Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Der Erzengel auf dem Berge Garganus

1874

Die Verehrung der Engel in der christlichen Kirche ist eine von ihr aus dem Judentum herübergenommene Erbschaft. Es gibt viele und oft sehr dichterische Szenen im Alten Testament, worin Engel auftreten, den Erzvätern, den Propheten und Heroen Israels die Gebote Gottes zu überbringen, oder ihnen schützend und führend zur Seite zu stehen. Sie erscheinen dort als namenlose Wesen, als «Engel des Herrn», bis zuerst der Prophet Daniel den Engel Michael geradezu als einen Schutzgeist des jüdischen Volkes bezeichnet. Sein Name ist chaldäischen Ursprungs. Denn erst in der babylonischen Gefangenschaft lernten die Juden die chaldäischen und persischen Vorstellungen von jenen himmlischen Geistern näher kennen, welche bei der Weltschöpfung tätig gewesen waren und stets vor dem Throne Gottes stehen.

Die sieben großen Planetengeister, die Amschaspans der persischen Mythologie, wurden zu den sieben Erzengeln der kabbalistischen Lehre. Ihre Namen sind, chaldäisch: Michael, Raphael, Gabriel, Hamiel, Zadykiel, Zaphiel, Chamael. Jeder dieser Genien regierte eine Welt: Raphael die Sonne, Gabriel den Mond, Michael den Merkur.

Während in der indischen Mythologie und später in der von altasiatischen Ideen durchdrungenen Theosophie der Christen die vier zuletzt genannten Erzengel in den Hintergrund traten oder verschwanden, erhielten sich die Namen und Gestalten der drei ersten. Kapitälskulpturen an einer Ecke der Halle des Dogenpalastes in Venedig stellen alle drei Erzengel dar: Michael trägt das Schwert, und unter ihm sind Adam und Eva abgebildet, welche die verbotene Frucht gepflückt haben; Raphael trägt einen Stab in der Hand, und Gabriel eine Lilie.

Aber auch Raphael und Gabriel traten hinter Michael zurück, denn dieser Erzengel allein erhob sich zum Haupt der himmlischen Miliz, und es verwoben sich mit seiner Gestalt die mythischen Vorstellungen vom Drachentöter Herkules und vom Seelenführer Merkur. Er wurde zum Heros der Engelgeister im Dienste Gottes und des Prinzips des Lichts; so bestritt er das feindliche Prinzip der Finsternis. Als die Engel die große Rebellion gegen den Weltschöpfer erhoben, überwand Michael ihren Führer, und er stürzte Lucifer gekettet in den Abgrund der Welt hinab.

Die Heldentat des Erzengels erzählt die Apokalypse, welche man selbst das mystische Buch der Engel nennen kann; aus ihr schreibt sich die Darstellung Michaels her als des himmlischen Herkules, welcher das Schwert über den niedergestürzten Drachen oder Typhon schwingt. «Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen, und der Drache stritt und seine Engel. – Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführet; und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.»

Die Apokalypse führte so Michael in die christliche Mythologie ein, während im Brief Judä die jüdische Legende erzählt wird, daß dieser Erzengel die Leiche des Moses dem Satan abgekämpft und ihr das Begräbnis gesichert habe. So entstand die andere Vorstellung, daß er der Genius der Toten und der Führer der abgeschiedenen Seelen sei. Im zweiten Gesange des Purgatorium sieht Dante ein Schifflein landen, in welchem der Engel Gottes eine Schar Seelen überführt, die zum Fegefeuer bestimmt sind. Dieser himmlische Steuermann, «il celestial nocchiero», ist der Seelenführer Michael. Auf vielen Bildwerken erscheint er mit der Waage in der Hand abgebildet, worauf er die Seele des Menschen und ihre guten und bösen Werke wägt.

Im Neuen Testament treten, wie im Alten, Engel als Boten Gottes (angeli) auf; sie setzen ihre Tätigkeit im Dienste Christi fort: doch nur an den bezeichneten Stellen wird Michael namentlich genannt. Sabäische, talmudische und gnostische Vorstellungen bildeten die Lehre von den Engeln unter den Christen weiter aus, und der Himmel bevölkerte sich mit Legionen einer ätherischen Miliz, die in Hierarchien und Chöre geteilt war. Die Verehrung dieser Genien blieb jedoch einige Jahrhunderte lang apokryph und unkanonisch, so lange nämlich, als die christliche Kirche noch die Kraft behielt, sich der heidnischen Ideen Syriens, Ägyptens und Griechenlands zu erwehren, welche auf hundert Wegen in ihren Kultus eindrangen.

Noch das Konzil von Laodicea im vierten Jahrhundert befahl in seinem 35. Kanon: «Die Christen sollen nicht die Kirche Gottes verlassen und die Engel anrufen. So aber jemand erfunden wird als einer, der dieser versteckten Idolatrie ergeben ist, der soll verflucht sein, weil er unsern Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, verlassen hat und zum Götzendienst übergegangen ist.» Vier Jahrhunderte später wurde eben dieser «Götzendienst» durch das zweite Konzil von Nicäa für kanonisch erklärt.

Im Morgenlande und Abendlande war also der chaldäische Kultus der Engel durchgedrungen und Michael wurde als ihr Fürst verehrt. Die Welt war voll seiner Legenden und Erscheinungen. An hundert Orten, auf Bergen, auf Küsten des Meeres und in Städten hatte der Bezwinger Luzifers sich in Erscheinungen geoffenbart, die alten heidnischen Kulte des Mithras, des Merkur, des Herkules, der Herta und Vesta und der Druiden verdrängt und deren Stelle eingenommen.

Die «Erscheinung» ist ein wesentlicher Begriff in dem religiösen Traumleben der Menschen zu jeder Zeit. Alle Mythologien der Völker sind davon erfüllt. Götter und gottähnliche Wesen erscheinen den irrenden Sterblichen, Verderben oder Heil bringend, in den Religionen Indiens und Persiens, beim Homer, im Alten und Neuen Testament und in der katholischen Kirche bis auf unsere Gegenwart, wo die Madonna in der Grotte von Lourdes erschienen ist. Denn die Einbildung ist ein dichterischer Trieb in der Religion und als mythenbildende Kraft noch heute in der von Eisenbahnen und Telegraphendrähten umsponnenen Welt so gut fortwirkend wie in den Urzeiten am Sinai, in Memphis, in Dodona und Delphi und am römischen Palatin. Luftgebilde der Phantasie verdichteten sich in irgendeinem örtlichen Vorgange zu wirklichen Kultusgestalten, und so und nicht anders sind die meisten Tempel und Orakel im Altertum, so endlich zahllose Heiligtümer der christlichen Kirche entstanden.

Die ersten Erscheinungen Sankt Michaels gehören dem byzantinischen Orient an; die Legende verlegt sie schon in die Zeit Konstantins. Dieser Kaiser sollte in Byzanz drei eherne Kreuze aufgestellt haben, und dreimal im Jahre ließ sich der Erzengel aus Himmelshöhen herab, jene Kreuze mit dem Gesang eines Hymnus zu umwandeln. Konstantin baute ihm zu Ehren vor den Mauern von Byzanz eine Kirche, das sogenannte Michaelion. Noch vier andere Basiliken soll er demselben Erzengel errichtet haben. Die byzantinischen Kaiser folgten diesem Beispiel: Sankt Michael kam im griechischen Reiche in Mode, wie sein Mitstreiter, der neue christliche Perseus, Sankt Georg. Justinian allein soll ihm sechs Kirchen geweiht haben. Mit der Zeit erlangte der Engelfürst Altäre in fünfzehn byzantinischen Basiliken. Die Griechen verehrten ihn als ihren Schutzpatron; deshalb ist auch der Taufname Michael in den byzantinischen Kaiserfamilien und in anderen Geschlechtern Griechenlands und später Rußlands so häufig anzutreffen. Viele Heiligtümer des Erzengels standen in den Provinzen des östlichen Reiches: am berühmtesten war seine Erscheinung und sein Tempeldienst in Colossae oder Chone.

Sodann nahm der Erzengel seinen Flug über Meer ins Abendland, und er erschien auf dem Kap Garganus, im Jahre 493. Auf diesem Vorgebirge gab es im Altertum, gemäß den Angaben Strabos, zwei Heiligtümer, ein Orakel des Podalyrios, eines Sohnes des Äskulap, mit einer Heilquelle, und ein anderes des homerischen Sehers Kalchas. Dem Kalchas opferten Heilbedürftige einen schwarzen Widder, auf dessen Vlies sie die Nacht schliefen, um der Erscheinung und Verkündigung des Priesterheros teilhaftig zu werden. Im fünften Jahrhundert mochten jene alten Heiligtümer und ihre Kulte oberhalb Sipontum noch bestehen, denn Süditalien war damals von Anhängern des antiken Götterdienstes noch immer erfüllt. Der Gotenkönig Theoderich mußte Edikte gegen den heidnischen Kultus erlassen, während Gelasius I., in derselben Zeit Papst, die Feste der Lupercalien bekämpfte, welche vor seinen Augen in Rom noch gefeiert wurden. Der Zeitgenosse beider, des Theoderich und des Gelasius, der heilige Benedikt, fand auf Monte Cassino noch den Apollotempel und seinen Gottesdienst vor, als er dort sein berühmtes Kloster gründete.

Die Legende der Erscheinung des Erzengels auf dem Garganus ist folgende: In Sipontum lebte ein reicher Mann, Garganus genannt, dessen Herden auf dem Vorgebirge weideten. Eines Tages verschwindet ihm ein schöner Stier. Lange sucht er diesen mit seinen Hirten in allen Schluchten des Gebirges, bis er ihn am Eingang einer Grotte findet. Ergrimmt über die lange Mühe seines Suchens will er den Stier erschießen, aber der abgeschossene Pfeil wendet sich um und verwundet den Schützen selbst. Man meldete dieses Wunder dem Bischof Laurentius in Sipontum, und dieser ordnete ein dreitägiges Fasten an. Am dritten Bußtage, dem 8. Mai (des Jahres 493), erschien ihm der Erzengel und verkündigte ihm: daß die Grotte durch ihn selbst geheiligt sei, und fortan eine Stätte des Kultus zu seiner und der andern Engel Ehre sein solle. Er erschien dem zaudernden Bischof noch einigemal, bis dieser endlich Mut faßte und mit andern Gläubigen die schauerliche Grotte betrat, nachdem auch den Sipontinern derselbe Erzengel bereits als Retter in einer Schlacht gegen Heiden erschienen war, welche ihre Stadt bedrängten. Als die Christen in jene Höhle eintraten, fanden sie dieselbe von einem himmlischen Licht erleuchtet, von Engelhänden in eine Kapelle verwandelt, und in der Felsenwand einen mit Purpur bedeckten Altar errichtet. Laurentius baute vor dem Eingange der Grotte eine Kirche und weihte dieses Heiligtum dem Erzengel mit Bewilligung des Papstes Gelasius am 29. September 493.

Die Legende ist wahrscheinlich oft von italienischen und deutschen Malern dargestellt worden. Ich sah sie in der Bildergalerie des königlichen Schlosses zu Schleißheim bei München in einem sehr originellen Gemälde des Hans Dürer abgebildet.

Am 8. Mai feiert die katholische Kirche die Erscheinung des Erzengels auf dem Garganus, am 29. September aber das Fest der Engelerscheinung überhaupt. Neuere Forscher haben nachgewiesen, daß an eben diesem Septembertage noch zur Zeit Konstantins die «ludi fatales» gefeiert wurden. Selbst wenn die Legende die Zeit der Entstehung der Erzengelkapelle auf dem Garganus zu hoch hinaufrückte, so gehörte sie doch wohl der Periode an, wo nach dem Untergange der gotischen Herrschaft die Byzantiner Herren Süditaliens geworden waren. Nur von Byzanz her konnte der Kultus Sankt Michaels nach dem Westen gebracht worden sein. Auf die Verbindung mit Byzanz weist sogar der legendäre Bischof Laurentius von Sipontum zurück, welcher für einen Verwandten des Kaisers Zeno ausgegeben wird. Der Inhalt der Legende selbst scheint anzudeuten, daß durch den neuen Kultus des Erzengels auf dem Garganus alten heidnischen Stieropfern ein Ende gemacht wurde.

Wie die Abtei auf dem Gipfel des Monte Cassino in Campanien die Mutterkirche zahlloser Benediktinerklöster im ganzen Abendland wurde, ganz so wirkte fortan die Erzengelkapelle auf dem Garganus. Denn von hier aus verbreitete sich der Kultus der Engel überhaupt in alle Länder des Westens, und Kirchen Sankt Michaels traten in England und Frankreich, in Spanien, in Deutschland, auf den Bergen, in Höhlen und an Meeresufern an die Stelle der Heiligtümer antiker Landesgötter.

In Rom selbst, wo während der Herrschaft der byzantinischen Kaiser manche Heilige aus dem Orient Altäre und Kirchen erhielten, mochte auch der Erzengel schon im sechsten Jahrhundert verehrt werden. Eine Kirche S. Michael stand auf der Via Salara; sie war älter als die berühmteste aller Kapellen, welche der Engelfürst in der Stadt erhielt. Und geradezu die schönste seiner Erscheinungen machte Sankt Michael in Rom. Als hier der große Papst Gregor im Jahre 590, während der Pest, welche das in Trümmer fallende Rom verheerte, eine Prozession nach dem S. Peter führte, erschien plötzlich der Erzengel schwebend über dem altersgrauen Grabmal Hadrians. Er steckte heilverkündend sein Flammenschwert in die Scheide, worauf die Pest erlosch. Auf dem Gipfel des Grabmals wurde ihm zu Ehren eine Kapelle erbaut, und dort schwebt der Engel noch heute mit breiten von der Sonne vergoldeten Flügeln, das Schwert in die Scheide steckend: das schönste Symbol der christlichen Kirche, dessen Bedeutung und Lehre so wenige Päpste verstanden haben. Engelsburg, Castel Sant' Angelo, so wurde das Mausoleum Hadrians fortan genannt. Die Kapelle des Erzengels bestand dort oben schon im siebenten Jahrhundert. Im Beginne des achten scheint die berühmte Diakonie S. Angelo in Pescaria in den Trümmern des Portikus der Oktavia entstanden zu sein, welche noch heute einem Stadtviertel Roms den Namen gibt. Sodann ward im neunten Jahrhundert S. Michele in Sassia im vatikanischen Borgo gebaut, eine Kirche der Sachsen, in deren Lande demnach S. Michael schon verehrt wurde. Auf der Kirchenversammlung zu Mainz im Jahre 813 ward der S. Michaelstag bereits als christlicher Feiertag anerkannt.

Noch im 16. Jahrhundert entstand in Rom die herrliche Engelkirche S. Maria degli Angeli in den Thermen Diocletians: sie ist das letzte Werk des unsterblichen Künstlers, welcher den Namen des Erzengels trug, wie auch sein berühmter Zeitgenosse, der große Architekt Veronas Michele Sammichele, den Namen desselben Engels getragen hat. Von dem zweiten Erzengel aber nannte sich der größte Maler überhaupt. Raffael hat den Drachentöter S. Michael gemalt; das berühmte Bild ist im Louvre.

Auch in vielen andern Städten errichtete man Michael-Kirchen; die älteste von diesen war vielleicht San Michele in Affrisco zu Ravenna, deren Bau in das sechste Jahrhundert fällt; sodann S. Michele in Pavia, wo die Könige Berengar und Adalbert und später Barbarossa mit der lombardischen Krone gekrönt wurden. Unterdes hatte der Erzengel bis nach dem fernen Westen Galliens seinen Flug genommen. Eines Tags weckte er den Bischof Aubert von Avranches vom Schlaf und befahl ihm zu seiner, des Engels, Ehren eine Kapelle zu bauen hoch auf dem Felsen am Meer, wo das uralte gallische Druidenheiligtum Tumba lag. Der Bischof zauderte wie Laurentius in Sipontum, und wie diesem erschien auch ihm Sankt Michael zum andernmal, wobei er seine Stirn berührte, so daß ein schmerzvolles Zeichen darauf zurückblieb. Aubert baute hierauf die geforderte Kapelle und weihte sie im Jahre 710, indem er daselbst Benediktiner ansiedelte. So entstand das weltberühmte Heiligtum Mont Saint-Michel, der Garganus der Normandie.


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