Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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5. Der Anapus und das Olympion

Es führte von der Neapolis die Helorische Straße durch den Sumpf Lysimelia und Syraka und eine Brücke über den Anapus, auf dessen anderer Seite sich der Hügel Polychne erhebt. Auf ihm stand der Tempel des olympischen Zeus und ein Ort Olympion genannt. Diese Gegend ist aus der Kriegsgeschichte von Syrakus bekannt genug, denn sowohl die Athener als zu wiederholten Malen die Karthager lagerten sich um das Olympion bis hinauf nach dem Becken der Quelle Cyane, und jedesmal raffte die aus dem Sumpf aufsteigende Pest die Heere hin. Die wenigen zersplitterten Säulen, die noch vom Olympion auf jenem nun ganz öden Hügel stehengeblieben sind, sieht man auf Millienweite; sie und jene Säule am Brunnen degli Ingegneri sind heute die einzigen freistehenden Säulenreste, die auf dem Stadtgebiet von Syrakus in die Augen fallen.

Um dorthin und nach dem Anapus zu gelangen, schifft man von der Insel über den herrlich großen Hafen und läßt sich dann in den versumpften Fluß rudern. Er mündet unterhalb einer Brücke ins Meer. Je weiter man ihn hinauffährt, desto mehr verengt er sich, bis ihn zuletzt die Barke im vollen Sinne des Wortes ausfüllt. Die Ruder werden weggelegt, die Bootsleute stoßen den Kahn teils mit mächtigen Rohrstangen fort, teils ziehen sie ihn stark angestrengt am Tau weiter. Ich habe nie eine romantischere Fahrt gehabt als auf dem Anapus. Zu beiden Seiten ist der Fluß mit 20 Fuß hohem Schilf von prächtiger Fülle dicht bewachsen; um diese beinahe armdicken Rohre schlingen sich Wasserlianen wie um Bäume, und Ranken blühender Gewächse ringeln sich in wildverworrenen Girlanden herüber und hinüber. Der mystische Geruch der Wildnis und des Wassers dringt so scharf auf die Sinne ein, wie die schwüle unbewegte Luft; man glaubt sich in eine tropische Flußlandschaft versetzt, so erstaunlich ist die Fülle des Pflanzenwuchses. Dabei flattern Hunderte von fremden, buntbeschwingten Wasservögeln umher, oder sie streifen spielend über die Wellen wie die Schwalben. Der Anapus teilt sich bald oberhalb der helorischen Straße, oder es strömt vielmehr in ihn jene klassische blaue Cyane ein, welche dem runden klaren Wasserbecken La Pisma entspringt. Nach der Sage warf sich hier die Nymphe Cyane dem Pluto entgegen, als er Proserpina zur Unterwelt hinabführte, und sie ward hierauf in die kornblumenblaue Quelle verwandelt. Alljährlich kamen die Syrakusier an die Cyane und feierten das Gedächtnisfest Proserpinas durch Opfer, da im Namen des Volkes ein Stier und eine Kuh in den Teich des Quells versenkt ward. Wahrlich, dies Lokal ist wunderbar; so von dem verschattenden immer flüsternden Röhricht mitten auf der Welle umwölbt, sitzt man da wie im Traum, in die lieblichste Mythe versenkt. Wie wurden mir da alle jene Reliefs alter Sarkophage, welche den Raub der Proserpina darstellen, lebendig; wie Arabesken umschwebten mich hier diese reizenden Gebilde griechischer Phantasie! Und wie hat nun Ceres diese fischwimmelnde Quelle zum Lohn für ihre Tränen um Proserpina geschmückt. An ihren ewig grünenden Ufern wächst die seltsame Papyrusstaude! Es ist der einzige Ort in Europa, wo sie in der Wildnis gefunden wird, seitdem sie vom Ufer des Orethos bei Palermo verschwand. Ich war ganz außer mir vor Freude, als ich nun wirklich die ersten Papyrusstauden vor mir sah, aus der bläulichen Flut fremd aufsprießend, verlorene Kinder des Nils. Die schöne Binse erhebt sich aus dem Wasser jungfräulich graziös, schlank, in schönster Linie gebogen, etwa 15 Fuß hoch, dreikantig und glatt und von herrlich glänzendem Dunkelgrün. Aber auf der Spitze überkraust sie eine reiche volle Krone von zahllosen grünen Fasern, welche fein und feiner wie geknotete Fäden und gleich strömendem Haar lang herabhängen. Das Volk nennt die Büschel recht treffend «La Perrucca». Diese so zierliche Gestalt des seltsamsten Gewächses, der wahren Papiernymphe der Gelehrsamkeit, ist für uns vom kimmerischen Norden kommende Wanderer überraschend genug; ganz mythisch wird ihre Erscheinung, wenn diese Stauden als dichtes Gebüsch beisammenstehen, in malerischer Verwirrung durcheinander aufgeschossen, große und kleine, königlich ragende alte und ganz zarte junge Pflanzen, alle die phantastischen Kronenbüschel träumerisch gesenkt und in der azurblauen Flut der Cyane sich spiegelnd. Da ist wie unter Zauber alles Hellenische aus der Seele geschwunden, und die Phantasie steht plötzlich am rätselhaften und weisen Nil, vor den Pyramiden und Sphinxen, vor den Mumien und wunderlich beschriebenen Papyrusrollen. An dem Rand der syrakusischen Cyane, auf hellenischem Boden schien mir diese Stunde selbst wie eine Mythe dazustehen, wie jene nämlich, welche sagt, daß aller Urgrund der Kultur und Literatur aus dem fabelhaften Ägypten herübergekommen sei. So blickte ich bald auf diese Papyruspflanzen und bald auf jene noch herabschauenden dorischen Säulen des olympischen Zeus, und sie erschienen mir beide hier wie Sinnbilder west-östlicher Kultureinheit.

Landolina und Politi haben den Versuch gemacht, aus dem syrakusischen Papyrus Papier zu fertigen, und es ist so vollkommen gelungen, daß sich die Papyrusblätter von Syrakus von den ägyptischen nur durch die frischere Farbe unterscheiden. Das zarte Bastgefaser des Stengels wird dazu verwendet, indem man es in die feinsten Blättchen zerschneidet, dann leimt und preßt.

Ich verließ die Barke in der Cyane, um nach dem ganz nahen Hügel Polychne zu gehen. Die dort stehenden beiden Säulen des Olympions sind kanneliert und haben Basamente; ihre Kapitäle fehlen. Der Tempel war sehr alt; er stand schon vor der Schlacht bei Himera, aber seine Größe war unbeträchtlich, da der Säulendurchmesser nur 1,52 m beträgt. Gelon hatte hier dem Zeus einen goldenen Mantel gestiftet und Dionys ihn dem Gott von den Schultern genommen, indem er als Freigeist sagte: Der goldene Mantel sei im Sommer zu schwer, im Winter aber zu kalt. Die hochberühmte Bildsäule des Zeus selbst raubte später Verres und brachte sie nach Rom. Im Olympion wurden auch die Namenregister aller Bürger von Syrakus aufbewahrt; sie fielen den Athenern in die Hände, als sie das Olympikon besetzten. Auch von diesem Hügel ist der Blick auf Syrakus überaus schön. Lieblich liegt ihm zu Füßen die von der Cyane durchströmte Wiese, das sagenvolle, dem Hades geweihte Grab von so viel Tausenden von Athenern und von Puniern. Es gibt keine so idyllische und zugleich so melancholische Stelle in Syrakus. Wenn man jene starre Felsenwüste von Achradina bis nach Epipolä durchwandert hat, ermüdet von dem Anblick dieses steinernen Todes, setzt man sich gern auf die Trümmer des Olympion und weidet die Seele an dem grünen Teppich des Anapus und dem Bade der schlängelnden Cyane, und gedenkt des Pindar und des Theokrit. Du schöne menschliche Zeit von Hellas, wo bist du hin?

Ein Regenschauer vertrieb mich, und wie ich den Anapus wieder hinabfuhr, zwang er mich unter die helorische Brücke zu flüchten. Da saß ich lange, wie in einem Grabgewölbe, wie eine Seele über dem Styx, gleichgültig des Lebens, oder vielmehr nur von der Nässe durchschauert. Aber es ist kein Tag, sagt Cicero, wo nicht in Syrakus die Sonne scheint; nach einer halben Stunde kam sie wieder, und ich sah die himmlische Botin Iris herrlich über das Meer wandeln und einen Strahlenbogen um Ortygia ziehen, so daß die ganze Insel von der siebenfarbigen Glorie umfaßt war. So erblickte ich zum erstenmal den Vesuv, als ich in Neapel einfuhr, geradeso vom Regenbogen umfaßt. Und ich wünsche allen Wanderern, die nach Neapel oder Syrakus gehen, daß die Götter ihnen diese feenhafte und gute Vision vergönnen möchten.

Das war nun ein rechter, herzlabender Abschied von Syrakus; am folgenden Tag wollte ich hinweg; der Himmel weiß, wie schwer es mir wurde. Ich mußte denn kurz vor dem Scheiden noch zum Theater hinauf, um den allerletzten Blick von Syrakus zu nehmen. Und so: Lebe wohl, Arethusa!

«Wohl ihr Bäche, vom Thymbris die lieblichen Wasser ergießend!»


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