Jean Paul
Der Komet
Jean Paul

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Erstes Vorkapitel,

wie der kleine Nikolaus die Menschen sehr zu lieben weiß

Leser und Leserinnen bekommen nun den Helden dieses Werks, den sie durch unzählige Bände hindurch mir nachziehend begleiten müssen, zum ersten Male in Handlung zu Gesicht, wie er noch seine Mutter hat und neben einem großen Pudel kniet, dem er die ungeheuern Ohren, solange solcher frißt, wie zwei Schleppen über der warmen Schwarz-Suppen-Schüssel in die Höhe hält, damit sie sich nicht eintauchen und beschmutzen oder verbrennen. Feurig und ernst sieht er mit seinen schwarzen Augen und mit der großen welschen Nase darein, und die langen blonden Haare fallen ihm über die Backen, und das sonst zartweiße Gesicht ist bis an die Schläfe rotangelaufen. Er war nämlich mit seiner Seele in den Pudel hineingefahren und stellte sich vor, wie es ihm selber täte, wenn seine Ohren in die Suppe hingen.

Mit dieser Seele nun fuhr er in alles hinein; doch aber in Puppen vorzüglich, und es konnte ihnen kein Glied abgerissen werden, wovon er nicht die Schmerzen am ersten verspürte. Dadurch wird Licht auf die Tatsache geworfen, daß er, ein Knabe, die weiblichen Puppen seiner Schwestern in ihren alten abgeschabten Tagen gewöhnlich an Kindes Statt annahm – nämlich nicht zum Spielen, sondern zum Leimen. Eine arme Schäferin mit ihren Schafen in Moos zu sehen, aber so, daß ihr abgedrehter Arm nur noch am Schäferstabe anpicht – vielleicht gar mit mehren Schäfchen, denen ihre Baumwolle nicht abgeschoren, sondern geradezu ausgerissen ist (man sieht die bloße Haut von Teig) – oder ein schön geputztes und angefärbtes Ehepaar von Stand in einer Kutsche mit abgebrochnen Beinen (man sieht an den vier Stümpfen das nackte Fleisch von Kleister) – solche schuldlose Wesen dieser Art zu sehen, welche nach der schönen Weihnachtfreudenzeit, vielleicht schon vor dem großen Neujahre, so weit heruntergebracht waren, dies stand er nicht aus, sondern er setzte sich an ihre Stelle und fühlte ihre Leiden und tat, was er konnte, um ihnen Beine, Arme oder Wolle wieder anzukleistern in seinem Lazarett; und mich dünkt, sein Puppenhospital kann wenigstens als Vorhof neben dem Tierhospital in Surate stehen, in welches die weichen Indier sogar Flöhe und Wanzen aufnehmen. Es ist in der Marggrafschen Apotheke eine bekannte Sache, daß er, als seine älteste Schwester, ihm zum Ärger, in das bildschöne Wachslärvchen ihrer schon abgetragnen Puppe mit der Schere einstach, er auch das schwesterliche Gesicht und Haare bedeutend handhabte. – Und warum sollte er sich nicht ärgern? Man kann Mörder werden eines Wachsbildes und Menschenfresser von einem Affen; die Menschengestalt sei uns bis in jeden fernsten Nachschatten heilig – wie dem Türken jedes Papier, auf das er, weil Gottes Name könne darauf geschrieben werden, so wenig tritt, als ein zartfühlender Mensch auf das steinerne verwitterte Gesicht eines liegenden Marmormenschen Stiefel und Ferse setzen wird. – Wenn die Familiennachricht noch dazusetzt, daß unser Nikolaus diese Puppe später, nachdem sie aus einer geputzten Theaterprinzessin und Palastdame allmählich durch den Verbrauch und das Spielen mit ihr zu einem Aschenbrödel geworden, bis sie endlich alles Wächserne, Gesicht, Brust und Hände, abgenützt und verloren, wenn die Familiennachricht berichtet, daß er die zu einem Maden-, nämlich Leinwandsäckchen eingewelkte Puppenmumie in großer Bewegung seines Herzchens ordentlich zu Grabe bestattet und – wie wir uns untereinander im Sarge auf Hobelspäne – sie unter die Sägespäne gelegt, die schon überall aus den Wunden der Leinwand herausrieselten: so glaub' ich nichts lieber und leichter; aber der Himmel (wünsch' ich) verschone künftig ein solches mitseufzendes Wesen mit dem Anblicke jener trüberen beseelten Spielpuppen der Männerfäuste in Lustseuchenhäusern, welche, als Karyatiden fremder und eigner Sündenlasten, auch wie Puppen Glieder und Gestalt hingeben, aber keine von Wachs, sondern vielmehr für solche von Wachs; – ach! er kann diese vergrößerten mit keinem Grabe bedecken, solange sie ihr eignes offnes bleiben ....... Himmel! laß uns schnell vom städtischen Schmerze wieder zur kindlichen Unschuld kommen!

Auf diese Weise ist es sehr erklärlich, wie der kleine Nikolaus Marggraf, obwohl von verschiedner Kirchenkonfession, doch immer mehr seine katholische Mutter an sich fesselte; welche als Armenfreundin freilich nichts lieber haben konnte als einen Armenfreund wie er. Wohl war er ein Narr aufs Geben. Nur daß er vom Vater nichts dazu bekam als sein bißchen Essen. Einigemal konnte ihm die Mutter nur mit zehn Lügen bei dem Apotheker durchhelfen, als er einer alten zahnlosen Frau, die in der Nacht auf der Gasse über das fürchterlichste Zahnweh in der Kälte geklagt, sein Schnupftuch um die Kinnbacken gebunden, und als darauf die Frau und das Weh und das Tuch auf immer wie weggeblasen waren. – Übrigens mögen die Tränen manches Armen, so viel mangelt und so wenig brauchen sie, mit einem Schnupftuch abzutrocknen sein, das von bloßer Hausleinwand ist und das man ihnen schenkt.

Ich muß mirs gefallen lassen, wenn Weltleute und Weltweise dieses Nachgefühl fremder Schmerzen durch eigne – so wie sein Mitjubeln über fremden Jubel – fast körperlich und ebensosehr aus mitzitternden Nervensaiten als aus seiner dem Herzen vorspielenden Phantasie erklären; ich treffe ja fast das Ähnliche bei dem lieben Montaigne an, welcher einem fremden Husten nachhusten mußte, so wie er sich vom Anblick gesunder Leute zu leben getraute.Dessen Essais L. I. ch. 20. Stand eine gelbe abgedorrte Bettlerin mit ihrem Gicht-Reißen in allen Gliedern vor Nikolaus: so steckte er der Hungrigen, um nur selber nicht länger zu siechen und zu hungern, heimlich etwa einen Wurmkuchen oder ein Brechmittel zu, oder einige Pillen, oder was er erwischen konnte; denn er glaubte, sein Vater teile auch alle Arznei gaben und Bissen (boli) als Geschenke und milde Gaben aus; aber möge nur der Himmel bei ihm besser als bei einem praktischen Arzte dafür gesorgt haben, daß er mit den Laxiertränkchen und Klistieren und Pflastern unter den kränklichen Bettelkindern, denen er die Mittel gereicht, kein bedeutendes Unheil angestiftet.

Wir sahen ihn im Urkapitel bei dem Leichenbette seiner Mutter stehen. Daß er bei solcher Rege der Phantasie nicht an ihrem Sterben mitgestorben, verdankt er eben dieser Phantasie.

Da nämlich die Weiber im Hause bei der tödlichen Niederkunft Margarethens ihre großen eleusinischen Mysterien feierten – die kleinen feiern sie gewöhnlich mehre Monate vorher –, so vernahm er geheimnisvolle Worte und die Rede, Maria (wie sie außer Margaretha noch hieß) sei in den Himmel gefahren. Dabei sprach der Apotheker seit der Entdeckung seines Beichtkindes mit mehr Verehrung von der Donna Sängerin. Da nun für das Beichtkind Nikolaus schlechterdings nichts so Unglaubliches und Tolles zu erfinden war, was er nicht in der Minute steif geglaubt hätte, so daß er den ganzen Legendenglauben seiner Mutter in seinen vier Gehirnkammern unterbrachte, und doch noch Erker und Eckstuben für alle nordische und indische Fetischerei übrig behielt –: so ward es ihm nicht schwer, den Tod seiner Mutter Maria für eine Himmelfahrt der Madonna anzusehen, und das dagebliebne Kind für ein Jesuskindlein, wie so viele fromme Nonnen nach den mütterlichen Erzählungen dergleichen kleine Jesuskindlein in ihren Zellen in der Wiege hatten und wiegten und anputzten. Das Ineinanderrühren mehrer Geschichten kann eine neue backen. So warf sich nun seine ganze Liebe auf das schöne Schwesterchen Libette; und er faltete die Hände vor ihm und sah ihm stundenlang ins schlafende Gesicht. Nach einigen Tagen war er von Maria Himmelfahrt so feurig überzeugt, daß er versicherte, er habe selber die Maria gen Himmel fahren sehen, und sie habe einen sehr goldnen Mantel angehabt. Sein kurzer Irrtum war ein Glück für sein Herz; wie hätte dieses sonst die teuere sinnverwandte Mutter nicht beweinen müssen und die schuldlos muttertötende Schwester anfeinden!

Als der Reiseapotheker seine Regierung über den kleinen Regenten antrat, um ihn zu einem erwachsenen zu erziehen, änderte er sein Moralsystem über die Mildtätigkeit und frischte unablässig den Kleinen zu den freigebigsten Gesinnungen an und stellte ihm vor, wie sehr sie den Menschen zieren; nur schoß er keinen Heller zu ihrer Ausübung her, sondern sagte, sobald er einmal sein eigner Herr werde – nämlich ein regierender, meinte er und hoffte für sich –, so könn' er verschenken, und zwar nicht genug. Bedeutende Eßwaren mußte Nikolaus als eine Pension im Lande selber, in der Apotheke, verzehren. Das Abschneiden der bisherigen mütterlichen Lieferungen an die Armut, dieser ihrer Karitativsubsidien, peinigte ihn oft an der Apothekertüre, wenn eine zaundürre grauhaarige gelbe Hand sich vor ihm aufsperrte und er nichts hineinzulegen hatte als seine ebenso leere. – Und doch warf er deshalb nicht den mindesten Groll auf den filzigen Vater; so warm ist die kindliche Liebe, oder vollends die seinige ......

– Mehre Leser und Feinde der sittlichen Hartleibigkeit Henochs haben gewiß auf den ersten Bogen dieses Werks bedauert, daß ein ihnen längst teuer gewordner Schriftsteller – meine unbedeutende Person meinen sie – jetzo auf so viele Bände und Jahre lang einen Helden anzuschauen und abzumalen bekomme, welcher nach allem, was man aus dem pflegväterlichen Vorbilde und Vorsatze schließen könne, zuletzt und mit den Jahren mit kalten dürren Augen, wie ein Stabs-Wundarzt, über das ganze Wundenfeld der Menschheit schreiten müsse und unter allen niemand verbinden werde als sich zuerst, falls er sich etwan an dem Knochensplitter eines Verwundeten gestoßen hätte ...... Himmel! so seht aber doch vor allen Dingen dem Helden selber ins Gesicht und blickt seine runden Vollippen und die sanfte Bogenstirn und die äußerst zarte lilienweiche und lilienweiße Gesichthaut an, deren Schnee bei der kleinsten Herzbewegung sich, wie ein Schneehügel vor der Abendsonne, mit dünnem Rot bis zu Stirn und Schläfen überdeckt! – Übrigens freilich ein seltsamer Ineinanderbau von welschem und deutschem Gesicht, von schwarzen Augen und lichten Haaren und mächtiger Nase mit weißzarter Haut!

Nur auf einen Menschen in ganz Rom war Nikolaus heftig ergrimmt, und dies war der Scharfrichter, der im Frühling vor der Stadt draußen (stark gefoltert hatt' er ohnehin schon viele Leute, wie der Kleine gehört) einem blutjungen Menschen Vatermords wegen den ganzen Kopf abgeschlagen. »O wenn ich nur könnte und der Kaiser wäre,« sagte der Knabe, »ich ließe dergleichen Scharfrichter – diese verfluchten Teufel – einsperren und abköpfen, damit sie auch spürten, wie es tut; denn sie fragen ja nach nichts und hauen hin, du lieber Heiland!« – Da er am Tage vor der Hinrichtung das aschenbleiche Kerker- und Richtplatz-Gesicht des Missetäters gesehen hatte: so hatt' er sich in der Nacht unaufhörlich selber auf das Armensünderstühlchen gesetzt und war der langen blanken Schwertschneide, wie einem Malerpinsel, zum Treffen gesessen, so daß er im Gewühle der einander nachziehenden Träume und schlaftrunkner Halbgedanken zuletzt zu glauben anfing, er selber sei auch ein hinlänglicher reifer Missetäter an seinem Vater, dem Apotheker, und zum Köpfen gezeitigt. Erst um elf Uhr morgens, als er die Zuschauer der Hinrichtung zurückkommen sah – er selber hätte um kein Geld zugesehen –, holte er wieder frischen Atem und fühlte sich, so wie den Geköpften, um vieles erleichtert und glücklicher.

Ernste Ausschweife für Leserinnen des ersten Vorkapitels sind: Die Erinnerung an Dahingegangne – Trost der Greise – Unverlierbarer Seelenadel – Sittliche Vollendung – Wärme- und Kälte-Entwicklung aus andern Menschen.


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