Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Das Ansehen, welches der Bambinello von Ara Celi in Rom genießt, ist sehr groß; es hängt mit einer Legende zusammen. Eines Tages, es war vor vielen Jahren, verliebte sich eine junge Engländerin in ihn bis zum Sterben. Täglich besuchte sie die Kirche, täglich wuchs ihre Sehnsucht, endlich beschloß sie, den Kleinen zu entführen. Sie verfertigte heimlich einen ähnlichen Bambino, einen Wechselbalg, trug ihn in die Kirche und vertauschte ihn mit der echten Puppe, welche sie mit sich nach Hause nahm. Aber in derselben Nacht fingen alle Glocken im Kloster und in der Kirche Ara Celi von selbst zu läuten an, die Mönche stürzten heraus und fanden den entführten Bambino mit gebogenem Knie an der Tür stehen, im Begriff, sie aufzustoßen, denn er hatte sich aus den Gemächern der Engländerin auf und davon gemacht. Dies ist die Legende vom Bambino in Ara Celi. Seitdem kam er in große Liebe, und oft genug kann man ihn in seiner Kutsche fahren sehen, wenn er Krankenbesuche macht. Auch in der jüngsten Revolution Roms spielte er eine Rolle. Das Volk hatte nämlich die Wagen der Kardinäle zertrümmert und verbrannt, es schleppte selbst den kostbaren Wagen des Papstes aus seinem Verschluß und wollte ihn vernichten. Aber gemäßigte Männer oder solche, die von den Priestern bearbeitet waren, erhoben sich dagegen. Sie wollten die Prachtkutsche des Papstes retten, sie machten also den Vorschlag, sie dem heiligen Bambino in Ara Celi zum Geschenk zu machen. Niemand unter den Republikanern wagte diesem Vorschlag zu widersprechen, und feierlich wurde der Bambino zum Eigentümer des Wagens erklärt. Zum Beweise, daß er wirklich davon Besitz ergriffen habe, fuhren ihn eines Tages die Mönche in dem Papstwagen öffentlich auf dem Corso spazieren.

Seht, die große Prozession setzt sich in Bewegung, sie holt den Bambino aus dem Schoß der Mutter Gottes, führt ihn durch die Kirche und auf die große Treppe, wo er dem Volk gezeigt wird, und dann kehrt sie zurück, um den Bambinello zu verschließen. Es sind prächtige Köpfe unter den Franziskanern in Ara Celi, Gesichter, die in der Kutte stecken, wie ein halb eingesunkener Grabstein von römischem Travertin in der Erde steckt mit verwischter Lapidarschrift; andere sind eherne Köpfe, Dickköpfe wie Claudius, und Fettgesichter gleich Nero.

Die Kinderpredigten sind zu Ende.

Rom: Piazza Navona

Rom: Piazza Navona

Wir aber gehen in das rezitierende Volksschauspiel, das Teatro Emiliani, das unterste von allen römischen Theatern für das Drama. Die dramatische Gesellschaft Emiliani hat, gleich der Marionettenbude auf der Montanara, ein passendes Lokal gewählt, nämlich die Piazza Navona. Auf diesem großartigen, schönsten Platze Roms, ehemals das Stadium Domitians, werden im August Volksfeste gefeiert, da man die Brunnen verstopft und den Platz unter Wasser setzt, worauf dann das Volk in Wagen umherfährt oder nach Vergnügen darin watet. Die Mitte des Platzes ziert der phantastische Springbrunnen Berninis, ein ausgehöhlter Felsen, auf dessen Ecken die Flußgötter Ganges, Nil, Donau und Rio de la Plata in kolossaler Größe liegen, während seine Spitze der Obelisk von Zirkus des Maxentius krönt. Zwei andere Springbrunnen sprudeln auf jeder Seite des Platzes. Um den Obelisk nun und zwischen den Brunnen, über die ganze Länge der Navona tummelt sich vom Morgen bis zum Abend das Volk; denn hier haben die Gemüsehändler, die Kastanienröster, die Fruchtverkäufer, Wirker, Strumpfer und Händler mit alten Eisenwaren ihre Posten, und der Mittelstand kauft hier seine Bedürfnisse ein. Die große Volksmenge zieht deshalb Scharlatane, Spielleute, Menageriebesitzer auf den Platz, und jener Trompeter dort sagt, daß man hier auch ein rezitierendes Schauspiel genießen könne. Er kommt von Zeit zu Zeit weit in den Markt hinein, stößt in die Trompete und ruft mit hallender Stimme: «Ai biglietti, ai biglietti!» Vor dem Theatergebäude, welches sich von den andern Häusern nur durch einen großen Theaterzettel unterscheidet, sitzen Verkäuferinnen von Pfefferkuchen und Kürbiskernen, welche in Haufen aufgeschichtet auf den Tischen liegen. Das Volk strömt nach der Kasse. Es ist der Mittelstand, der Handwerker und der Kleinbürger, die vermögend sind, 3 oder 5 Bajocci für einen Theaterabend auszugeben.

Das Haus hat ganz dieselbe räumliche Einrichtung wie jenes der Puppenkomödie, nur in etwas größerem Maßstabe. Auch hier ruft das Gebaren der Zuschauer im Parterre, welche die krächzende Musik mit Fußstampfen und Pfeifen zu begleiten pflegen oder mit den Händen auf den Banklehnen den Takt schlagen, bisweilen die Montanara ins Gedächtnis. Indes hier ist die Frauenwelt zahlreich vertreten, und nach löblicher italienischer Sitte überschreitet die Heiterkeit niemals die Grenzen des Schicklichen. Man kann Frauen auf den Bänken sitzen und geruhig ihre Kinder säugen sehen, während sie mit aller Lebendigkeit der Handlung auf der Bühne folgen.

Der Vorhang, mit einer Szene von Satyrn um den trunkenen Silen ausstaffiert, geht in die Höhe, und da wir nicht wissen, was heute gespielt wird, müssen wir es erraten. Es tritt ein alter Wucherer auf. Er gewinnt die Marketenderin eines Regiments, um deren Hand sich ein Kadett und ein Sergeant bewerben, zum Eheversprechen. Hierauf erscheint der Unteroffizier, die lustige Person; er betrinkt sich allmählich mit Aquavita. Wie er nun auf der Szene allein bleibt, kommt ein blasser Mensch von ziemlicher Leibeslänge mit Schnauz- und Knebelbart und in hohen Reitstiefeln herein. Beiseite sagt er, er sei gekommen, seine Soldaten zu beobachten, und das bringt uns auf den Gedanken, daß er, wenn nicht gar ein berühmter König, so doch mindestens ein großer Feldherr sein müsse. Indem er martialisch seinen Schnauzbart dreht und mit den Reitstiefeln umherpoltert, zieht er auffallend oft eine große Dose hervor, und fast unaufhörlich schnupft er Tabak, welcher bereits die Aufschläge seiner Montur bedeckt. Der rätselhafte Mensch gibt sich dem Sergeanten für einen verarmten Veteran aus und fragt ihn, was er mache, wenn er in Geldverlegenheit gekommen sei. Hierauf zeigt ihm jener im Vertrauen seine Säbelklinge; die eiserne habe er versetzt und sich dafür eine hölzerne einsetzen lassen. Unterdes kommt der Wucherer. Der Alte Fritz – denn kein anderer ist jener martialische Veteran mit Schnauz- und Knebelbart – verkauft ihm seine goldene Dose für den Spottpreis von einem Friedrichsdor.

Im folgenden Akt sitzt der betrunkene Sergeant eingeschlafen auf einem Stuhl: ein Tambour geht um ihn herum und erweckt ihn mit Trommelschlägen. Nun marschieren sechs päpstliche Jäger auf, welche den Wucherer arretieren; dann erscheint der Alte Fritz in königlicher Uniform mit demselben Schnauz- und Knebelbart, mit einem großen Dreimaster und ungeheuren gelben Rockaufschlägen. Der betrunkene Sergeant hat sich zwar in Reih und Glied gestellt, taumelt aber mehrmals auf den König, was vom Publikum mit großem Gelächter bemerkt wird, der Alte Fritz aber nicht zu beachten scheint. Indes verhängt er sowohl über den Wucherer als über den Sergeanten die gebührende Strafe. Jenem soll auf der Stelle der Kopf abgeschlagen werden, und zwar soll diese Exekution der Sergeant mit seinem eigenen Säbel vollziehen. Während nun der Wucherer nach vielen flehentlichen Gebärden sich in sein Schicksal ergeben hat und niedergekniet ist, den Todesstreich zu empfangen, hat auch der Sergeant nach vielem Sträuben sich in das Unvermeidliche gefügt. Er bringt das Schlachtopfer zuerst in die passende Lage, besieht dessen Hals und merkt sich die Stelle, in welche er einzuhauen hat, dann wirft er sich auf die Knie und bittet die Madonna um Beistand bei dieser schrecklichen Aktion. Sobald er zum Schlage ausholt, ruft er plötzlich aus: «Miracolo! Miracolo! Sehet, die Madonna hat meine Säbelklinge in Holz verwandelt!» Es folgt die großartige Verzeihung des Alten Fritz; doch muß der Wucherer zur gerechten Strafe das Regiment drei Tage lang auf seine Kosten verpflegen.

Der Alte Fritz wurde mit Ungestüm gerufen, erschien und bat in wohlgesetzter Rede das verehrungswürdige Publikum, zum nächstenmal wiederzukommen, wo man die Ehre haben würde, Artaxerxes, König von Persien, zu spielen, was denn mit großem Beifall aufgenommen wurde.

Dieses schöne Schauspiel lehrt, in wie mythischer Gestalt der große König im Gedächtnis des italienischen Volkes lebt, welches noch heute die Deutschen unterscheidet als Austriaci und Prussiani. Die Prussiani kennt es nur aus der Geschichte des Alten Fritz, von welchem gesagt wird, daß er ein zweiter Attila gewesen sei und die Austriaci bezwungen habe.

Die Schauspieler auf der Navona sind sehr mittelmäßig. Man findet wohl auf den kleinsten wandernden Bühnen Deutschlands nicht schlechtere, als hier agieren, und namentlich ist das Frauenpersonal ausgezeichnet durch Häßlichkeit.

Jede Vorstellung im Teatro Emiliani schließt entweder ein Ballett oder eine Pantomime und ein lebendes Bild, wie Abels Tod, Ahasver, die römische Virginia, Salvator Rosa unter den Banditen, und andere Darstellungen.

Eines Abends kündigte der Theaterzettel ein besonders vielversprechendes Stück an, dessen Name ist: «Ravanello spaventato da un morto parlante.» (Der durch einen redenden Toten erschreckte Ravanello.) Das mußte also eine außerordentliche Begebenheit sein und eine ergötzliche Vorstellung werden. Es war die Geschichte des Don Juan im volkstümlich romanischen Gewande. Wie im Spanischen, und wie auch sein eigentlicher Name lautet, heißt er hier Don Tenorio, der Leporello aber heißt Ravanello. Donna Anna, Den Octavio und der Kommendatore sind Figuren wie bei uns. In dieser volkstümlichen Fassung ist Don Juan keineswegs ein Faust der Sinnenlust, sondern schlechthin ein gottloser und frivoler Lebemann. Sein Charakter wird nur in einer Handlung entwickelt. Er tötet den alten Komtur aus Rache, nachdem er dessen Zimmer nachts erstiegen hat. Als er sich später auf dem Kirchhof findet, folgt dieselbe Szene der Einladung der zu Roß sitzenden Statue, wie sie in unserer Oper vorgestellt wird, nur fehlen die herkömmlichen Witze des Leporello.

Der Kommendatore erscheint zum Bankett. Er ist vorgestellt als weißer Mehlteufel in höchst grauenvoller Gestalt. Der erschreckte Don Juan ladet das Gespenst ein, Platz zu nehmen und sich zu bedienen. «Ich esse keine Speise», sagt der Geist. «Willst du Musik hören? « fragt Den Tenorio. «Ja», sagt der Geist. Nun spielt die Musik einige Minuten lang, während Don Tenorio und das Gespenst sich sprachlos gegenüberstehen. Diese Szene ist von einer tiefen Wirkung und, wie man erkennen wird, höchst sinnreich, da die Musik gleichsam als himmlische Macht, als die übersinnliche Stimme Gottes und die Posaune des Gerichts Don Tenorio in die Seele dringen soll. Sobald sie schweigt, ladet der Komtur Don Tenorio seinerseits zu sich, das heißt in das Totengewölbe zum Bankett, und da jener als echter Caballero diese Einladung nicht ausschlagen darf, sagt er zu, sein Gast zu sein.

Er geht also in die Totengruft, worin er sich allein befindet. Unter Särgen und Monumenten steht ein schwarzbedeckter Tisch, auf welchem man Teller und Flaschen sieht; das Gedeck ist mit Totenschädeln dekoriert. Plötzlich kündigen, wie in der ersten Geisterszene, laute Stöße unter dem Boden das Erscheinen des Gastgebers an, und die weiße Gestalt tritt, feierlich schreitend, auf. «Iß!» sagt der Geist. Der schaudernde Don Tenorio wendet sich hinweg. «Ich mag nicht essen», ruft er mit bebender Stimme. «Willst du Musik?» – «Ja!» sagt Don Tenorio. Wieder eine wirksame Pause, da nur die Musik spielt. Die Musikanten, vier Hornbläser und ein Bassist, taten ihr möglichstes, um etwas ganz Infernalisches von Tönen zusammenzubringen, und so erkannte man deutlich die Wirkung der Szene auf die Gemüter der Zuhörer.

Sobald die Musik schwieg, begann der Geist seine Stimme zu erheben und nach Art eines Kapuzinermönchs eine eindringliche Ermahnungsrede an Don Tenorio zu richten, indem er ihn aufforderte, in sich zu gehen, das Heil seiner Seele zu bedenken und sich zu Gott zu wenden. Der aber verweigert die Bekehrung in kavaliermäßigem Trotz. Nun folgt der Handschlag, das Ergreifen und Festhalten der Hand Don Tenorios, und es öffnet sich Augenblicks eine Falltür, aus welcher schreckliche Flammen von Kolophonium hervorbrechen. Nicht so bald ersieht Don Tenorio diese Falltür, als er auf sie zuschreitet und mit der Tapferkeit des römischen Curtius sich mitten in das Kolophonium hineinstürzt.

In der letzten Szene sieht man die Hölle selbst mit bengalischen Flammen, oder den entsetzlichen weit aufgesperrten Höllenrachen. Jetzt stürzt Don Tenorio herein; halbnackt, an den Armen gefesselt und mit gesträubtem Haar, wälzt er sich am Boden, während ihn einige Kobolde von der höllischen Inquisition zwicken. In solcher Pein ruft der Verdammte: «Schon tausend Jahre schmachte ich hier, ist keine Rettung?» Hinter der Szene brüllen die Dämonen: «Keine! Keine!» Der Vorhang fällt.

Dies ist Don Juan in seiner volkstümlichen Behandlung; aller Nachdruck geht auf die moralische Wirkung, das Possenhafte verschwindet fast gänzlich, und der Ravanello ist eine ganz unbedeutende Figur geworden; denn die Färbung von Humor, welche das Stück anfangs zeigt, verliert sich schon in seiner Hälfte.

Wir sehen, daß dieses Teatro Emiliani ziemlich interessante Dinge von tragischem Kaliber vorzuführen imstande ist, und so wollen wir es uns nicht nehmen lassen, die erschütterndste Tragödie der italienischen Poesie auf ihm spielen zu sehen, nämlich «Francesca da Rimini».

Die weltberühmte Episode des Danteschen Gedichts hat sowohl Maler als auch Dichter zur Behandlung gereizt und dramatische Versuche veranlaßt, die sich alle als undramatisch erwiesen haben. Selbst Byron sagt in seinen Tagebüchern, daß er den Gedanken faßte, eine Tragödie «Francesca da Rimini» zu schreiben. Es ist zu bedauern, daß er es nicht getan hat; wenn er auch kein Bühnenstück geliefert hätte, so war er doch der Poet dazu, große Leidenschaften groß aufzufassen. Die Einfachheit der Handlung erschwert den dramatischen Fortschritt, sie fordert einen empfindenden Dichter, welcher die Sprache des Herzens versteht. Silvio Pellico ist der einzige, der ihr nahegekommen ist. Seine «Francesca da Rimini» hat eine gute innerliche Entscheidung bei sehr edel gefaßten Charakteren, wenn auch die dramatische Wirkung nicht groß ist. Das Stück ist in Italien klassisch und wird auf kleinen wie auf großen Bühnen gespielt. Hier in Rom spielten es in diesen Tagen zwei Theater nebeneinander, das Teatro della Valle als ernstes Trauerspiel, das Teatro Emiliani als Posse.

Sehen wir es also auf der Navona. Die Schauspieler tragieren es hier im römischen Dialekt, das ist in der platten Mundart von Trastevere. Es wird travestiert oder trasteveriert. Es ist, als gäbe man «Iphigenia» plattdeutsch oder den «Faust» in der niederländischen Übersetzung des Vleeschhauer. Bei uns wäre eine solche Karikatur des Tragischen unmöglich. Wo würde sich wohl eine noch so kleine Bühne finden, welche es wagen sollte, «Maria Stuart» als lachenerregende Travestie vor dem Volk zu spielen? Man travestiert bei uns die Tragödien nur durch schlechtes Spiel, nicht aber aus Absicht zu ergötzen.


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