Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Die Szene wechselte hier. Ein Nebel kam über den Vesuv gezogen, und ein heftiger Wind jagte sein Gewölk durch Schluchten und Felswände über den Aschenkegel fort – ein prachtvoller Luftkampf, der dem wüsten Schauplatz neues Leben und neuen Reiz verlieh, wenn durch die flatternden Gespinste dunkle Felszacken, Lavablöcke und Krater hervorgrauten. Der Nebel teilte sich bald, und vor unseren Füßen lagen wieder Neapel, der Golf, Capri, Ischia, Misen, und rechts hin die campanische Ebene.

«Voilà la Cléopâtre!» Dieser seltsame Ruf weckte mich aus allen Betrachtungen. Es war der 67jährige französische Naturforscher, der ihn wiederholt ausstieß und fortsprang, die Kleopatra zu fangen, der neue und doch so alte Antonius. Die Neigungen der Menschen sind seltsam. Der liebenswürdige Greis, vom heitersten Temperament und von unermüdlicher Kraft, würdigte weder den Vesuv noch die Landschaft eines Blicks – er hatte nur Augen für die kleinen Schmetterlinge.

Wir waren auf dem steilen Rande der Somma nicht ohne Gefahr hinuntergestiegen, und nach einem mühsamen Weg über Asche und Lavageschiebe aus dem Jahre 1850, die nun in ihrer Erstarrung einem schwarzen Sturzacker gleichsehen, gelangten wie sehr ermüdet zu dem Eremiten. Die kleine Einsiedelei liegt nahe am Observatorium, einem zierlichen Gebäude von weithin herrschender Lage. Zweihundertjährige Linden umgeben sie, und ihre vom Vulkan unversehrte Kraft belehrte uns, daß dieser Punkt besonders geschützt sei. Es fällt nämlich der Aschen- und Steinregen in einer Parabole über die Einsiedelei hinweg, und der Hügel, auf welchem das Kirchlein steht, wird von dem Vesuv durch eine tiefe Austalung geschieden, also vor jedem Lavastrom geschützt. Außerdem zeigte uns ein schwarzes Schild mit gelben Buchstaben, daß das Ganze in die Magdeburger Feuerversicherungsgesellschaft eingekauft sei. Am Herde des Vulkans und in unmittelbarer Nähe seiner furchtbaren Verwüstungen ein Magdeburger Feuerversicherungspatent – das ist gewiß im höchsten Maße ergötzlich.

In früheren Jahren wohnte ein wirklicher Eremit an dem Kirchlein San Salvadore; der Pfarrer von Resina hat ihn aus der einträglichen Stelle verjagt und kommt nun selber von Zeit zu Zeit hinauf, dort Messe zu lesen und die Gäste mit Lacrimae Christi zu bewirten. Die kleine Gemeinde besteht aus einigen Kolonen, die am Fuße des Vesuvs sich angesiedelt haben, ferner aus der Bewohnerschaft des Observatoriums und der Gendarmenwache. Zur Pfingstzeit wird hier ein Fest gefeiert; dann kommen von den umliegenden Städten wohl 12 000 Menschen herauf und ziehen in Prozession von San Salvadore bis zum Kreuz am Fuße des Vesuvs, um mit Gebeten den Feuerdämon zu beschwichtigen. Nun ruht der Berg seit 1850, und auch damals war seine Verheerung nicht groß, der Lavastrom floß gegen Ottajano in ziemlicher Breite, verwüstete die Gärten des Fürsten dieses Namens und zerstörte das Kloster der heiligen Teresa wie einige Wohnungen.

Nach einem trefflichen Mahl beim Pfarrer Don Michele, der uns obenein die liberalste Rechnung machte, weil er unsern Freund B. persönlich kannte, stiegen wir über die Lavaströme nach Resina hinunter. Dieses schwarze, endlose Lavafeld gewährt einen trostlosen Anblick. Aber auch hier ist der Mensch in seiner alles bewältigenden Industrie bewundernswert; denn kaum ist der Lavastrom erkaltet, so macht er sich daran, ihn zu benutzen. Selbst im Observatorium fand ich die bizarrsten Grotten und Gartenumzäunungen von Lava, und in der Einsiedelei hatten wir unsern Kaffee auf einem zierlich gearbeiteten Tische von Lava getrunken. Man meißelt selbst Büsten aus diesem Material; wie gut es nach Politur sich ausnimmt, sollte ich erst in Catania erfahren, wo die Mannigfaltigkeit der Ätnalaven und ihre schöne Färbung mich in Erstaunen setzte.

Wir stiegen nach Resina nieder. Scharf grenzt hier die Lavawüste an die üppigste Rebenvegetation, und unmittelbar in der Asche selbst entwickelt der Granatbaum seine Blüten, welche so brennend rot sind, als wären sie Blumen gediegenen Feuers. –

Die Fahrt war so heiter und lohnend gewesen, daß wir beschlossen, bald eine ähnliche zu unternehmen, und so rollte mit uns wenige Tage darauf der Wagen von neuem über die Magdalenenbrücke nach dem Vesuv hinaus. Diesmal wollten wir seine Ansicht von der entgegengesetzten Seite genießen. Wir fuhren also nach den Lavaströmen von 1850, die sich über Bosco Trecase und Bosco Reale hinaus erstrecken. Zum erstenmal sah ich hier diese merkwürdigen Dörfer, die auf der gefährlichsten Stelle am Vesuv selber sich angesiedelt haben. Ihre Lage mitten unter dem schönsten Grün, welches die vulkanischen Mächte nähren, ist so idyllisch wie die der Ätnadörfer; aber noch mehr als diese haben sie ein so ganz orientalisches Ansehen. Klein und gewölbt wie die Häuser auf Capri, sind ihre Wohnungen aus der schwarzen Lava gebaut, und selbst die Türme der Kirche bestehen aus diesem düstern Material. Das Volk sieht wild, scheu und ärmlich aus – nirgends ein schönes Antlitz. Wir waren in einer Schenke in Bosco Reale abgestiegen, um von dort aus unsere Wanderung nach dem Lavafelde fortzusetzen. Vergebens fragten wir nach Früchten; unsere Begierde nach ihnen wurde durch die Unmöglichkeit sie aufzutreiben gesteigert. Da bemerkten wir plötzlich, daß ein Pferd neben unserm Tisch aus einem Eimer mit größter Seelenruhe Johannisbrotfrüchte fraß. Es gab nun eine wunderliche Szene, da wir alle über den Eimer herfielen und das schmackhafte Pferdefutter mit verzehren halfen. Hier erfuhr ich's handgreiflich, daß man in Neapel die Pferde mit Johannisbrot füttert.

Wir besuchten die Lavaströme. Scharf haben sie in die Weingärten hineingeschnitten, so daß unmittelbar an der Lava vieljährige Ulmenbäume stehen, um welche die Rebe ihre Girlanden schlingt. Um so grauenhafter erscheint durch den Kontrast des heitersten Lebens der Natur die schreckliche Verwüstung. Ich sah auch die Trümmer vom Palast des Duca di Miranda in der Lava und Spuren anderer verheerter Wohnungen. Immer gleich prächtig zeigte sich auch von dieser Seite der Aschenkegel.

So war ich denn genugsam in die Mysterien des Vulkans eingeweiht, um nun endlich auch seinen Krater zu ersteigen. Ich hatte mir oft erzählen lassen, daß dieses Anklimmen auf den Aschenkegel ermüdender sei als die Besteigung des Ätna. Nachdem ich beide Mühsale genossen habe, darf ich sagen, daß mir das Erklettern des Vesuvs wie ein Spaziergang vorkommt gegen die ungeheure Anstrengung, welche der Ätnakegel kostet, zumal in so verdünnter Luft und bei so starken Gasausströmungen des heißen und schwankenden Bodens. Ja, wenn man durch jene phlegräischen Wüsten des Ätna, die nimmer zu enden scheinen, und über jene gigantischen Lavafelder stundenlang geritten ist, will dieser städte- und volkverschlingende Vesuv sich zu einem artigen Feuerspielzeug für die Neapolitaner verkleinern. Indes gewährt sein Krater doch ein gedrängteres und lebhafteres, farbenglühenderes Gemälde der Hölle, als ich auf dem Ätna sah.

 

Man hatte mich in Neapel auf das Fest des heiligen Paulinus in Nola aufmerksam gemacht, als auf eine höchst merkwürdige Erscheinung. Ganz Campanien, so sagte man, ströme dort zusammen, und es gebe ein Schauspiel, das seinesgleichen nicht mehr habe. Ich machte mich also am 26. Juni dorthin auf, neugierig, Nola kennenzulernen, welches so manche Erinnerung darbietet: Marcellus hatte einst vor den Toren Nolas dem großen Hannibal die erste Niederlage beigebracht, der Kaiser Augustus war hier gestorben, Tiberius hatte hier seine Herrschaft angetreten. Wer wüßte ferner nicht, welche unerschöpfliche Fundgrube herrlicher Vasen Nola geworden ist; die schönsten, welche das Bourbonische Museum besitzt, hat man hier, in Ruvo und in Santa Agata dei Goti gefunden, und wer sie gesehen hat, wird sich mit Vergnügen jener großen nolanischen Vase erinnern, welche in einer figurenreichen Komposition die Zerstörung Trojas darstellt. Endlich müssen wir auch der Erfindung der Glocken gedenken, deren sich diese campanische Stadt rühmt; und auch der heilige Paulinus, einst ihr Bischof, ein trefflicher Poet und gelehrter Kirchenvater, ist ein gar nicht zu verachtender Stolz Nolas. Saverino de Rinaldis hat ihn in einem lateinischen Epos besungen. Dies Gedicht ist dem Virgil nachgeahmt und heißt die Paolineide. Ich kaufte es eines Tages im Hafen zu Neapel, wo es mir bei einem Straßenbuchhändler in die Hände fiel; aber obwohl mich das wunderliche Fest des Heiligen genung für ihn interessiert hatte, brachte ich es doch nicht über mich, das Gedicht auszulesen. So viel wollen wir uns merken, daß der berühmte Mann im Jahre 351 in der heutigen Gascogne geboren war, daß sein Vater, Präfekt von Gallien, sich noch zum Heidentum bekannte und auch der Sohn darin aufwuchs. In Bordò zum Christentum Übergetreten, wurde Paulinus bald sein eifrigster Anhänger. Er hatte den Konsulat erlangt und war zum Verwalter der Provinz Campanien ernannt worden. Hier verlegte er seinen Sitz von der Hauptstadt Capua nach Nola, aus keinem andern Grunde, als weil der heilige Bischof Felix dort begraben lag und durch seine Wunder alle Welt herbeizog. Er entsagte dem weltlichen Leben; seine innern Neigungen und unglücklichen Erfahrungen trieben ihn zum geistlichen Stande; war er doch einst des Brudermordes öffentlich angeklagt gewesen und nur durch die Dazwischenkunft seines Lehrers Felix von der fürchterlichen Anklage gereinigt worden. Paulinus wurde Geistlicher; sein Genie als Dichter und Kirchenschriftsteller brachte ihm Ansehen, sein heiliger Lebenswandel eine grenzenlose Verehrung. Er wurde Nachfolger des heiligen Felix auf dem Bischofstuhle zu Nola. Als er im Jahr 431 gestorben war, begrub man ihn in der Kathedrale; später kam sein Körper nach Benevent und endlich in die Kirche des heiligen Bartholomäus in Rom. Was Paulinus im Gemüte des Volks lebendig erhält, sind weder sein Genie noch seine Wunder, sondern es ist eine gute Tat, die von ihm berichtet wird. Als er nämlich Bischof war, wurde der einzige Sohn einer nolanischen Witwe von den Vandalen in die Sklaverei nach Afrika weggeführt. Paulinus machte sich voll Christlicher Selbstaufopferung auf die Reise, den Sohn zu erlösen und an seiner Stelle das Joch der Knechtschaft zu tragen. Nach vollbrachter Tat kehrte er aus Libyen heim; die Nolaner aber zogen ihm festlich entgegen und führten ihn mit Musik und Tänzen und seltenen Festlichkeiten auf seinen Bischofssitz zurück. Das war geschehen am 26. Juni eines ungewissen Jahrs; das Andenken dieses Tags wird noch alljährlich in Nola gefeiert und versammelt eine große Menschenmenge, welche von den entlegensten Gegenden Campaniens heranzieht.

Ich begab mich am frühen Morgen auf die Eisenbahn. Die Fahrpreise waren auf ein Minimum herabgesetzt, der Zudrang groß, alle Straßen mit Wagen jeder Art bedeckt, welche auf dem Landwege nach Nola eilten. Eine und eine Viertelstunde lang fuhr der Zug durch das blühende Land, dessen unerschöpfliche Fülle ein ewiges Fest der Natur zu sein scheint. In Nola sah ich schon vor den Toren eine unabsehbare Menschenflut sich gegen die Stadt ergießen. Ein Krammarkt war am Eingange aufgeschlagen, die alte Stadtmauer und ein daranstoßender Turm beklebt mit riesengroßen Bildern; da gab's im Turme selber die «gran Foca marina» zu sehen, und Musikanten wie Ausschreier machten über diesen Seehund einen schrecklichen Lärm von Trompetenstößen und Anpreisungen. Zugleich erscholl Geschrei von Schauspielern, die auf einem Brett stehend zu ihren Künsten einluden. Nicht zu sagen ist die bunte Menge von Waren, die in den Buden ausgerufen wurden, noch der Lärm der in die Stadt Strömenden, noch die Grellheit der Farben, die sich hier in Tüchern und Kleidern und den zahllosen Fähnchen zusammenfanden, welche man in Händen schwang.

Kaum war ich in die wimmelnde Stadt eingetreten, als mich ein nie gesehener Anblick verwirrte. Rauschende Musik drang aus einer Seitenstraße, ein sonderbares Ungetüm kam dahergewandelt, dessen Erscheinung mich aus Campanien geradezu nach Indien versetzte. Ich sah einen hohen, grell mit Gold, Silber und Rot überkleideten Turm von Lastträgern herbeitragen; er war fünf Stockwerke hoch, aus Säulen aufgebaut, mit Frontispizen, Friesen, Nischen, Bogen, Figuren geschmückt, zu beiden Seiten mit bunten Fähnchen besteckt, mit Goldpapier, roten Decken und jeglichen Farben überzogen. Die Säulen metallglänzend rot, die Nischen goldgrundig mit den ausschweifendsten Arabesken verziert; die Figuren, Genien, Engel, Heilige, Ritter, in buntesten Kostümen; sie standen stockwerkweise übereinander, hielten Füllhörner in den Händen oder Blumenbüsche, Girlanden oder Fahnen, Alles rauschte, knitterte, flatterte in der Luft, da der Turm selber auf den Schultern von etwa dreißig Lastträgern hin und her schwankte. Es saßen in seinem untersten Stockwerk blumenbekränzte Mädchen, mitten inne ein Chor von Musikanten, mit Trompeten, Pauken, Triangeln, Zinken eine sinnverwirrende Musik erhebend.

So bewegte sich dieser Turm langsam weiter, über die Häuser der Straße wegragend und oben auf der Spitze einen sonnenstrahlenden Heiligen gen Himmel haltend; nun hörte ich auch von einer andern Seite her schallende Musik und sah über den Häusern weg hie und da noch einen, und wieder einen, und immer wieder mehrere solcher Wandeltürme hervorragen. «Mein Gott», fragte ich einen neben mir stehenden Mann, «was ist denn dieses?» Er antwortete mir in einer unverständlichen Sprache, von der ich nichts begriff als die Worte «guglia di San Paolino». «Ihr müßt wissen», bemerkte hierauf ein Neapolitaner, welcher sich zu mir wandte, «daß dies die Festobelisken für den Heiligen sind; denn als er aus der Barbarei nach Nola zurückkehrte, gingen ihm die Bürger dieser Stadt tanzend entgegen und trugen ebensolche Obelisken vor sich her. Da könnt Ihr auch die andern sehen, sie alle ziehen nach der Kathedrale, um zu tanzen.»


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