen Stilisten. Gelegentlich wollte er auch wol Dichter sein, in allen künstlerischen Dingen erkannte man ihn als Autorität an. Auch war er ein Stimmführer der kleinen Gemeinde, welche in Berlin eine unbedingte Anerkennung Goethe's forderte. Mit diesem selbst hatte er in Rom in freundschaftlichem Verkehr gestanden. Seine kühnen Reisen nach England und Italien, und manche andere theils unbewußte, theils gemachte Sonderbarkeit hatte ihn in den Ruf 89 eines Originals gebracht, den er sich nicht ohne Eitelkeit gefallen ließ. Man erzählte manche komische Geschichte von ihm, und konnte deren alle Tage erleben.
Auch die Verbindung mit diesem Manne verdankte Ludwig Reichardt, welcher mit ihm in freundschaftlichem und literarischem Verkehr stand. In Reichardt's Auftrage hatte er Moritz besuchen müssen. Er traf den kränklichen Mann, der stets fröstelte und sich nach dem Sonnenhimmel Italiens sehnte, an einem warmen Tage im geheizten Zimmer. Im dicken Pelze saß er unmittelbar am glühenden Ofen. Auch auf der Straße war er eine sonderbare Erscheinung. Er behauptete, nicht mehr zu Fuß gehen zu können, und hatte sich, obgleich seine äußere Lage nicht glänzend war, einen Wagen und mindestens ein Pferd angeschafft. Einst sah Ludwig diesen Einspänner mitten auf dem Straßendamme halten; der Kutscher war abgestiegen und saß auf einer steinernen Bank vor einem nahegelegenen Hause. Auf die Frage, was vorgefallen sei, antwortete der Kutscher, der Herr Hofrath habe ihm befohlen, hier anzuhalten, weil er im Wagen etwas schlafen wolle.
Ein anderes Mal hörte Ludwig ihn predigen. Denn bisweilen ließ sich Moritz beikommen, die Kanzel zu besteigen. Angstvoll hatte er in seiner Jugend zwischen Theater und Kanzel geschwankt. Jetzt schmeichelte es ihm, sich auch auf dieser Stelle zu zeigen. Die Predigt war ihm eine Gelegenheit, seine Rednergabe und Herrschaft über die Sprache wirken zu lassen. In diesem Sinne behandelte er sie mit dramatischem Ausdruck, er begleitete sie mit lebhaften, absichtlichen Bewegungen. Er sprach mit untergeschlagenen Armen, trat einen Schritt zurück, dann wiederum vor, dann plötzlich wie hingerissen vom Feuer der Rede, streckte er die Arme heftig nach vorn aus, und traf die vor ihm liegende 90 Bibel, daß sie über den Rand der Kanzel in das Schiff der Kirche hinabfiel. Auch sagte man ihm nach, daß er in der Regel eine oder die andere Bitte des »Vaterunser« auslasse.
Trotz aller Sonderbarkeiten war Moritz eine sehr anregende Persönlichkeit. Seine Vorlesungen, welche er als Professor an der Akademie der Künste über Alterthümer und Kunstgeschichte hielt, wurden von Liebhabern viel besucht und waren nicht ohne Einfluß und Bedeutung. Auch Ludwig und Wackenroder hatten sich Zutritt verschafft, und wenn sie auch nicht überall fanden. was sie suchten, so wurde doch Manches in ihnen erweckt, was in späterer Zeit zur Klarheit kommen sollte.