Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Das Kap der Circe

1873

Von Terracina aus, wo ich die Ostern zubrachte, wollte ich nach dem Kap der Circe hinüber, wenn auch nur zu einem flüchtigen Besuch. Es liegt drei Stunden von dieser Stadt entfernt, obwohl die Durchsichtigkeit der Luft es weit näher erscheinen läßt. Wie an einem Bande scheint das herrlich geformte Vorgebirge an der langen Düne zu schweben, und dies läßt überall einen Strandsaum frei, auf welchem man wie über einen Teppich von Samt fortschreiten kann.

Es lockte mich sehr dies zu tun und zu Fuße nach dem Kap zu gehen. Aber Fischer in Terracina beredeten mich, diesen Plan zu ihren Gunsten aufzugeben, und dies tat ich nur aus dem Grunde, weil ich nicht darüber gewiß war, daß der Strand von Büffelherden wirklich und an allen Stellen frei sei.

Diese Fischer waren eben über einen seltenen Fang erfreut: sie standen am Ufer mit anderm Volk, und alle folgten sie mit den Blicken einem Gegenstande, der sich von Weile zu Weile aus dem Wasser erhob und augenscheinlich mit einem Seile zusammenhing, welches an einem Pflock befestigt war. Es war eine gewaltige Meerschildkröte, die sich in den Maschen des Netzes verfangen hatte. Das arme Tier war mit einem eisernen Hacken tief verwundet worden, dann hatte man es, einem Pferde gleich, an einem Bein mit dem Strick umbunden und so an dem Pfahle festgemacht. Nun strebte es gewaltsam sich loszureißen, und pausenweise hob es Kopf, Hals und einen Teil seiner dunkelroten Schale empor, um Luft zu schöpfen. So ließ man es die Nacht über in seiner Qual, und noch am Morgen sah ich diese Tartaruga an demselben Ort, als ich in die Barke stieg, um nach dem Kap zu fahren.

Vier kräftige Ruderer befanden sich in ihr und ein Diener des Gasthauses, den ich mit mir nahm, weil er in dem Ort San Felice auf dem Vorgebirge gelebt hatte und daselbst mein Führer sein konnte. Die Barke faßte nur sechs Mann.

Es war 4 Uhr in der Morgenfrühe, als wir einstiegen. Der helle Mond stand am westlichen Himmel und warf noch, mit dem Nachtgrauen kämpfend, einen breiten goldenen Schimmer über die leise bewegte See. Dichte Nebel lagerten ostwärts über den Maremmen von Fundi und verhüllten den Felsen Sperlonga wie die Vorgebirge von Gaeta und Mondragone. Auch das Circekap trug noch einen Schleier, aus welchem nur die höchsten Zacken hervorragten.

Nur wer zwischen Mondesuntergang und Sonnenaufgang auf See gefahren ist, empfand, was die «heilige Frühe» ist, dieses ahnungsvolle Werden eines neuen Lebenstages. Wie der Urhauch der Schöpfung ist dieser tief ausströmende Meeresodem aus dem quellenden, endlos flutenden Element. Warum erweckt in uns das Meer, ja nur sein Anblick in der Ferne, oder nur das Rauschen seiner Welle, die sich in rhythmischen Zügen am Strande bricht, eine so tiefe Sehnsucht, wie sie auch die erhabenste Alpennatur nicht erregen kann? Vielleicht, weil da dieses unser kleines Ich, die persönliche Notwendigkeit, das in einem Punkt zusammengepreßte Bewußtsein der Natur, unmittelbar mit dem Unendlichen und Ewigen sich berührt, was nicht Geschichte und Zeit, nicht Grenze und Gestalt hat.

So fuhren wir in der frischen, belebenden Morgenluft schnell dahin, «von Wind und Ruder sanft geleitet», und immer deutlicher entfalteten sich das dunkle Kap, der weiße Ort auf seinem Vorberge und ein grauer Turm zu seinen Füßen am Meer. Nun aber will ich, ehe wir an jenem Wachtturm landen, ein paar Worte über die Geschichte dieses Mons Circeus oder Monte Circello sagen.

Seit alten Zeiten wurde der Ort der Circesage auf das schöne Vorgebirge verlegt, welches in seiner fast inselartigen Abgeschlossenheit, mit seinen dichten Waldungen, seinen von balsamischen Kräutern erfüllten Abhängen auf der Landseite und seinen Tropfsteingrotten am Meer, ein wenigsten nicht unpassendes Lokal für das Zaubermärchen antiker Seefahrer darbot. Der Mons Circeus war in vorhistorischen Zeiten offenbar eine Insel, wie es heute die ihm naheliegenden Ponzaeilande sind, und wie es einst auch der Soracte gewesen ist. Erst allmählich, aber sicherlich schon unvordenklich lange vor den odysseischen Zeiten, verband sich diese Insel mit dem Land und wurde zum Kap. Die alten Geographen berichten, daß auf ihm eine Stadt lag mit dem Circetempel und dem Altar der Minerva, und daß man dort den Becher der Circe zeigte, aus welchem Odysseus getrunken habe. Auch der Grabhügel Elpenors mit daraus entsproßten Myrten wurde den Besuchern gezeigt.

Die Stadt Circeji oder Circeum war volskisch wie Anxur, das heutige Terracina. Die Römer eroberten sie und verpflanzten in sie eine Kolonie. Sie konnte niemals groß und mächtig sein, aber sie war durch ihre Lage eine der schönsten Festungen und zugleich ein reizender Aufenthalt. Lukull legte am Fuße des Kaps seine Fischereien an und baute sich eine Villa, und Lepidus wohnte in Circeji, als er vom Triumvirat zurücktreten mußte.

Die antike Stadt ging in ungewisser Zeit unter, vielleicht wurde sie von den Goten zerstört. Auf ihren Trümmern entstand der heutige Ort San Felice, dessen Kern wohl ursprünglich die alte Burg mit ihren mächtigen Zyklopenmauern sein mochte. Denn diese «Arx Circaea» oder «Rocca Circeji» wird in Urkunden und Geschichten des Mittelalters öfter genannt, und erst später erscheint der Name San Felice. Es gab in diesem Ort noch im achten Jahrhundert einen Bischof. Die Circeburg galt als die festeste der ganzen pontinischen Maritima. Um ihren Besitz stritten daher die Gemeinde Terracina, die Grafen von Gaeta und die Fundi, während sie die Päpste als Oberherren beanspruchten.

Im Anfange des 12. Jahrhunderts, wo die Normannenherzöge Süditalien beherrschten, bemächtigten sie sich auch der Circeburg, doch nur vorübergehend, denn die Päpste hüteten mit Eifersucht die Rechte der Kirche auf die Grenzstadt Terracina und das von dieser abhängige Kap. Am Ende desselben Jahrhunderts wurden die römischen Frangipani, welche Astura, und viele andere Ländereien am lateinischen Meer besaßen, Herren der Circeburg, welchen sie der Gemeinde Terracina zu entreißen wußten. Sie besaßen die «Rocca Circeji» lange Zeit. Oddo und Robert Frangipani verliehen sie an Roland Guidonis de Leculo, von welchem sie Innocenz III. an die Kirche zurücknahm.

In der Mitte des 13. Jahrhunderts erscheinen hierauf die Tempelherren als Besitzer dieses Vorgebirges, wo noch immer die Sage von dem Sonnenkind Circe fortlebte, und wo man einst die Schale des Odysseus gezeigt hatte, den Gral dieses antiken Zauberberges. Eine Urkunde vom 3. Mai 1259 besagt: daß Petrus Fernandi, Ordensmeister der Templer in Italien, aus Vollmacht des Meistergenerals Thomas Berardi «den Ort Sancti Felicis auf dem Mont Circego, welcher dem Orden durch Rechtstitel zugehöre», mit Genehmigung des römischen Ordenshauses der Templer auf dem Aventin (des heutigen Priorats von Malta) in Tausch gab an den Vizekanzler Jordan für das Casale Piliocta (heute Cechignola an der Via Ardeatina). Dies war derselbe Kardinal Jordan, der als Rektor der Campania und Maritima neun Jahre später mit Kriegsvolk vor Astura erschien, um im Namen der Kirche die Auslieferung Konradins von den Frangipani zu verlangen, was er, wie bekannt, zum Unglück des letzten Hohenstaufen nicht durchsetzen konnte.

Jordan war ein Edler von Terracina, aus dem mächtigen Haus der Peronti. Durch ihn mochte die Circeburg wieder an Terracina zurückgebracht sein oder in seiner Familie verbleiben, bis sie gegen das Ende des 13. Jahrhunderts an die römischen Anibaldi kam. Diese behielten das Kap bis zum Jahre 1301, wo es in den Besitz der Gaetani überging.

Die Macht dieses Hauses hatte eben Bonifacius VIII. begründet; sein Nepote Petrus besaß bereits die volskischen Städte Sermoneta und Norma und einen großen Teil des pontinischen, durch Viehzucht reichen Sumpflandes von Ninfa bis ans Meer. Diesem herrlichen Besitz, dessen sich seine Nachkommen noch heute erfreuen dürfen, gab Petrus Gaetani durch den Erwerb des Circekaps den Abschluß. Er kaufte dasselbe mit allen Ländereien, die zu ihm gehören und noch heute den Titel «Feudum von San Felice» tragen, sowie auch mit dem fischreichen See von Paola, von Richard Anibaldi, dem Herren des Turms der Milizen in Rom, um 2000 Goldfloren. Seither besaßen die Gaetani die Circeburg durch vierhundert Jahre. In dieser langen Zeit wurden sie nur einmal daraus vertrieben, und nur für zwei Jahre, als ihnen Alexander VI. alle ihre Kirchenlehn entriß und dem Sohne seiner Tochter Lucrezia schenkte, dem kleinen Rodrigo von Biseglia. Damals erhob er Sermoneta zum Herzogtum. Doch schon nach seinem Tode setzten sich die Gaetani wieder in den Besitz ihrer Güter. Da sie zugleich Grafen von Fundi waren, welches auf der andern Seite Terracinas und nur wenige Millien entfernt liegt, so bildete das feste Circeschloß den Grenzstein ihrer Herrschaft am lateinischen Meer. Vom Söller ihres Palastes in San Felice überblickten sie in dem Ringe dieses schönen Panoramas ihr eigenes ausgedehntes Landgebiet von Fundi bis gegen Astura, von den Zyklopensteinen Norbas bis zum pontinischen Strande.

Erst im Jahre 1713 veräußerten sie das Kap; der Herzog Michel Angelo Gaetani verkaufte es damals den Ruspoli in Rom, zugleich mit dem gaetanischen Palast am Corso, welcher seither Palast Ruspoli heißt.

Hierauf ging das Kap im Jahre 1718 an die Orsini über, als Mitgift der Donna Giacinta Ruspoli; weil sich aber die päpstliche Regierung den Rückerwerb dieses alten Kirchenlehns vorbehalten hatte, mußten es die Orsini schon im Jahre 1720 der apostolischen Kammer um 100 000 Skudi abtreten. Diese behielt es fortan achtundachtzig Jahre lang, bis sie dasselbe im Jahre 1808 an den Fürsten Stanislaus Poniatowski verkaufte. So wurde ein polnischer Magnat, der letzte seines berühmten Hauses, Herr des Kaps der Circe und blieb es vierzehn Jahre lang. Die päpstliche Kammer erstand es von ihm wieder im Jahre 1822. Mit dem Fall des Kirchenstaats wurde es endlich eine italienische Staatsdomäne.

Dies ist die kleine Chronik des Mons Circeus, und darüber ist die Sonne hinter den Bergen Gaetas aufgegangen und der Mond verblaßt. Das Kap liegt jetzt vollkommen entschleiert vor uns. Die Morgensonne bescheint es mit einer fast nüchtern zu nennenden Klarheit, so daß all der magische Duft von ihm hinweggeweht ist.

Die wenigsten Dinge in der Welt vertragen zu große Annäherung, oder vielmehr das Verhältnis unserer Einbildungskraft zu ihnen verträgt sie nicht. Berge wie Menschen und ihre Taten, die Größe und der Ruhm, bedürfen meist einer Hülle von Luft und Licht, welche sie für die Phantasie geheimnisvoll macht und das kritische Bewußtsein ferne hält; sie werden oftmals minder groß und minder schön sein, wenn ihre Legende durch unmittelbare Nähe zerstört und das Medium der Illusion aufgehoben ist. Nicht grundlos ist das Bild der Isis in Schleier gehüllt.

Wie zauberhaft erscheint nicht den Blicken dieses Circekap, wenn man es von Astura, von den lateinischen oder volskischen Bergen, selbst noch von Terracina aus betrachtet, zumal im Abendglühen! Nun sah ich es vor mir, grau und grün von Farbe, und der Berg war wie mancher andere auch; was in der perspektivischen Weite als Inselgestalt sich darstellte, war dies nicht mehr, sondern es senkte sich jetzt in einen breiten Landrücken nieder und verzog sich in die pontinische Ebene. Die schönen Formen verschwanden; dichter Wald bedeckt das Kap bis zu den Gipfeln, während es von ferne gesehen aus nackten Felsmassen zu bestehen scheint, die von Lichtreflexen strahlen.

Ich landete am Wachtturm Vittoria, wo sich der Fuß des Vorgebirges in einen Strandsaum herabsenkt, ohne jedoch einen hafenähnlichen Landungsplatz zu haben. Es gibt daher keine Fischer und keine Barken am Kap. Der Turm ist ein viereckiger Bau und wohl von den Gaetani aufgeführt. Seine Besatzung ist wie die aller andern Strandtürme der Maritima seit dem Ende der päpstlichen Herrschaft eingezogen. Er dient jetzt den Doganabeamten zur Wohnung. Ein solcher kam auch sofort die hohe Treppe herab, die ihm bekannten Fischer zu begrüßen und ihren Fahrschein an sich zu nehmen.

Ich ließ die Barkarolen am Strande und stieg mit dem Führer nach San Felice hinauf. Die Lage dieses kleinen Orts und der schmale Weg, der zu ihm emporführt, erinnerten mich an Capri; doch hat das Kap sonst nichts oder nur wenig, was sich mit jenem Eiland vergleichen ließe. Nach einer Viertelstunde mühelosen Steigens über den von Myrten und Lentiscussträuchern bedeckten Abhang, an einigen Trümmern vorüber, erreichte ich den Ort, dessen Lage wahrhaft schön ist.


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