Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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4. Der Genius.

Gewann schon Ludwig's Freude am Theater durch das Geheimniß, welches er darüber auszubreiten suchte, einen ganz besondern Reiz, so gab es eine andere Saite, deren innerste Bewegung sich den Augen noch viel mehr entzog. Wenn er als Schauspieler aufzutreten suchte, so war dies keineswegs allein gewöhnliche Kinderlust an possenhafter Mummerei, der Dichter war es, der sich in ihm regte, und zu diesem ersten, unmittelbarsten Werkzeuge griff Doch wie ungefügig und schwerfällig waren diese Mittel, wie bleich diese Farben im Vergleich mit den glänzenden Bildern, welche die kindisch spielende, doch rastlos arbeitende Phantasie heraufführte! Wie sank hier jede Schwere des Stoffes zu Boden, wie wichen Zeit und Raum zurück, wie frei schaltete der Knabe in dieser Bilderwelt, die ihn umgab, wo er ging und stand, in der das Gewöhnliche im Glanze des Wunderbaren und Außerordentlichen erschien. Hier schwieg jeder Schul- und Lehrzwang, hier war er sein eigener Herr. Die ersten Schauer jener Verzückungen, in denen sich schöpferische Kraft und Genuß verbanden, durchbebten seine Seele. Stärker und stärker begann der Genius anzuklopfen.

Fürs erste sprach er sich in kindischer Weise aus. Früh hatte Ludwig angefangen, nach Reim und Tonfall spielend Verse zu machen. Natürlich entging das dem Auge des Vaters nicht. Stillschweigend ließ er ihn gewähren, und schien es als etwas Gewöhnliches zu nehmen. Doch trat Ludwig früh genug öffentlich als Dichter auf. Als sein gefürchteter Schuldirector sich im Jahre 1784 verheirathete, drückten die Schüler in glückwünschenden Reden ihre Theilnahme aus. 38 Auch Ludwig mußte zur Feier einige Verse machen. Ein junger Mensch, der in des Vaters Hause verkehrte, hatte sie regelrecht zugestutzt, er selbst sprach sie vor dem Director und seiner jungen Frau. Einige Küsse und ein Stück Hochzeitskuchen waren der erste Dichtersold, den er gewann; und die Schulkameraden staunten ihn wegen solcher Künste und Erfolge nur umsomehr an.

Kühner traten diese Versuche in Verbindung mit dem dramatischen Spiele hervor, das unaufhörlich zu Planen und Ausführungen Veranlassung gab. Auch an andern Uebungen in verschiedenen Versmaßen fehlte es nicht, namentlich seit die zunehmende Bekanntschaft mit alten und neuern Dichtern selbst in der Schule dazu führte. Den tiefsten Eindruck hatte die »Odyssee« auf ihn gemacht. In den klarsten dichterischen Formen fühlte er den Zauber der Mythenwelt auf sich wirken. Dieser Wechsel der anschaulichsten Gestalten, die bunten Abenteuer in einer fabelhaften und wunderbaren Natur, die siegreiche Kraft menschlichen Witzes im Kampfe mit allen Schrecken der Elemente und des Zaubers, diese Fülle der Phantasie, alles Das übte einen unendlichen Reiz aus. Er konnte diese tönenden Verse nicht oft genug lesen. Auf seine Weise suchte er dem Stoffe näherzukommen. Zwei mal übersetzte er die »Odyssee« schriftlich, einmal in Prosa, dann in Hexametern.

Glaubte Ludwig in solchen Uebungen etwas Besonderes geleistet zu haben, so übergab er es dem Vater, der diese überraschenden Zeugnisse der Frühreife in der Regel mit gleichgültiger Miene hinnahm. Sein Lob beschränkte sich meistens auf die trockene Bemerkung: »Nun, es geht an.« Dagegen faßte er die kindischen Blößen mit scharfem Tadel auf und benutzte sie, um die junge Zuversicht zu demüthigen und vor sich selbst lächerlich zu machen.

39 Einst war Ludwig Huber's französische Uebersetzung von Kleist's »Frühling« in die Hände gefallen. Die Naturschilderungen in dem Gedichte gefielen ihm. Spielend fing er an, es zurückzuübersetzen, und zwar in gereimten Versen. Einzelnes davon überreichte er dem Vater, der es ihm mit einem lakonischen, aber vieldeutigen »Hm! So!« zurückgab. Ohne sich irre machen zu lassen, hatte er seine Rückübersetzung fast vollendet, als er nicht minder zufällig das Gedicht selbst kennen lernte. Er zweifelte keinen Augenblick, dies sei eine deutsche Uebersetzung, und Huber's Uebersetzung, die er ja früher hatte kennen lernen, das Original. Er konnte seine Verwunderung über die sonderbaren Verse nicht unterdrücken, und eilte mit seinem Funde zum Vater. »Sehen Sie, lieber Vater«, rief er ihm zu, »den dummen Mann hier, der das französische Gedicht in solchen Versen übersetzt hat!« Mit ironischer Trockenheit erwiderte der Vater: »Du bist und bleibst ein dummer Junge! Ich habe dich in deinem Thorenwerke nicht stören wollen; nicht einmal den Titel deines Buchs hast du angesehen, sonst hättest du es sogleich bemerken müssen. Dieses hier, Kleist's ›Frühling‹, ist das ursprüngliche Gedicht, und jenes eine französische Uebersetzung. Du bist einfältig genug gewesen, ein deutsches Buch ins Deutsche zu übersetzen.« Beschämt stand der jugendliche Schriftsteller vor dem strengen Kritiker. Gegen einen so bündigen Beweis ließ sich nichts vorbringen. Schweigend zog er sich mit seinen Versen, auf die er keinen geringen Werth gelegt hatte, zurück.

Keine geringere Beschämung erfuhr er bei einer andern Gelegenheit. Unfern der Petrikirche war er einst einem schlanken jungen Manne von stattlicher Haltung begegnet. Ernst, wie es schien, tief in Gedanken versunken, schritt dieser würdevoll einher; unbewußt ließ er dabei sein zierliches spanisches Rohr taktmäßig auf das Pflaster der Straße niederfallen. 40 Wo hatte Ludwig dieses blasse Gesicht, diese gewölbte Stirn, diese Nase gesehen? Diese edeln Züge, in denen soviel Kraft und Anmuth, aber auch soviel schmerzliche Erfahrung zu liegen schien? Wie ein Blitz durchzuckte es seine Seele: »Es ist Goethe!« Wie oft hatte er nicht in Lavater's »Physiognomik« Goethe's Schattenriß mit Bewunderung betrachtet und dieses edle, hohe Antlitz seinem Gedächtnisse eingeprägt! Es waren dieselben Züge. Ja, das konnte nur Goethe sein! Trunken von seinem Glücke, den größten Dichter gesehen zu haben, eilte er nach Hause.

Doch wie steigerte sich seine Wonne, als er demselben jungen Manne bald darauf wieder begegnete, als er gar entdeckte, daß er in der Nähe der Petrikirche wohne. Jetzt legte er sich vollkommen in den Hinterhalt, um Goethe vorübergehen zu sehen. Bald ging er in einiger Entfernung neben ihm, oder er suchte ihm entgegenzukommen. Er vertiefte sich in seinen Zügen, den Götz, den Werther entdeckte er darin. »Ach, wie muß doch einem so großen Dichter zu Muthe sein!« seufzte er sehnsüchtig für sich. Endlich konnte er die Freude seines Herzens nicht mehr allein tragen. Er theilte das große Geheimniß seinem Vater, seinen Freunden mit. Man lächelte ungläubig; man sah den Goethe, der in der Nähe der Petrikirche wohnen sollte, man stellte Nachforschungen an. Aber welche Enttäuschung erfolgte auch hier! Nicht Goethe war der blasse Räthselhafte, sondern der Kammergerichtsassessor Kircheisen, der Sohn des berlinischen Stadtpräsidenten. Die spöttische Zurechtweisung des Vaters blieb nicht aus, und lange noch hatte Ludwig wegen seines Goethe-Traums die Neckereien der Geschwister und Gefährten zu erdulden.

Wenn sich die Gegenbemerkungen des Vaters auf so schlagende Thatsachen gründeten, so ließ sich dagegen nichts sagen; 41 desto weniger überzeugend waren für Ludwig seine dichterischen Urtheile. Nicht nur sein eigener Dichtergenius regte sich, er fing auch an das Verständniß Anderer zu ahnen, deren Anerkennung ihm allmälig zum Lebensbedürfniß wurde. Aber der Vater schien viele gar nicht so anzuerkennen, wie sie es verdienten. Oft war er hart in seinen Urtheilen, und in seinem rücksichtlosen Spotte verletzend. Aus einem tiefen, unabweisbaren Gefühle erwuchsen Ludwig's Ueberzeugungen. So klar wie der Tag, so sicher wie sein eigenes Dasein stand Manches vor ihm, und dennoch sollte er im Unrechte sein? Nicht ohne Selbstgefühl vertheidigte er daher seine Ansichten gegen den Vater. Er wagte es sogar, diesen bisweilen in Dem zu durchkreuzen, was er sich als Ergebniß seiner Lebenserfahrung ausgebildet hatte. Bei solchen Widersprüchen pflegte der ganze Zorn des Vaters plötzlich aufzulodern.

Bald zeigte sich hier ein Gegensatz der Geister, der schwer auszugleichen schien. Der Sohn war voll Phantasie und neigte zum Gemüths- und Gefühlsleben; der Vater war seiner poetischen Liebhaberei ungeachtet nüchtern und verständig. Immer häufiger trat diese Verschiedenheit hervor. So hatte Ludwig das alte Gesangbuch der Mutter mit seinen Liedern in hohem Grade liebgewonnen, und nahm sie lebhaft in Schutz, wenn der Vater darauf schalt. Diese einfachen und tiefen Klänge ergriffen ihn gewaltig. Ebenso malerisch als rührend schien ihm in jenem Abendliede Paul Gerhard's die tiefe, schweigende Ruhe der Wälder, die heilige Stille, welche die ganze Welt mit ihrem Schleier bedeckt. Er bot seine ganze Beredtsamkeit auf, um den Vater von der Schönheit dieser alten Lieder zu überzeugen. Warum nicht auch solche Gefühle sich aussprechen dürften, woher man das Recht nehme, sie zu verurtheilen? Solche Versuche hatten in der Regel keine andere Folge, als daß der Vater sie 42 mit steigendem Unwillen abwies. »Du machst dir eine Menge einfältiger Faxen zurecht«, sagte er, »und siehst darüber die Dinge nicht, wie sie sind.«

Indessen ging Ludwig, ohne sich irre machen zu lassen, seines Weges weiter, und nur um so sicherer, als er um diese Zeit einen dichterischen Führer und Freund fand, der ihn durch das Leben begleiten sollte. Dies war Shakspeare.

Seine Theaterlust wurde vielleicht nur noch durch seine Leselust übertroffen. Längst war des Vaters kleine Büchersammlung erschöpft. Kein Buch, das in das Haus kam, war vor ihm sicher. Auch die Leihbibliothek, aus der Manches für die Abendvorlesungen entliehen wurde, genügte kaum mehr. Dann kamen die mehr oder minder ergiebigen Büchervorräthe der Schulgefährten an die Reihe. Mit der Unersättlichkeit des Heißhungers verfolgte er Alles, was in dramatischer oder dialogischer Form geschrieben war. Wo er irgendein unbekanntes Buch witterte, ruhte er nicht eher, als bis er sich seiner bemächtigt und es verschlungen hatte.

Da fiel ihm eines Tages bei einem sonst ziemlich gleichgültigen Schulkameraden ein Theil des Eschenburg'schen »Shakspeare« in die Hand. Es war »Hamlet«. Sogleich eilte er mit seiner Beute nach Hause. Voll Ahnung und gespannter Erwartung konnte er die Ungeduld nicht länger zügeln. Sein Weg führte ihn über den Lustgarten durch eine der Pappelreihen, die denselben damals umschlossen. Es war ein nebeliger Abend im Spätherbste; ein feiner, durchdringender Schlagregen begann soeben zu fallen. Unter den Bäumen glommen einige kümmerliche Oellaternen. Ludwig trat hinzu. In dem matten, unsichern Schimmer wollte er wenigstens das Personenverzeichniß ansehen. Kaum hatte er einen Blick in das Buch geworfen, als er sich auch schon gefesselt fühlte. Die nächtliche Scene, die ersten Reden der Wachen, das 43 Erscheinen des Geistes, Alles erfüllte ihn mit zauberischem Grausen und doch mit unendlichem Entzücken. Er fühlte nichts von dem Herbstwinde, der ihm den Regen entgegentrieb, nicht daß er Schirm und Buch unbewußt im Gleichgewicht erhalten mußte, nicht daß er auf feuchtem Laube stand. Er sah und hörte nur Hamlet. Er las und las; erst mit dem Todtenmarsche hörte er auf. Durchnäßt, an Händen und Füßen erstarrt, fand er sich wieder. Er war nicht zu Helsingör; aber aus der Tiefe der Vergangenheit war auch ihm ein Geist wiedergekommen, größer und gewaltiger als die Majestät des ermordeten Dänemark, der zu ihm gesprochen hatte; er hatte in nächtlicher Stunde den Ruf des Geistes vernommen. Jetzt endlich eilte er nach Hause, nicht ohne Ahnung einer irdischen väterlichen Zurechtweisung. Aber was waren ihm alle Befürchtungen im Vergleich mit der Erscheinung, die er heute gehabt hatte!

Nun wurde Shakspeare sein Losungswort. Von allen Seiten wurden einzelne Bände von Freunden zusammengeborgt, von Antiquaren aufgekauft. Unwillig folgte der Vater dieser neuen Wendung der jugendlichen Begeisterung. Er war ein Bewunderer Goethe's, aber gegen Shakspeare war er sehr mistrauisch. Wie fast das ganze ältere Geschlecht sah er in ihm ein wildes, halbbarbarisches Genie, fand seine Trauerspiele roh und blutig, seine Späße abgeschmackt, das Ganze unverständlich und verworren. Eines Tages traf er den Sohn wiederum in ein Buch vertieft. Er beugte sich über seine Schulter nieder. Es war Shakspeare's »Maß für Maß«. Aergerlich brach er in die Worte aus: »Nun ja, das hat noch gerade gefehlt, um dich vollends verrückt zu machen!« Ludwig sprang von seinem Sitze auf und erwiderte schnell gefaßt: »Erlauben Sie, lieber Vater. gerade so, wie es hier ist, habe ich mir immer gedacht, 44 müsse ein Gedicht geschrieben werden. Das ist es, was ich lange gesucht habe.« Barsch erwiderte der Vater: »Ach, du bist und bleibst ein dummer Junge!«

Zu Shakspeare gesellten sich ungefähr um dieselbe Zeit zwei andere Geister, die kaum eine geringere Bedeutung für ihn gewinnen sollten, Cervantes und Holberg, die Gefährten seiner heitersten Stunden. Jener trat Shakspeare unmittelbar an die Seite. Eines Mittags aus der Schule heimkehrend, fand Ludwig die Bertuch'sche Uebersetzung des »Don Quixote« in der Wohnstube auf dem Fensterbret liegen. Mehr zufällig als absichtlich war sie aus der Leihbibliothek entliehen. Er griff nach dem Buche, ohne von dem Titel und dem Namen des Verfassers je gehört zu haben. Auch hier entschied der erste Blick. Stehenden Fußes begann er zu blättern, zu lesen. Die Lustigkeit dieser sonderbaren Gestalten, ihre Abenteuer, die Schlagwörter Sancho's ergötzten ihn unendlich. Auch Dergleichen hatte er noch nicht gehört. Er konnte das Buch nicht wieder aus der Hand legen. Um seine Lesegier sogleich zu stillen, nahm er seine Zuflucht zu einer beliebten Schullist. Unter dem Vorgeben einer starken Migräne, von welcher er ab und zu befallen wurde, erklärte er es für unmöglich, Nachmittags die Lehrstunden zu besuchen, und warf sich auf sein Bett, um ungestört den Ritterzügen des sinnreichen Junkers von La Mancha zu folgen. Da trat unerwartet der Vater ein. »Mein Sohn«, sagte er, das hast du nicht gut gemacht. Solche Kopfschmerzen werden durch Lesen nur schlimmer. Gib das Buch her, und bleib ruhig in deinem Bette liegen.« Mit betrübter Miene sah er den Schatz seinen Händen entrissen, und sich selbst zum Bette verurtheilt. Doch die Freundschaft mit Cervantes war fürs Leben geschlossen, und wirkungslos gingen die spöttischen Bemerkungen des Vaters vorüber, der auch hier nicht begreifen konnte, wie 45 es möglich sei, an diesen Thorheiten Gefallen zu finden, und kopfschüttelnd sagte: »Wenn du so fortfährst, wirst du als ein Narr und verdrehter Mensch durchs Leben laufen.«

Holberg verdankte Ludwig abermals einem Schulgefährten, in dessen Familie er viele ausgesuchte und schön eingebundene Bücher gefunden hatte. Von diesen Kostbarkeiten durfte er Manches entleihen, ja man verstattete ihm sogar, die Schränke selbst zu durchstöbern. Mitten unter den zierlichen Bänden fand er einige sehr übel aussehende. Es war die alte Uebersetzung von Holberg's Lustspielen. Auch hier fühlte er sogleich dem gleichartigen Geiste begegnet zu sein, und auch diesen Freund hielt er fest. Auf seine Frage, was das für ein herrliches Buch sei, antwortete der Schulgenosse: »Es ist eine nichtswürdige Scharteke, die zufällig hier hineingerathen ist. Macht Ihnen das Ding Spaß, so wird es Ihnen mein Schwager nicht nur leihen, sondern auch gern schenken.« Welche Fundgrube von guten Späßen hatte Ludwig hier nicht entdeckt! Es war nicht die kindische Freude an diesen, jener sonderbare und launige Geist des Humors, der oft die muthwilligsten Sprünge machte, war längst in ihm erwacht, und schaute oft schelmisch aus seinen Reden und Handlungen hervor.

Der Genius hatte ihn zu den größten verwandten Geistern der Vergangenheit und Gegenwart hingeleitet. Der Bund mit Goethe, Shakspeare und Cervantes war für das Leben geschlossen. Und war es nicht eine verheißungsvolle Weihe des Jüngers, wenn sie seine Führer zum Garten der Poesie wurden? 46



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