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Dem Pflegevater – so nenn' ich mit Bedacht den Reiseapotheker, denn jeder rechte Vater ist ein Pfleger und Pflegevater seines Kindes – behagte am Kleinen noch außer dem Verschenken auch Statur und Nase sehr schlecht, weil er die Länge beider mit seiner eignen Doppelkürze und mit seinem kurznasigen und kurzstämmigen Tochterzwei zusammenhielt und dann seine Gedanken hatte. Er hätte sich, wär' er im päpstlichen Rom gewesen, in Margarethens katholischen Beichtvater eingekleidet, um vielleicht ihrer Beichte so viel Sünden abzugewinnen, daß er ihr die Aussetzung oder Alien-Bill eines ihm fremden Kebs- und Vexierkindes oder Volten- und Hokuspokussohnes als Pönitenz im Beichtstuhle hätte auferlegen können. Gelten ließ ers, daß sie den Kleinen aus Mutterliebe und Mutterkirchenliebe in die päpstliche Kirche hineinzulocken suchte – z. B. durch Vorhalten Augsburgischer Heiligenbilder und besonders des heiligen Nikolaus und der heiligen Maria, ihrer Schutzpatronin und Namenschwester. Weniger gab sie dafür sich mit seinen Töchtern ab, welche ohnehin nicht so leicht zur Hölle fahren konnten, da sie nach dem Ehevertrage der Mutter in die allein seligmachende Kirche folgen mußten, wie der Sohn dem Reiseapotheker in die protestantische. In einer solchen Ehe sehe ich den Vater ordentlich in einer Halblähmung (Hemiplexie) vor seinen Kindern stehen, mit der fühllosen starren Seite gegen die Töchter gerichtet und mit der andern voll Bewegungen und Zuckungen gegen die Söhne; – die Mutter ist ebenso gelähmt und geteilt, nur nach den umgekehrten Seiten hin – und die Kinder sind es auch wieder herwärts – – Himmel! wie viele menschliche Gefühle wurden von jeher den Altären geschlachtet!.........
Glücklicherweise trat jetzo der Alexander der dicksten Knoten auf, oder vielmehr der wahre Mattheis, der das stärkste Eis bricht, oder wo es nicht ist, macht – der Tod, oder die Leichenfrau, die viel stärker und schneller als die Hebamme auf Thronen und andern Höhen die Zeiger der Weltuhr rückt und vorwärts dreht.
Margaretha mußte ihre dritte und schönste und ihr ähnlichste Tochter mit dem Leben erkaufen. Zum Glücke für ihre letzten Stunden, die der alte Elias Marggraf mit keiner Versöhnung versüßte, ging ein Franziskaner-Mönch durch das Städtchen Rom, bei welchem sie die lang entbehrte Beichte ablegen konnte. – Hier fiel dem Reiseapotheker ein, ob er einen alten engen Wandschrank dicht mitten am Bette der Frau, mit einer Tapetentüre nach dem einen Zimmer und einer nach dem andern, nicht zum letzten Male – er stand oft halbe Nächte darin – mit einigem Gewinn benutzen und betreten könne während der Beichte.
– Und da hörte er so deutlich wie der Franziskaner, daß ihr Nikolaus der Sohn eines katholischen weltlichen Fürsten sei, dessen Namen sie zu verschweigen beschworen, und der eben seinen Heiligenschein und seine Nasen-Narben auf den Kleinen fortgepflanzt; – und endlich, daß sie für die echten Steine in den Ringen des Fürsten die ähnlichen falschen hineingesetzt, die rechten Juwelen hingegen hinter dem Bilde des heiligen Nikolaus zwischen dem Papier und dem Holzdeckel samt einem Anweiszettelchen aufgehoben, weil sie durch die Steine künftig für eine katholische und fürstliche Erziehung des armen Wesens besser zu sorgen gedacht. – Und sie bitte nun, ihr an Gottes Statt zu vergeben....
Hier riß Henoch die Schranktüre so weit auf, als das Bett erlaubte, und streckte den Arm darüber hinein und rief: »Ich vergebe, vergebe. – Hab' alles vernommen. – Ich spring' nur um die Stube herum und schieße gleich vor dein Bett und versöhne mich.«
Er sprang auch zur entgegengesetzten Tapetentüre hinaus, aber vor allen Dingen zum Bilde des heiligen Nikolaus, um es einzustecken, und dann erschien er vor dem Bette als ein umgestülpter Ehemann voll Liebeblicke. »Dacht' ichs nicht längst?« (sagt' er) – »Das lass' ich mir schon gefallen. Fahre hin in Gottes Namen! Ich will unser Söhnchen zu einem Fürsten ausbacken, daß sein Durchlauchtigster Herr Vater Ihre Lust daran sehen sollen, wenn ich ihm den Schelm überbringe.... Und Sie, hochwürdiger Herr Beichtvater, sollen mir bezeugen, daß alles wahr ist und die Mutter es wirklich auf dem Sterbbette in der Beichte so ausgesagt.«
– – In meinen jüngern, frischern Jahren in Leipzig hätt' ich vielleicht durch langes Jagen ein Gleichnis aufgetrieben, um damit das betroffne Gesicht des Franziskaners notdürftig darzustellen; – jetzt aber bei so späten in Baireuth ist alles Ähnliche, was ich geben kann, etwa die Maulschelle, welche in Hamburg der Stadtphysikus Paul Marquardt Schlegel von einem Kadaver bekam, der unversehends auflebte, als er ihn eben mit dem Messer auseinanderlegen wollte.So steht die Geschichte in Vulpius' Kuriositäten erzählt; etwas verschieden aber in Unzers Arzte. – Schlegel selber verschied darüber an einem hitzigen Fieber; der Franziskaner kam bloß mit einem milden Zahnfieber davon, das durch das Knirschen des Gebisses das Naturtreiben eines wachsenden anzeigte. Er stotterte mit rauher Bauerstimme heraus: »Negatur; der Ketzer versteht nichts vom Sigillum confessionis (Beichtsiegel), das ich der heiligen Dreifaltigkeit selber nicht öffne. Aber den heiligen Nikolaus hat sie der Kirche vermacht; den verlang' ich.« – »Ich hab' ihn schon in der Tasche,« versetzte Henoch, »und Ihr habt Euer Beichtsiegel gebrochen. Ich verklag' Euch künftig, wenn Ihr nicht bezeugt, daß ich die Beichte mitgehört.«
Nun kamen die Hundezähne bei dem Mönche zum Durchbruche, und er rief der Beichttochter zu, er absolviere sie nicht, wenn sie nicht laut der Kirche die Steine vermache. Glücklicherweise aber hatte Schrecken und Schreien die Schwache schon in die letzte Stunde gesenkt, worin die Sängerin zufolge einzelner Zeichen schon ihre eignen schönen Töne aus alten Blütenwäldern herüberhörte. Da nun ihr Mann immer lauter ihr zuschrie: »'s ist vergeben, vergeben; und dein Sohn wird fürstlich erzogen«, so kann sie leicht noch einen Lebens-Endtriller mehr genossen und die eheliche Stimme für die beichtväterliche genommen haben.
Der Franziskaner renne immer mit einem Schocke von Weisheitzahnfieber-Ausbrüchen davon und uns aus dem Gesicht; uns allen ist hauptsächlich daran zu wissen gelegen, warum Henoch durch dieses Horchen früher in den Himmel gefahren als die Frau, und warum er mit ihr so zufrieden geworden, als hätte sie ihm zum Brautschatze statt eines Fürstleins ein Fürstentum mitgebracht und nachgelassen; denn die abgelauschte Erbschaft der echten Ringsteine konnt' ihn eigentlich mehr gegen sie verhärten als erweichen. Allein der Umstand oder der Mann war dieser: da Henoch ein wahres Knall-Quecksilber von Mensch war, das Schießpulverlärm macht, selten gegen Not und oft ohne Not: so hatt' er sich an Margarethens Sterbbette aus ihrem wenigen Goldschlich und Apothekergolde von Wahrheit auf der Stelle eine der längsten Schlußketten geschmiedet, welche für ihn als eine goldne Gnadenkette oder Ziehbrunnenkette in die Zukunft hinunterhing. Denn er sagte nämlich zu sich – und wahrscheinlich innen in dem Stile, den er außen gebrauchte –: »Kostgelder – Postgelder – Tafelgelder – Lehrgelder – Beichtgelder – Trankgelder verschwend' ich auf das kleine Markgräflein Nikolaus; und zwar davon dreimal mehr als auf mein jetziges Tochterdrei; nur daß ich dabei die Ringsteine nicht angreife; denn die Zeit wird kommen, die Stunde, die Minute, das Jahr, wo ich mich hinstelle und das Markgräflein seinem hohen Herrn Vater ganz fertiggemacht hinhalte und des Ersatzes der Auslagen (sie sind aber sämtlich bescheinigt) samt einigen Gratialen und Verzugzinsen gewärtig bin. Womit mein hoher Sohn mir noch für seine Person erkenntlich ist, will ich erwarten und mit Jubel empfangen.«
Über das künftige Auftreiben eines Vaters zum Markgräflein war, schien es, Marggraf gar nicht in Angst. »Ich gehe«, dacht' er, »bloß der Nase nach, nämlich der fürstlichen pockennarbigen, mit welcher ich dann den Vater auf die gleiche kindliche stoßen will. Hab' ich nur erst ein gekröntes Haupt an der seinigen: die Nebenumstände werden sich schon von selber ausweisen.« – Herr v. Benkowitz in seiner mehr herz- als kunstreichen Gemäldeausstellung der klopstockischen Gemäldedarstellungen bernerkt zwar ganz richtig, daß ein Heldengedicht wie die Messiade die Nase als ein zu gemeines Wort nicht einlasse, sondern auslasse – haben doch vielleicht deswegen, möcht' ich hinzusetzen, viele Heiden selber dieses alltägliche Gliedmaß im Heldengedichte ihres Lebens an höhere Schönheiten aufgeopfert –; aber gerade eine Nase erhob des Reiseapothekers gemeines Leben zum Epos, zum Pik mit NasenlöchernDie beiden Öffnungen des Pik auf Teneriffa sehen nämlich zwei Nasenlöchern ähnlich., in welche nicht nur Tabakpflanzungen, sondern ganze Tabakpflanzer gehen.
Und sah er nicht noch außer der Nase den väterlichen Heiligenschein vor sich, unter welchem er die Krone, wie unter einem Flämmchen einen Kronschatz, finden konnte, der ihn als Grubenlicht und Feuersäule und Leuchtturm zum Vater führen mußte? – Denn er wollte durchaus alles, Überreichung des Markgräfleins und der Rechnungen, so lange ersparen, bis beide groß genug gewachsen und erstes gut ausgearbeitet, zugeglättet, ausgeprägt, und Kopf samt Hand zu Kron- und Zepterträgern mit vielen Kosten abgerichtet, dem Potentaten quaestionis zu überreichen war, so daß dieser das Kind mit in den geheimen Staatsrat gehen lassen konnte. Die Freude des vielleicht gar kinderlosen Fürsten, dem er auf einmal einen Stammhalter einpelze, konnt' er sich gar nicht unbeschreiblich genug vormalen und sie keiner andern gleichstellen als seiner eignen darüber, daß er so was von einem apanagierten oder erbenden Prinzen im Meisenkasten seines Ehebettes wirklich gefangen oder mit den Schlagwänden von dessen Vorhängen einen Wappen-Falken erwischt, womit er künftig hohe Jagd auf Beute machen könne, an die wohl niemand denke.
– Und so wäre denn das Ur- oder Belehnkapitel zu Ende gebracht und der stärkste Schritt zum ersten Vorkapitel getan. Im ersten kann der Held selber auftreten – in jedem Falle reif, zwar nicht für den Thron, aber doch für das Dintenfaß – und kann bestimmter leiden und handeln und überhaupt das Ding führen, was wir Menschen ein Leben nennen. Denn es war nie mein Vorsatz, ihn nur um einen halben Bogen früher vorzuführen, oder anders denn als ein ganz fertiges Kind. Wer wird Embryonen Taufnamen geben, da sie inkognito fortkommen können? Oder wer einem bloßen Fötus ein Ordenband umhängen? Letztes kann erst an die Stelle der abgerißnen Nabelschnur treten, bei neugebornen Prinzen. Alles dies gälte schon, wenn ich hier auch keine Geschichte schriebe, sondern einen bloßen Roman. Denn die Kindheit, wodurch einige Romanschreiber das Spätleben zu motivieren glauben, braucht ja selber wieder motiviert zu werden. Gestaltet der nackte Geist sich seine Gehirn-Organe? Oder destillieren letzte durch Helm und Kolben sich ihren besondern Geist ab? – Oder formen weiches Gefäß und weicher Teig sich einander gegenseitig durch Erharten? Dies hieße aber nur die Aufgabe in zwei Hälften auseinanderrücken, ohne sie doch über irgendeine zu lösen. Kurz vom Helden selber – ich rede noch immer vom Helden des Roman-, nicht des Geschichtschreibers – muß mit einem Allmachtschlage das ganze Wunder seines Daseins und Gipfels voll gegeben sein; und die Zeit kann nicht seiner aufplatzenden Aloeknospe, wie einer italienischen Seidenblume, Blatt nach Blatt einsetzen. Wenn nun dieses die Dichtkunst tut, welche nach Aristoteles noch mehr als die Geschichte belehrt: so muß die wahre Geschichte sich so gut als möglich ihr zu nähern suchen – wie Voltaire in seinen Lebensbeschreibungen Peters und Karls getan –, und ich werde mein Ziel erreichen, wenn ich die historischen Wahrheiten dieser Geschichte so zu stellen weiß, daß sie dem Leser als glückliche Dichtungen erscheinen, und daß folglich, erhoben über die juristische Regel: fictio sequitur naturam (die Erdichtung oder der Schein richtet sich nach der Natur), hier umgekehrt die Natur oder die Geschichte sich ganz nach der Erdichtung richtet und also auf Latein natura fictionem sequatur.
– Und so stehen wir denn vor der Façade oder Antlitzseite des ersten Vorkapitels, auf dessen Schwelle wir unsern Helden und Kleinen schon so lange spielen sahen mit seinen – Eltern.
Die ernsten Ausschweife für Leserinnen zum Urkapitel sind: Die Ziele der Menschen – Klage des verhangnen Vogels – Die Weltgeschichte – Die Leere des Augenblicks – Die sterbenden Kinder.