Jean Paul
Der Komet
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel
In einem Gange

Nebel – Zwillingfest – wunderbare Gestalt – und Einzug

Einziger Gang

Nebelleiden und -freuden – Sternenkonjunktion neuer Prinzen – reisemarschallische Freuden – wunderbare Gestalt – und Einzug

Der Morgen erschien in Blau und Rot gekleidet – der Zug fing sich an – und der Reisemarschall war längst voraus – man hörte ein schönes Waldhorn von weitem, nämlich den Schlotfeger in der Nähe – der zarte Raphael (Renovanzens Bruder) sang in seinem Himmel oben ein dünnes, weiches Grasmückenliedchen herab – und der Graf von Hacencoppen war besonders gut gelaunt und gekleidet: als plötzlich ein entsetzlicher Nebel einfiel.

Es war ohne Frage der dickste im ganzen vorigen Jahrhundert; denn der beträchtliche am 17ten November 1797 zu Paris, wo die Leute mit den spanischen Röhren als Sprachröhren auf das Pflaster aufschlugen, um in dem Nebelmeere nicht gegeneinander mit der Stirne zu segeln, und wo die Wagen nahe, aber unsichtbar vorüberrollten und kein Mensch den Weg mehr finden konnte als etwa Blinde von Geburt, dieser Nebel, so wie auch mancher andere in Amsterdam, wo die Holländer wie Zugheuschrecken oder wie die ungetauften Sachsen unter Karl dem Großen in die Flüsse fielen, diese waren gleichwohl gegen den Nebel, der auf Lukas-Stadt und auf die Kunststraße dahin sich niederlegte, weiter nichts als durchsichtig und bloß latente Nacht. Der Lukas-Städter aber war eine entbundene; nicht einmal die Finsternis selber war, wie etwa in Milton, sichtbar, oder sonst Schwarzes, vor lauter Grau. Hacencoppen und sein ganzes Gefolge stiegen deshalb aus, da in jeder Minute Wagen und Pferde ihre Chaussee-Gräber finden konnten. Jean und Richter drängten sich um Hacencoppen, als Beiständer in Notfällen – denn von den verschiedenen in die Hauptstraße einschlagenden Seitenstraßen her hörte man das unsichtbare Rollen von Wagen und Donnerwagen. Da man unmöglich Arm in Arm ziehen und sich lebengefährlich ausbreiten konnte: so reiheten sich mehre Hofherren, Renovanz und Süptitz und Hoseas, hintereinander, Hand in Hand – und geringere Leute verknüpften sich durch Rockschöße. Auf allen Seiten schrie es. »Ausgewichen!«; aber niemand sah, wem zum Henker oder wohin. – –

Die Gräflich-Hasenkopfischen kamen endlich – bloß von der vorauslaufenden Kunststraße geführt – unter das Stadttor; aber hier war wieder frisches Verwirren. Sie passierten zwar ungehindert und unbefragt – im Nebel ist man noch winziger, ja unsichtbarer als ein Kleisteraal oder ein Minierräupchen –; aber alle unsichtbaren Trommeln wurden plötzlich gerührt, unsichtbare Gewehre wurden hörbar präsentiert und »'raus!« wurde gerufen (wie hätten sonst die Gräflichen nur wissen können, durch was sie passierten?), und zu gleicher Zeit fingen auf den Türmen die Stadtpfeifer hinter ihren Nebelschleiern zu trompeten an und Glocken zu läuten und Kanonen zu donnern. –

»Ein Prinz ist gekommen!« rief es aus dem Nebel. – »Alle Wetter, der neue Prinz ist da, ich will aber heute saufen!« rief es dort. – »Er soll wohlgebildet sein und langgestreckt, hager aber.« – »Nur verflucht lang hat er auf sich passen lassen« – hörte man wechselseitig. Der Fürstapotheker konnte bei solchen Ehrenbezeugungen und in seinen Umständen natürlicherweise auf nichts in der Welt weniger verfallen als auf die Geburt eines lang erwarteten Erbprinzen, der zu gleicher Stunde in die Welt wie er in die Stadt getreten war; er konnte mithin, wenn er richtig genug mutmaßte, in den Wagen mit dem Fürsten-Wappen nicht, statt einiger wahrscheinlicher Prinzessinnen, die abends vorher zufällig oder gar seinetwegen vorausgefahren, etwa die Amme und Hebamme einsetzen, welche der fürstlichen Niederkunft wegen eiligst aus der Nachbarschaft herbeigeholt wurden: sondern er mußte als vernünftiger, besonnener Mann alle Wahrscheinlichkeiten zusammenstellen – seine Einmiete in den römischen Hof – und sein in die Stadt vorausgeschicktes Fürsten-Inkognito – und sein Gefolge – und seine Residenz- und Niklasstadt – und konnte folglich keinen andern Schluß aus allem ziehen, als daß man Wind von ihm habe und ihn als Fürsten in die Stadt hinein trommeln, pfeifen, läuten, schießen und schreien wolle; – was alles nebenher sich dadurch bestätigte, daß der vorausgerittene Worble im ganzen Nebel nirgend zu ersehen war, damit er, wie es schien, desto versteckter das ganze klingende Spiel des Einzugs leiten könnte, wenn nicht wirklich leitete.

»Herr Kandidat, der Nebel!« – brach jetzo der Graf aus – »hätten Sie doch etwas vom Nebel vorausgesagt, ich hätt' ihn zu Hause in Nikolopolis abgewartet; nun aber kann ich in ihm gar nicht erscheinen und die Ehrenbezeigungen ablehnen. – Ich sehe keine Leute, unter die ich Geld auswerfen könnte, und höre doch überall das Vivat zuschreien. – Gerade heute ist der Nebel eine sehr böse Sache.« – Er unterdrückte so zart seinen Mißmut, mit welchem der Kammerhusar Stoß so stark herausplatzte.- »Diable! blauer Dunst! Alle Peste! das soll ein Wetter sein, ein gescheites?« –

– »Um des Himmels willen, es wird der himmlischste Tag, denn es steigt ja nichts!« – beteuerte Richter, den Nebel meinend – »Zwar kann man nur aus dem Äquinoktium weissagen, nicht aber in ihm; allein heute trifft es doch.«

Drinnen in der Stadt selber ging das Babel vollends an. Entfernung, point-de-vue, Hintergründe und dergleichen gab es in der ganzen Dampfstadt nicht mehr – Sänftenträger, wütig schreiend: »Vorgesehen!«, trabten alte Weiber nieder. – Auf einem nahen Töpfermarkt war Krieg und Krieggeschrei, denn die Fußgänger wanderten über die Schüsseln als über glatte Pflastersteine weg und machten sie als Chausseesteine möglichst klein. – Der Zuchthausprediger hörte einen galoppierenden Gaul und bat Gott um nichts als um einen Reiter, damit das Vieh nicht allein wäre, sondern beritten. – Einem Wagnergesellen war sein mit bloßen Händen gerolltes Kutschenrad entlaufen, und er schrie: »Wer hat mein Rad gesehen?«, und eine Ganshirtin stand einsam unter fünf treuen Gänsen im Gewölke, die Hände über den Kopf zusammenschlagend über ihr bei Nacht und Nebel abgefallenes und entflohenes Federheer. – Gescheiter verfuhr ein Kerl mit einem Brett voll Gipsköpfe auf dem Kopf, der sich quer in die Gasse hinein an einen Laternenpfahl festpflöckte und unter unaufhörlichem Zionwächterrufen: »Nicht 'runtergestoßen !« mit einem langen Stabe die Gasse hinauf- und hinunterschlug, um jeden Ankömmling durch zufälliges Treffen von sich abzuwehren. – Ein rotwangiger Frühprediger lief ängstlich mit nachfliegendem Priestermantel hin und her und rief aus dem weißen Meere: »O Gott, ihr Christen, wo steht meine Kirche? Es hat dreimal geläutet, und ich muß schon längst auf der Kanzel stehen.«

– Ein zappelnder Hoflakai in seidnen Strümpfen schwang einen Kanapee-Polster vor sich her, und unter dem Rufen: »Ich muß ins Palais; wo ist das Palais? Vivat der kleine Prinz!« stieß er mit dem Polster den Kammerhusaren Stoß auf den Bauch; und Jean, aufgebracht über den Stoß und das Klein im Prinzen, streckte in der Eile seinen Arm als ein festes Polster aus und legte dessen Ende oder Knauf absichtlich stark an des Lakaien Stirn und sagte: »Ihr Filou, mein Prinz ist nicht klein« und sprang seitwärts ins Nebelmeer.

Unermüdet fuhr der Kandidat in seinen Tröstungen fort: »Er fällt ja gleich auf der Stelle« und meinte seinen Nebel. »Ihr Pack, das soll er nicht; probier's einer und stoße mich«, rief ein Kerl und meinte seinen Barometer, den er mit beiden Händen waagrecht wider das Anspringen des Quecksilbers fest gepackt hielt.

Öfter kamen kleine Wasserbogen, Prügel und Meteorsteine aus dem Nebelwolkenhimmel geflogen; wer aber diese wahrscheinlich von der Jugend aus den nächsten Häusern geleiteten Würfe für Siegbogen anstatt für bloße Steine dazu ansah, für geworfene Blumen anstatt bloßer Stengel dazu, und die Spritzbüchsen für Wasserwerke halten wollte, der müßte es mehr aus Spaß tun, und zwar gegen den einziehenden Grafen von Hacencoppen.

Der seligste im ganzen Nebel war wohl Worble, ein wahrer davon benebelter Himmelbürger. Ich führ' ihn absichtlich schon hier auf – noch eh' er sich wieder ans Gefolge kettet –, damit die Welt und ich doch etwas Frohes und Freies aus dem dicken Nebelweiher auffischen. Er solls aber selber erzählen, weil er wahrscheinlich die Wahrheit nicht ganz rein aussondert, sondern etwas lügenhaft versetzt, ich aber so etwas lieber andern überlasse als mir. Am weitläuftigsten erzählte er seine Nebelpartie dem Hofprediger Süptitz, weil er wußte, er nehme am meisten Ärgernis daran aus Weiberscheu. »Ich wollte,« fing er an, »Sie wären im Nebel an meiner Stelle gewesen und ebenso hin- und hergefahren. Ich meine nur, daß Sie so viele edle Weibergesichter umhalset hätten wie ich und dann eiligst hineingesprungen wären ins Nebel-Dickicht. Denn hierin unterscheidet sich Nebel vorteilhaft von Nacht, und der Kenner, so wie der Heilige, ja sogar der Scheinheilige, wird stets den Nebel vorziehen, weil man in ihm doch in der nächsten Nähe das Schöne sieht, aber in der Nacht nicht. Aber wahrhaftig, ich macht' auch wenig Umstände. Wo ich in dem kurzen Point-de-vue, das der Nebel zuließ (es betrug keinen Pariser Schuh), ein schönes Gesicht oder Herz überkam: auf der Stelle war ich an ihm; schrie das Gesicht oder Herz, war ich wieder fort und stand im Dickicht. Denn wie ein gehobener Geisterschatz verschwand ich augenblicklich bei einem Schrei. So fiel ich denn bald in jener, bald in dieser Gasse, bald jenem, bald diesem Herzen ans Herz, es mochte nun seinen Schaul überhaben oder bloß sein Halstüchelchen, sobald nur die Augen und Wangen und die Lippen himmlisch und herzig genug aussahen.

– Herr Hofprediger, ich lebte dabei fast in einer erlaubten Vielweiberei, der Markt war zwar kein Harem für mich, aber doch ein Nonnenkloster, ein Schwestern-Haus, eine Mädchenschule, und ich war der Mädchenschulmeister, mit dem Gygesring des Nebels um den Leib. Ich darf schwören, daß ich den innen mit Glückwünschen und außen mit falschen Blumen befrachteten Kopf einer nach Hof gehenden Hofdame deutlich an dem meinigen gehabt und festgehalten (sie war zu lieblich) fast fünfundzwanzig Sekunden lang, denn eher konnte der nachtrabende Bediente uns nicht anschreien, uns, die wir als zwei edle Homerische Gottheiten im Nebel allen Sterblichen verdeckt waren, und nur uns selber sichtbar. Nur eine machte ich etwas verdrießlich, welche ohne alle Vernunft schrie: ›Polizei zu Hülfe! Man tastet das Extraweib aus dem Palais an‹, weil darauf sogleich, als ich mich auf ihren Titel im Vorbeigehen näher einlassen wollte, ein Mensch, ein Bruder oder Liebhaber, einen Spazierstock als einen unnötigen Gesetzhammer über mich aufhob und mich damit zu einem gewaltigen Sprung ins Wasser bewog. So nenn' ich gern den Nebel, da er eigentlich doch nichts ist als ein verfeinertes, raffiniertes Wasser und eben dadurch naß macht. Deswegen ist alles, was darin einem Manne Weibliches von Badgästen begegnet, nichts als Meergöttin oder Venus, dann Meerfräulein oder Wassernixe, die ich zu mir herabziehe. – Sie merken aber doch, Herr Hofprediger, aus meinen eignen Geständnissen, daß Nebel für Jungfrauen viel gefährlicher ist als Nacht; diese ist nur schwarze, jener aber weiße Nacht. – O, jede laufe aus der weißen Nacht zuerst davon – und sogar vor einem zufälligen Mädchenschulmeister, wie ich war. Was sagen aber Sie dazu, würdiger Mann?« – »Ich muß froh sein, Herr Worble,« versetzte er, »wenn ich bei allen diesen Werken des Nebels nichts mehr weiter zu tadeln habe als das, was Sie haben berichten wollen.« – »Die Zeiten«, antwortete Worble, »litten nichts weiteres. Sonst freilich bei Einzügen anderer Fürsten, die nicht halb so freigebig waren als unser Marggraf und Graf, ging es weniger verschleiert her; es war vielmehr bei königlichen und kaiserlichen Einzügen sogar hergebracht, z. B. bei dem Einzuge Ludwigs XI. in Paris oder des Kaisers Karl in Antwerpen, daß Mädchen sie bewillkommnen mußten, die gar nichts anhatten, nicht einmal gewebte oder ungewebte Nebel.Flögels Geschichte der komischen Literatur. B. 1. Jetzige Fürsten müssen freilich mit dergleichen warten.« –

Wir ziehen nun wieder unserem ernsten Nikolaus nach durch den Nebel, der nach Richters so oft wiederholten Versicherungen jeden Augenblick sich senken muß, und dann endlich kommt man in Lukas-Stadt noch einmal an und sieht sie. Plötzlich ging durch das helle Stückchen der immer dickern Nebel-Milchstraße ein ganz in Leder gekleideter, fleischloser, farbloser, langgedehnter Mann, mit Kopfhaaren wie Hörner und mit langem schwarzem Bart, und tat weite Schritte rückwärts in den Nebel hinein und wieder heraus. Er verschwand und erschien mehrmals, bis er endlich mit flammenden Augen und todbleichem Angesicht ganz nahe vor Nikolaus stehen blieb, und als gerade ein vorüberschießender Lohnlakai ausrief: »Es lebe der Prinz!« – langsam sagte: »Es lebe kein Prinz – Menschen sollen nicht regieren, sondern der Fürst der Welt.« – »Bist du auch da, ewiger Jude?« antwortete der Lakai. – »Ich heiße Kain, siehst du die Schlange nicht?« versetzte die Gestalt, mit dem Finger auf der Stirn, die mit einer zum Sprunge aufgerichteten, roten Schlange gezeichnet war. »Der Teufel selber bist du; hast noch in deinem Leben keinen Bissen gegessen und getrunken!« rief der Lakai aus dem Weißdunkel nach.

Darauf entwickelte sich so stark das Grausen des Stößers, daß er, der vorher den Polsterträger wegen des Beiworts »kleiner Prinz« kühn vor den Kopf gestoßen, nicht imstande war, die Gestalt auszuprügeln, welche statt »Vivat!« sogar das »Stirb!« gerufen. Die Gestalt aber stellte sich gerade vor Nikolaus und antwortete mit schneller Rede dem unsichtbaren Lakaien:»Nichts von euch braucht der Fürst der Welt in euerer kalten Welt als eure dicke Haut; man hätte statt des Affenleders Menschenleder zu meinen Beinkleidern und Armkleidern gerben sollen; mich fröstelt auf der Erde.« – –

Hier durchfuhr den Grafen selber etwas von Schauder, der aber verflog, da ein Paar Mädchen Arm in Arm durch das Helle liefen und die Gestalt plötzlich die mildesten Blicke und einiges Wangenrot annahm und ihnen, als sie zueinander sagten. »Denkt, wie schön ist der neue Prinz!«, mit der liebreichsten Stimme nachrief: »Sprecht nicht so, nur ihr seid schön.«

Kaum hatten sie und die Gestalt sich in die Menge verloren, als der Himmel sich oben blau aufriß und der schwere Nebel auf allen Seiten niedersank – wie es der Kandidat pünktlich genug vorausgesagt –; das dunkelste Blau leuchtete vom ganzen Himmel herab; der römische Hof, nämlich der Gasthof, stand auf dem Marktplatz hellglänzend vor dem Grafen und seinem Gefolge, und gegenüber dem Hofe prangte der fürstliche Palast, in welchen diesen Morgen auch ein neuer Prinz eingezogen war, der aber freilich vor der Hand nichts weniger machte als Diamanten, oder sonst nur Figur von Bedeutung; man mußte nur Gott danken, daß der Erbprinz quäken konnte.


 << zurück weiter >>