Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Der Kaiser indes wurde auf Elba von Tanten und Basen, wie man sagt, beschändet. In ganz Italien sprach man davon, daß ein gewisses Fräulein Vantini sein Herz erobert habe, daß er sie in romantischen Stunden empfange, auf der Villa wie in seinem Palast, ja daß sie bereits einen zweiten jungen Napoleon unter dem Herzen trage und sich dessen schließlich selbst berühme. Dieses Fräulein war die Tochter eines Gutsbesitzers auf Elba, eines Mannes, der ehemals Bürgermeister von Porto Ferrajo gewesen war; er war wiederum Schwager eines Herrn Cornelio Filippi von Livorno; dieses gewissen Cornelio Schwester aber war eine wahre Messaline, erklärte Buhlschaft des Engländers Grant, eines Kaufmanns in Livorno, und dieser Grant war wiederum ein wütender Feind Napoleons und Helfershelfer des Spions Giunti usw. Da haben wir eine Schandgeschichte aus Elba.

Das Geld fing übrigens zu mangeln an. Napoleons Einkommen belief sich auf kaum 400 000 Frank. Denn was ihm im Vertrag zu Fontainebleau verbrieft worden war, eine jährliche Rente von 2 500 000 Frank, zahlte Frankreich, dem Vertrag zuwider, nicht. Der Kaiser beschwerte sich, und Lord Castlereagh remonstrierte für ihn; aber die französische Regierung zögerte, und sie zahlte nichts. Sie ahnte wahrscheinlich, daß der Verbannte ihre Gelder zu irgendeinem Staatsstreich verwenden könnte, mindestens fürchtete man einen Einfall in Italien; denn daß er eine Landung in Frankreich versuchen würde, fiel niemand ein.

Hier auf Elba, in der unmittelbaren Nähe Frankreichs und Italiens, mußten sich dem Geist des gestürzten Kaisers wie von selbst beide Länder als Schauplätze einer möglichen Restauration darbieten. Wie mag er in diesem Garten, in diesem Kabinett und in jener Villa auf und ab gegangen sein, die Hände auf dem Rücken, und in der Waagschale abgewogen haben hier Frankreich, dort Italien, hier die Erneuerung einer alten Laufbahn oder eines Reichs, das er besaß, dort eine ganz neue Laufbahn, eine ganz neue, erst zu stiftende Monarchie.

Verweilen wir einen Augenblick; denn hier ist eine geheimnisvolle Stelle in der Geschichte Napoleons, die etwas ungemein Anlockendes für die Vorstellung hat, wie jede Möglichkeit von großem Charakter. Eine Minute lang, so kann man sagen, schwebte der Geist einer unberechenbaren Zukunft über Italien, während Napoleon auf Elba saß.

Denn was wären die Folgen gewesen, wenn dieser Mann seine Richtung auf Frankreich plötzlich aufgab, und er, ein Italiener, in Italien auftrat, in einer neuen Gestalt, als Ordner und Vereiniger dieser schönen Länder, als ein römisch-italienischer Kaiser in der Weltstadt Rom, auf dem Kapitol? Es ist unzweifelhaft, daß ein solcher Plan gefaßt wurde. Aber wie weit Napoleon selbst mit den Agenten einer italienischen Union, welche in Turin ihren Mittelpunkt hatten, in Verbindung stand, ist trotz aller Enthüllungen schwer zu ermitteln. Jener Entwurf eines konstitutionellen Kaiserreichs in Rom, an dessen Spitze Napoleon zu berufen sei, wie er in den Köpfen der italienischen Unitarier entstand, klingt heute nicht schimärischer als im Jahre 1814. Es sollten Napoleon römischer Kaiser sein, die Könige von Sardinien und Neapel mit Geld entschädigt werden, die Hauptstädte Mailand, Venedig, Florenz, Neapel, um ihren lokalen Patriotismus zu befriedigen, zu Vizekönigtümern gemacht werden, die Nationalversammlung ihren Sitz wechseln. Der Papst ward zu einem Phantom erklärt, dessen man sich zu entledigen habe. Dies war das italienische Projekt; zu seiner Ausführung konnte ein Krieg dienen. Denn Murat, damals noch König von Neapel, sollte in Krieg mit Frankreich verwickelt werden und Napoleon im Augenblick des Zusammenstoßes erscheinen, wo er dann sich unfehlbar beider Armeen würde bemächtigt, Italien vereinigt und die Bourbons von Frankreich zu seiner Anerkennung gezwungen haben.

Doch genug dieser Träume. Napoleon hielt, wenn er ihnen das Ohr lieh, Italien in Spannung; und in der Tat, seine Landung auf der Halbinsel hätte alles in Taumel versetzt. Ohne Zweifel würde er sich nach Italien geworfen haben, wenn ihm Frankreich keine Aussicht bot. Aber was ihm seine Agenten von dort berichteten, zeigte ihm klar, daß es nur seiner Landung bedürfe, um die bourbonische Restauration wie einen Nebel zerrinnen zu machen.

Unterdes lebte man im Palast von Elba harmlos; Pauline, die Seele der Gesellschaft, gab bisweilen ein Fest. Aber um Geld zu sparen, ward der Haushalt beschränkt und mancher Bauplan eingestellt, selbst ein Artillerietrain verkauft. Der Kaiser war in Papieren, in Journalen und Berichten vergraben. In seinem kleinen Kabinett sah es aus wie ehedem in den Tuilerien; war der Mann doch derselbe Napoleon, welcher riesige Entwürfe, Schlachtpläne, welterschütternde Gedanken in der Seele umherwälzte.

So saß er in dem kleinen Zimmer von Porto Ferrajos Gouvernementshaus, von welchem nur das bescheidene Banner von Elba flatterte, weiß und amarant und mit den kaiserlichen Bienen, indes zu gleicher Zeit die hohe Diplomatie in Wien beim Kongreß saß, alle Mächte Europas hinter den grünen Tischen, tausend Federn rührend und tausend Zungen, die ganze Welt ein Protokoll und ein diplomatischer Diskurs, und alles dies um den einen kleinen Mann in Elba. Dieser still, verschlossen, einsam, wie ein Zauberer in der Felsenhöhle, welcher unsichtbare Geister beschwört, aussendet, empfängt; jene voll Geräusch der Siegesfeste, und der Debatten – ein wunderliches Gegenüber! Der kleine eiserne Mann steht plötzlich von seinem Tisch auf – der Kongreß ist nicht mehr; die Fürsten und die Diplomaten fahren auseinander, und die Welt wird wieder ein tobendes Kriegslager.

Napoleon war von allem unterrichtet, was in Frankreich und Wien geschah – am Anfang des Jahres 1815 drohte Uneinigkeit die Alliierten miteinander in Krieg zu bringen. Österreich, Frankreich und England verbanden sich zu einem geheimen Vertrag gegen Rußland und Preußen. Auch verlangte Frankreich die Wiedereinsetzung der Bourbonen in Neapel. Murats Thron wankte; er bot sich also als natürlicher Verbündeter Napoleon dar, Italien zu jener Union aufzurufen, an deren Spitze dieser hatte treten sollen.

Das schreckliche Wort Sankt Helena war schon zu Napoleons Ohr gedrungen. Der Entschluß wurde fest in seiner Seele. Er ward immer einsamer; er vermied es, Campbell zu sprechen. Er ließ ihn selten vor und nur dann, wenn der Engländer von Livorno zurückkehrte, wohin er bisweilen hinüberging. Es kreuzte auch ein französisches Kriegsschiff um die Insel, Napoleon zu beobachten, von dem ein Gerücht zu reden begann, er bereite eine Landung in Italien vor; die englische Korvette aber, zu Campbells Disposition gestellt, segelte beständig zwischen Elba, Genua, Civita Vecchia und Livorno. Napoleon selbst war als Souverän der Insel im Besitz von Kriegsfahrzeugen, von vier Schiffen; sie durchsegelten häufig, manövrierend, das Meer unter dem neuen Banner von Elba, das selbst die Barbaresken respektierten; denn oft brachten sie den Kapitänen elbanischer Schiffe Geschenke, sagend, daß sie die Schuld von Moskau quittierten. Der Kaiser ließ diese Schiffe häufiger in See gehen, seine Absicht zu verbergen; und er versteckte sie so tief, daß nur Bertrand und Drouot um das Geheimnis wußten, und auch diese nur 24 Stunden vor der Abfahrt. Den Frauen ward es nicht mitgeteilt; auf dem nahen Korsika wußte es allein Colonna, der Freund Paolis und der Vertraute Napoleons. Der Entschluß, an Bord zu steigen, endlich aus dieser öden Einsamkeit der Welt, und neuen Riesenkämpfen entgegenzusehen, mußte ein fürchterlicher Ruck in Napoleons Seele sein, gleich jenem Cäsars, als er den Rubikon überschritt. Es war einer von den verzweifelten Würfen, welche der Erfolg, je nachdem sie fallen, entweder heldenkühn und groß, oder wahnsinnig und abenteuerlich benennt. Solche Augenblicke, wo ein entschlossener Mensch todesmutig gerade auf das Schicksal losgeht, nehmen all unsere Teilnahme in Beschlag, und wenn das Unternehmen gelingt, scheint die Tollkühnheit selbst die Größe des Helden verdoppelt zu haben. Gleich jenem Fernando Cortez, da er die Schiffe hinter sich verbrennen ließ, erscheint nun Napoleon, und in Wahrheit ging er an die Eroberung Frankreichs und in den Kampf mit den Kriegsheeren der europäischen Mächte mit kaum mehr Truppen, als der abenteuernde große Spanier hatte, als es galt, wilde Indianer zu bezwingen. Freilich standen schon zwei seiner größten Heere und Avantgarden in Frankreich: Der Zauber seines Namens und der Haß gegen die Restauration.

Es war an einem Sonntag, dem 26. Februar – Pauline gab einen Ball – die Garden und die übrigen Truppen, 800 Mann, stehen marschfertig auf der Piazza d'arme – sieben Fahrzeuge liegen reisefertig im Hafen – der Kaiser ist voll Unruhe – der kleine Mann geht auf und ab, tritt ans Fenster, blickt in den Abendhimmel, auf den Golf, welcher bewegt ist und voll rauschenden Wellenschlags. Die Garden sollen sich einschiffen! Alea jacta est!

Es war abends 8 Uhr, als Napoleon vom Kai in die Barke stieg.

Hier nun, da der gewaltige Mann in See geht, die Götter zum zweitenmal zu versuchen, ist es mir, als riefe eine Stimme hinter ihm drein: «Des Fatums boshaftes und ewiges Gesetz ist es in allen Dingen, daß sie, wenn sie den Gipfelpunkt erreicht haben, schneller, als sie aufstiegen, wieder zur Tiefe stürzen.» Die Stimme ist Senecas Stimme, jenes alten Unglücksvogels, der ein besonderes Recht hat, diesen Spruch Napoleon nachzurufen, weil er die Großen der Erde schrecklich enden sah, den Imperator Tiberius, den Kaiser Caligula, den Kaiser Claudius, den Cäsar Germanicus, und weil er acht lange Jahre als Verbannter auf Korsika saß und Weisheit lernte, und die Natur wie das Ende der Napoleonischen Dinge aus gründlichster Erfahrung kannte. Aber Napoleon segelt von dannen, ungesehen von der englischen Korvette, welche in Livorno war. Das Meer ging hohl. Man hoffte vor Tagesanbruch über Capraja hinaus zu sein, doch fiel der Wind, und am Tag war man noch im Angesicht der Insel. Erst um vier Uhr abends gelangte man auf die Höhe von Livorno, und bald zeigten sich zwei Fregatten, dann ein französisches Kriegsschiff, der «Zephyr», welches heransegelte. Die Mannschaft wollte es entern, aber Napoleon befahl ihr, sich unter Deck zu legen. Der «Zephyr» fragte das Schiff an, wie es in Elba aussehe, und Napoleon selbst rief durch das Sprachrohr: «Der Kaiser befindet sich sehr wohl.» Glücklich entrann er der Gefahr.

Er hatte schon vor seiner Einschiffung zwei Proklamationen an die französische Armee und an das französische Volk abgefaßt; aber weil man sie nicht entziffern konnte, warf er sie ins Meer und diktierte zwei andere. Alles, was schreiben konnte, schrieb sie ab – man saß an Bord umher man schrieb auf Trommeln, Grenadiermützen, Bänken – eine seltsame Szene auf dem «Inconstant». Denn dies war der Name von Napoleons Schiff, und von seinem Glück.

Die Proklamationen folgen hier beide:


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