Jean Paul
Der Komet
Jean Paul

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Zweites Vorkapitel,

welches zeigt, wie unendlich viel der kleine Nikolaus war sowohl in der Wirklichkeit als in seiner Einbildung, und wie er sein eigner Papst ist und sich kanonisiert, nebst einer Schlägerei dabei

Nikolaus rückte nun in die Jahre, wo es sich von Seiten seiner Talente immer mehr entwickelte, welche seltene er hatte, indem er ein großer Seeheld, ein großer Gastprediger, ein großer Heiliger (der größte Apotheker ohnehin), kurz alles Große war, was ihm eben unter die Hände kam oder unter die Füße; denn seine köstliche Phantasiekraft setzte sich nicht, wie die des Dichters, an die Stelle der fremden Seele, sondern er setzte, wie ein Schauspieler, die fremde an die Stelle der seinigen und entsann sich dann von der eignen kein Wort mehr.

Als z. B. Lavater in Rom kurz nach der Mutter Tode gepredigt und gerührt hatte: so hielt sich Nikolaus zwei Sonntage hintereinander für Kaspar Lavater den zweiten – bis er am dritten darauf Iffland II. wurde, weil Iffland der erste durchgereiset und von dessen Spielen in der Hauptstadt viel Redens gewesen – und bei einer solchen eignen Metallveredlung unterstützte ihn nichts so sehr, als daß er sich allemal hinsetzte und sich es stundenlang ausmalte, wie alles erst wäre, wenn er den großen Mann tausendmal überflügelte und z. B. eine so kostbare himmlische göttliche Predigt Lavaters hielte, daß die Zuhörer vor Schluchzen und Bußfertigkeit ganz des Teufels würden und ordentlich heulten und stampften und die Kirchgänger sich vor dem Manne niederwürfen und ihn halb anbeteten, wenn er die Kanzeltreppe herabkäme voll seiner unbegreiflichen unendlichen Demut. Auf diese Weise strich nun selber der große Mann die Segel vor Nikolaus, und dieser fuhr lustig mit dem Winde dahin.

Man halte mich hier um des Himmels willen mit keinem Vorwurf auf, daß mein Held nach solchen Beweisen ein Narr sei – ich gedenke wohl noch stärkere zu liefern – und also ganz frisch aus Brands Narrenschiffe aussteige; denn dies ist ja eben bei einer so langen komischen Geschichte mein Gewinn, daß ich für ein Jahrzehend wie unseres, wo Überchristentum und Überpoesie statt der alten paar Monatrosen und Monatnarren des ersten Aprils und der Fastnacht dauerhaftere Jahrnarren liefern, weil beide ihr tollmachendes BilsenkrautBilsenkraut gibt, eingenommen, das Gefühl des Fliegens. Die Hexen haben es wahrscheinlich in ihre Einsalbungen gemischt. Eschenmaiers magnet. Archiv. B. 3. St. 1. zum Fliegen eingeben, mein Gewinn ists, sag' ich, daß ich einen Helden aufgetrieben, der den Flug mit ihnen aufnimmt und so toll ist wie nicht jeder. Narrheiten hat, so wie Eingeweidewürmer, jeder vernünftige Mensch, und niemand ist dadurch vom andern verschieden; nur ein langer unaufhörlicher Bandwurm des Kopfes, so wie einer des Unterleibs, unterscheidet die Personen. Insofern dürfte nun den mystischen Musensitzen, Kanzeln und Lehrstühlen wenigstens für dieses Jahrzehend das Privilegium gebühren, welches die Stadt Troyes besaß, für die französischen Könige die Narren zu liefern.Geschichte der Stadt Paris von Saint-Foix. B. 4. Flögels Geschichte der Hofnarren.

Ich fahre nun in Nikolausens Knabenzeit fort und stoße darin mit wahrem Vergnügen auf eine Begebenheit, die am schönsten beweisen wird, daß er die Gabe besaß, ohne welche kein Held, am wenigsten ein komischer, gedenklich ist, nämlich die mäßige Gabe zeitverwandter Tollheit samt großen Anlagen zur Wahrheit und zur Unwahrheit. Im Christmonate, dem eigentlichen Erzählmonate, pflegte Nikolaus gern seine Schulkameraden mit Erzählungen, und zwar am liebsten von Heiligengeschichten, zu beschenken, weil er in diesen die schönsten unglaublichsten Wunder – die mannigfältigsten Teufels-Charaktermasken – die gräßlichsten Martern – und die feinsten Erhaltungen, nur die der Köpfe nichtLeicht kommen nämlich Blutzeugen, aus heißen Ölkesseln, aus Wasserschlünden, aus brennenden Scheiterhaufen, aus Teufels- und Menschen-Klauen mit dem Leben davon, aber das Köpfen nachher halten sie nicht aus, sondern kommen daran um. – Das Köpfen hat überhaupt etwas so Vorzügliches, daß bloß durch dessen häufiges Wiederholen ein Scharfrichter die Doktorwürde gewinnt; hängen hingegen mag er noch so viele oder rädern und ersäufen: so wird ihm doch der Doktorhut nur für das Abnehmen der Köpfe auf seinen gesetzt., liefern konnte, da er sie aus der besten und nächsten historischen Quelle geschöpft, aus seiner Mutter. Dabei verstand er besser als die größten Bollandisten, Heiligengeschichten mit solchen neuen guten Zügen zu bereichern und das geschichtliche Kunstwerk oder Stückwerk eines Heiligen, wie römische Restauratoren ein marmornes, durch solche frische Glieder zu ergänzen, daß man geschworen hätte, man habe eine ganz neue frische Geschichte vor sich.

Nun gab er am sechsten Dezember, gerade am Festtage des heiligen Nikolaus, seines Taufpaten, den die katholische Mutter gern in seinen Schutzpatron verwandelt hätte, da gab er abends der Welt, nämlich einem gebildeten Knabenzirkel um den Ofen herum, nebst einigen Magenmorsellen die Heiligengeschichten seines heiligen Herrn Paten. Er trug aber in der Dämmerung das Leben und die Verdienste des Bischofs Nikolaus so feurig vor, daß die Zuhörer leicht einsahen, warum er der Schutzpatron nicht nur der Schiffer, sondern auch aller Russen geworden. Er berichtete, daß dessen Bild im russischen Riesenreiche an so viel tausend Wänden hange und noch mehre tausend Verbeugungen erhalte, weil zuerst ihm jeder eine mache, der eintrete. Aber wie warm floß erst seine Rede, als er den Schirmherrn des Weltwassers und des Foliokaisertums vor den Zuhörern – sämtlich Schüler der lateinischen oder deutschen Schule – gar als den Schutzheiligen ausstellen konnte, der sich niederbückte zu den Schulen als der Schutzpatron derselben, indem er der kleinern Schüler sich annehme, sie ansporne und fördere und ihnen am Niklastage die herrlichsten Eßwaren zu Tür und Fenster einwerfe. Und als er vollends in der Erzählung auf die Ölquelle aus dessen Grabe stieß, aus welcher so viele Kranke sich gesund geschöpft: da konnt' er es sich gar nicht anders vorstellen, als daß der Erzbischof, wie tausend schlechtere heilige Märterer, enthauptet worden – ob er gleich selber so wenig davon gehört als die allgemeine Weltgeschichte –, und er setzte also die Märtererkrone, die er erst auf dem Sessel fertig geschmiedet, unter lauter Tränen dem armen geköpften Bischof vor allen Hörern auf.

Seine Herz-Bewegung bei dem unerwarteten Schicksal eines solchen Menschenfreundes war unbeschreiblich. Jetzo sah er im Spiegel den bekannten elektrischen Heiligenschein, den sein eigner Kopf, wenn er sich sehr erhitzte, ausdampfte. Nun war kein Halten der Rührung mehr denklich. »Vielleicht« – fuhr er unter heißem Weinen fort – »hat mich der heilige Märterer zu seinem Nachfolger auf der Erde ausersehen und hat meinen Kopf von Kindes Beinen an mit einem Schein angetan, zum Zeichen, daß ich so gut geköpft werde wie er. Und in Rußland, wenn sie diesen Schein sehen und dabei hören, daß ich mich Nikolaus schreibe, werden sie mich für einen Betrüger und Nachmacher ihres Schutzpatrons halten und mir deshalb den Kopf wegputzen. Ach! mit Freuden werd' ich zu einem Märterer und einem Heiligen, wenns auch ein kleiner ist, und zu einem Schutzpatron der Schüler, um nur allen recht zu helfen. Ja ich will schon jetzo für euch fürbitten, und zwar immer länger, je länger ich werde. Ich vermahne euch alle aber insgesamt zum Fleiße, und lernt brav, vorzüglich das Schreiben und Lesen, und die Exzeptionen in der Langischen Grammatik, die merke jeder besonders. Jedoch euer Freund und Fürbitter werd' ich verbleiben auf der ganzen kurzen Laufbahn, die ich hienieden zu wallen habe bis zu meinem frühen Grabeshügel.«

Hier konnt' er vor Bewegung nichts mehr vorbringen als statt der Worte einige Gerstenzuckerstengel, welche dem bewegten Zuhörerzirkel ordentlich lieber und süßer vorkamen als die längsten Dornen seiner Märtererkrone und alle Strahlen seines Haarabglanzes.

Ich mache gar kein Geheimnis daraus, daß er in der einsamen Nacht nach diesem Erzählabende, die ihm erst den Kopf recht heiß anstatt kalt machte, ohne Bedenken sich an seine selige Mutter mit dem Gesuche wandte, den Herrn Bischof, da sie gewiß bei ihm sei, durch Fürbitten dahin zu vermögen, daß er als ein Wundertäter mit Heilöl und als ein Retter der Schiffbrüchigen für seinen Namenverwandten auch etwas tun und ihn schon bei Lebzeiten mit einigen Kräften zum Beglücken der romischen Schüler versehen möchte. Wie gesagt, ich mache kein Geheimnis aus der Sache. Wenn Zinzendorf als Kind Briefe an den Heiland schrieb und zum Fenster hinauswarf, weil er sie, bemerkte der Graf, finden würde; oder wenn er gar mehre Stühle um sich setzte und sie zu erbauen suchte durch eine kurze Predigt, als wären sie ordentlich besetzte KirchstühleSpangenbergs Leben I. 30. 32.; ja wenn sogar Lichtenberg Zettelchen mit Fragen an Gott unter den Dachstuhl legte und sagte: »Lieber Gott, etwas aufs Zettelchen!« – so wird mich niemand überreden, daß mein Held anders gehandelt als der Professor und der Graf.

Dies bewies er so schön am Tag darauf. Er schritt durch die romischen Gassen mit Würde, ohne einen einzigen Sprung, er hob den Kopf mehrmal gen Himmel, als woll' er etwas daran sehen, und senkte ihn schwer nieder, weil er darin viel hatte, und blickte einige Schuljugend, als sie aus der Schule mit Sprüngen rannte, in welche sie nur mit Schleichen wallfahrte, ganz bedeutend an, aber doch milde, weil ihm war, er habe als Schutzpatron sie mehr zu lieben und zu bedenken.

Einen wildesten Springinsfeld, namens Peter (sein Vater hieß Worble), der, die Bücher im Riemen über den Kopf schleudernd, ihm auf dem Schulheimwege entgegentanzte, hielt er an und sagte zu ihm mit ungewöhnlichem Ernste: da er gestern bei seiner Geschichte nicht gewesen, so mög' er heute kommen und die andern mitbringen, er wolle sie wieder geben und etwas Süßes zu essen dazu. Peter versetzte: »Wer wird nicht kommen? – Mache nur kein so hochtrabendes Leichenbitters-Gesicht dazu!«

– Jetzo aber wünschte ich, bevor ich die Sache hinauserzählt, wohl zu wissen, ob irgendein Mann, der eben gelesen, wie Nikolaus zugleich sich und andere in die Gaukeltasche steckte, noch den Mut behält, sein Scheidewasser aufzugießen und in den Reden eines Muhammeds, Rienzis, Thomas Münsters, Loyolas, Cromwells und Napoleons das, was solche zeittrunkne Männer andern vorspiegeln, rein von dem, was sie sich selber vorspiegeln, abzusondern und so durch eine Hahnemannsche Weinprobe ihren Schein niederzuschlagen aus ihrem Sein. Es wird aber schwerlich ein Leser diese Scheidung zwischen den Wassern versuchen, wenn er merket, daß er nicht einmal meinem noch unerwachsenen Nikolaus gewachsen ist, der noch viele Jahre hin hat zu dem seines erwachsenen Namenvetters auf HelenaNapoleon heißt bekanntlich Niccolo oder Nikolaus. –

Und herrlich bestätige ich meinen Satz, wenn ich fortfahre. Die gestrige Hörergesellschaft samt Peter Worble erschien, und Nikolaus teilte sein Süßes aus – dieses Mal aus Mangel an Geld süße Mannakörner, die bekannte biblische Speise in der Wüste, obwohl eine Kinderlaxanz in der Apotheke; – denn Geben war ihm so zur zweiten Natur geworden wie seinem großen Namenvetter auf Helena das Nehmen, welcher letzte dem heiligen Nikolaus, der nach der Legende sogar an der Amme bei heiligen Zeiten fastete und erst abends sogBreviar. roman. fest. Dec., nur so weit nachahmte, daß er statt seiner die Amme selber, die Jungfer Europa, fasten ließ, und für seine Person fortsog. – Nun wollte der Kleine die Erzählung noch tausendmal frischer und farbiger als tags vorher auftragen – obgleich ich meines Orts bedacht hätte, nur das Körperliche kann man wiederholen, selten das Geistige –, und er strengte sich tapfer an; ein paar Babeltürme höher suchte er heute seinen Bischof zu stellen, zumal da er selber ihm seit gestern um manches nachgewachsen war bis zu einem halben Weihbischof; wahrlich er wollte mit Gewalt sich und alle außer sich und in Schwung bringen.

– Es ist hier weder Zeit noch Ort, dem Keimen und Treiben der Mannakörner tiefer nachzugehen und daher zwischen Gehirn und Gedärm alles gehörig zu vermitteln: genug Nikolaus hätte ebensogut die Erfurter Glocke samt dem Turme in Schwung gebracht als sich oder sonst einen Jungen. Nun weiß ich nicht, war es unglücklicher oder gewählter Zufall, daß er seine Heiligengeschichte bei brennendem Lichte versteigerte, wie in manchen Städten mit Waren geschieht, die mit auslöschendem zugeschlagen werden; kurz die Zuhörer von gestern baueten darauf, er werde wieder mit dem Haarschein dasitzen, wenn das Licht weg sei. Als daher der kleine Peter dieses ausschneuzte, damit endlich die Haarglorie zu sehen wäre: so stand der Kopf ganz lichtkahl und ohne die geringste Fassung oder Einfassung im Finstern; an abbrennende Zündkraute oder Feuerwerke heiliger Triumphe war nicht zu denken. Da sang Peter die sehr einfältigen Kinderverse (sie stehen entweder im Wunderhorn oder in den grimmischen Wäldern) spottend ab: »Nikolaus, fang' die Maus, mach' mir ein Paar Handschuh draus.«

– – Ich glaube nicht, daß ich es schildern kann; aber so viel berichten will ich doch, daß auf der Stelle Nikolaus aufsprang und an sich und jeden andern Nikolaus oder an einen Verehrer desselben mit keiner Silbe mehr dachte, sondern den kurzen Peter Worble an den Haaren mit einer Geschwindigkeit an die Erde legte, die ich am besten Niederreißen nenne – und zwar alles dies bloß zu dem Endzweck, auf der Kehrseite Peters auf- und abzuspringen, gleichsam wie auf der Harzscheibe eine elektrische Korkspinne oder sonst eine elektrische Figur, welche tanzt.

Er trat ihn natürlich bloß darum mit seinen Füßen, um das geistige Unkraut, so weit es körperlich zu tun war, umzutreten. Schade wars, daß der Junge nicht zweimal so lang gewesen: das kleine Weihbischöfchen hätte nicht so oft dieselbe Stelle bei ihm zu treten gebraucht. Inzwischen mit jedem Eilschritte – Peters Glieder stellten die Springhölzer in einem Vogelbauer vor – prägte er ihn mit einem andern Namen aus: »Du Satanas! – du Höllenbesen! – du Höllenbrand!« –

In die Länge hielt Peter, wie jeder, eine solche Verknüpfung von Verbal- mit Realinjurien, von Wort- mit Tatbeleidigungen nicht aus, sondern drehte und schnalzte sich unverletzt empor und faßte den künftigen Schutzheiligen bei der besten oder heiligsten Seite, nämlich bei den Haaren der Heiligenphosphoreszenz und leitete sonach an diesen einen neuen, steilrechten Wettstreit ein ...... Rede oder schreibe nur aber niemand etwas wider die Wildheit, worein jetzo Nikolaus vollends verfiel, als einige riefen, da er unter dem Balgen zu phosphoreszieren anfing: »Niklas, du hast den Heiligenschein wieder auf!« – »Den lebendigen Höllenschein hab' ich« – rief er – »der Teufelsbraten hier hat mich um Himmel und Hölle und alles gebracht, und da steh' ich« – und sah in den Spiegel, als ihn Peter losließ.

»Ja« – fuhr er fort und fing an zu weinen – »ich seh' es, ich sitze schon leibhaftig in der Hölle und brenne voraus – kein Heiliger darf sich raufen und die Menschen mit Füßen treten.« – Je länger er sich im Spiegel besah, desto mehr rührte er sich selber: »Ich fahre nun zum Teufel und hätt' ein solcher Schutzheiliger werden können.«

Vergeblich wollten einige, aus Mitleid über das Abjammern, ihn trösten und sagten, Peter habe ja angefangen, und er werde das Treten schon vergessen; ja dieser selber versetzte weinerlich komisch: »Meinetwegen!« Jetzo wurd' er von andern so sehr gerührt wie vorher von sich: »Trete mich nur«, rief er, »jeder, wer will – Peter, du zuerst. – Hier lieg' ich« (er blieb sitzen) »Ich werde ohnehin kein Märterer mehr und bin nichts.«


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