Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Am 20. April 1814 nahm er von seiner Garde Abschied. Man mag es verzeihen, an Altes, Bekanntes zu erinnern. Ruft man sich doch gern das Bild eines außergewöhnlichen Menschen zurück, zumal in seinem Sturz. Denn an solchem Schauspiel erhebt sich die Seele zur weisern Betrachtung des Lebens und seiner ewigen Ordnung. Wenn kleine Menschen von der Höhe der Großen, worauf sie nicht ureigene Kraft, sondern nur die Schwachheit der Zeit stellte, stürzen, dann gibt es ein Ende mit Schrecken, doch kein tragisches. Vielleicht ist Napoleons Fall die größte Tragödie der Weltgeschichte.

Was sagte dieser Mann, als er von seinen Garden, das ist von seinem Kriegshandwerk, Abschied nahm? Seine Worte sind gemischt aus Unwahrheit und Wahrheit, aus Politik und Sentimentalität. Die ganze Abschiedsszene ist höchst charakteristisch, weil sie ganz theatralisch ist. Um die Figur Napoleons hängt überhaupt mehr Theaterpomp und Bühnengoldbrokat, als um die des Alexander und die des Pompejus. «Seid treu dem neuen Könige, welchen Frankreich sich gewählt hat», so sagte er zu den weinenden Garden; «verlaßt nicht unser teures, zu lange Zeit unglückliches Vaterland. Weint nicht um mein Los; ich werde immer glücklich sein, wenn ich weiß, daß ihr es seid. Ich hätte sterben können – nichts war leichter für mich; aber ich will ohne Aufhören dem Pfad der Ehre folgen. Noch habe ich zu schreiben, was wir getan haben. Ich kann euch nicht alle umarmen. Doch ich will euern General umarmen. Kommt, General... (er schließt den General Petit in die Arme). Man bringe mir den Adler... (er küßt den Adler). Teurer Adler! Möchten diese Küsse alle Braven im Herzen fühlen... Lebt wohl! meine Kinder... meine Wünsche werden euch immer begleiten... Bewahrt mein Andenken.» Am 27. April langte er, in elender Verkleidung, den Mordanschlägen der Provence entronnen, in Fréjus an, zurücklaufend seines Glückes eigene Straße. Die er einst von Ägypten her als Triumphator durchflogen, hatte er jetzt durcheilt als Postillion, als Lakai gekleidet. Ein französisches und ein englisches Schiff lagen dort im Hafen bereit. Er wählte das englische. Am 3. Mai landete er in Porto Ferrajo; sieben Jahre später sollte er an demselben Tag auf einer fernen Insel im Ozean, deren Namen er kaum noch gehört hatte, sterben.

Es war sechs Uhr des Abends; ein südlich schöner Tag. Das Volk von Elba, seine Untertanen, stand auf dem Kai. Arme Menschen in schafwollenen Jacken, die phrygische Mütze in der Hand, erwarteten sie verdutzt, scheu und neugierig den großen Mann, welcher die Welt bezwungen und Länder und Kronen verschenkt hatte, wie andere Könige Ringe und Ordenskreuze verschenken, als ihren eigenen Herrscher, als Fürsten von Elba. Eine Musikbande spielte auf, wie zu einem Schäferspiel. Napoleon blieb mißmutig die Nacht auf dem Schiff. Wie muß er sich nicht beengt gefühlt haben in diesem umzirkelten Golf, welchen die Felsenberge gefangenhalten!

Als er das Ufer betrat, empfing ihn der französische Kommandant Dalesme. Ihm hatte er seine Ankunft gemeldet und geschrieben: «General, ich habe meine Rechte den Interessen des Vaterlandes geopfert und mir die Besitzung und Souveränität der Insel Elba vorbehalten; macht den Einwohnern bekannt, daß ich ihre Insel zu meinem Aufenthalt wählte, sagt ihnen, daß sie immer der Gegenstand meines lebhaftesten Interesses sein werden.» Elba fortan der Gegenstand seines lebhaftesten Interesses! Eine Felsscholle für die Welt!

Der Bürgermeister und die Ältesten von Porto Ferrajo stellten sich dar mit den Schlüsseln der Stadt. Der Kaiser empfing sie. Es war dieselbe Szene, die er so oft erlebt hat, vor Berlin, vor Wien, vor Dresden, vor Mailand, vor Madrid, vor Moskau – nur die Schauspieler waren andere geworden... ein armer stammelnder Bürgermeister von Porto Ferrajo, und ein paar Älteste des Städtchens.

Napoleon zog in das Haus des Gouverneurs, und dies eben ist jener kaiserliche Palast mit dem kleinen Kanonengarten und den kleinen Blumenstücken. Er fing ohne Säumen den Ausbau an. Ich sah in ihm einen schönen Speisesaal und etwa zehn bis zwölf wohnliche kleinere und größere Gemächer, welche gegenwärtig der Governator der Stadt und Festung bewohnt. Im Schlafzimmer Napoleons hängen Kupferstiche, welche Szenen aus Ägypten darstellen, und im Arbeitszimmer steht noch sein Schreibpult. Das war nun des Kaisers Tuilerienschloß, das Miniaturbild seiner Herrschaft, und im Verhältnis dazu stand auch sein Hof. Großmarschall des Palastes war Graf Bertrand; der Graf Cambronne, der Artilleriegeneral Drouot und andere bildeten den Hof, der im ganzen Haushalt 35 wohltitulierte Chargen zählte.

Wahrlich, der Aufenthalt in Elba glich der Villegiatur eines römischen Kaisers, der sich dem Zeremoniell des großen Hoflebens in der Hauptstadt entzieht und mit wenigen Vertrauten und Dienern Luft und Ruhe schöpfen geht nach Antium oder nach Bajä. Aber nein, diese Luft von Elba war für das Gefühl Napoleons vielleicht drückender als jene auf der Scholle von Sankt Helena, die er mit völliger Resignation betrat.

Man hatte ihm 700 Mann Garde zu Fuß und einige 80 Mann zu Pferde als Spielzeug überlassen. Nun denke man sich dieses Häuflein von Veteranen beisammen, wie Schiffbrüchige auf eine Insel verschlagen und dort am Strand gelagert. Wer zuhörte, was diese rauhen Männer, Franzosen, Korsen, Italiener, Polen miteinander redeten, konnte die wunderbarsten Dinge hören und Bilder der halben Erde an sich vorübergehen sehen, die Pyramiden, die fürchterlichen Eisfelder von Rußland, die Alpen, Leipzig, Marengo, die Sonne von Austerlitz, Eylau und was nicht alles – Namen wie Ney – oh, auch Ney, das schmerzt – Marmont – Bernadotte, das grimmt das alte Kriegerherz – – der falsche prächtige Murat! Was ward aus Murat? Oh, der ist drüben in Italien noch ein König! Wenn ein Schiff zwei, drei Tage läuft, so kann man ihm die Hand reichen. «Pazienza», sagt der Italiener – «Vive l'Empereur!» ruft der Franzose – «Noch ist Polen nicht verloren», sagt der Pole. Manches Mal wird exerziert, der Kaiser hat das Handwerk nicht verlernt. Brav wird mit den Kanonen gefeuert. Aber die Kanonen brummen doch nur in den Wind. Das ist eine schlechte Musik.

Man muß eine Unternehmung ausführen. Der Kaiser von Elba wollte sein neues Reich gleich in der ersten Zeit kennenlernen, und in Begleitung des englischen Botschafters Niel Campbell durchritt er die Insel. Man will wissen, daß er aus Furcht vor Meuchelmord ihn und Bewaffnete mit sich nahm. Er fürchtete besonders den Kommandanten von Korsika, Brulart, welcher ehemals Hauptmann der Chouans und Freund George Cadoudals gewesen war und jetzt wie zu Napoleons Hohn Korsika befehligte. In ein paar Tagen hatte der Kaiser sich überzeugt, daß sein Reich nicht groß sei; aber er faßte den Plan, zu bauen, Wege, Wasserleitungen, Verbesserungen anzubahnen. Er wollte Elba verschönern, wie Tiberius einst Capri verschönt hatte. Der unruhige Geist schmachtete nach Beschäftigung, und die Zeit mußte vertrieben werden.

Napoleon, auf dem kleinen Elba bauend und Wege in das Gestein bahnend, ist ein tief gedankenvoller Mann, welcher Figuren und Linien in den Sand zeichnet; er ist der Alte Fritz, nach der verlorenen Schlacht auf der Brunnenröhre sitzend und mit dem Stock so vor sich hin grabend.

Sein Blick fiel auf die Klippe Palmarola. Vierzig Garden schickte er aus, diese Insel zu nehmen, was ihnen niemand wehrte, da niemand darauf wohnte. Die alten Garden setzten einen Turm darauf, und so war das Reich vergrößert.

Auch jene kleine und öde Insel Pianosa, wohin einst Augustus seinen Enkel Agrippa Posthumus verbannte, welchen Tiberius bald darauf durch abgesandte Mörder erwürgen ließ, besetzte Napoleon und bewehrte sie mit einer Schanze, vielleicht angelockt durch jene alten Kaisernamen, oder durch das Los Agrippas, mit dem er sein eigenes vergleichen mochte.

Er baute Magazine, Kais, ein paar Pferdeställe, eine Wasserleitung, ein Lazarett, ja selbst das kleine Theater in Porto Ferrajo, wo er seine kaiserliche Loge hatte, so gut wie in Paris. Für sich selbst legte er in der Campagna eine Villa an. Rechts vom Golf führt eine von ihm gebaute Straße zu diesem Versailles von Elba. Dahin ging oder ritt der Kaiser gern und unterhielt sich oft mit den Landleuten, die des Weges kamen, ihre fruchtbeladenen Esel vor sich hertreibend. Das Tal, in welchem die Villa San Martino steht, und wo einst Scipio Nasica einen Palast gehabt haben soll, ist sehr reizend. Es liegt den grandiosen Bergen im Schoß, die sich nach der korsischen Seite zu erheben. Ein Bach schlängelt sich durch die grüne Tiefe; zu beiden Seiten üppige Fülle von Baumwuchs, viele Häuser im Grün zerstreut, und wohin das Auge blickt, ein reicher Weinsegen von blauen, schwellenden Trauben, als stände man auf der Campagna Felice von Neapel. Wer ein zufriedenes Herz hat, mag dort glücklich wohnen. Es gibt das ganze Jahr hindurch Rosen; die Lüfte sind mild und würzig, und wo sich das Tal gegen Porto Ferrajo öffnet, strahlt Golf und Meer dem Blick entgegen.

Die Villa gehört heute dem Fürsten Demidoff. Dieser russische Krösus baut sie zu einem Napoleonsmuseum um. Es soll prächtig werden, mit Hallen von Marmor und Feensälen, worin man sämtliche Taten des Kaisers an den Wänden al fresco sehen wird. Napoleon selbst, der die Orangenbäume um die Terrasse des Landhauses pflanzte, begnügte sich, den Speisesaal in ägyptischem Stil ausmalen zu lassen; überhaupt war ihm die Erinnerung an Ägypten, wie es scheint, die liebste seines Lebens, denn sie war das romantische Heldengedicht seiner Jugend. Heute hat Demidoff alle erdenklichen Reliquien, die sich auf Napoleons Geschichte beziehen, gesammelt, und er wird sie in den Zimmern von San Martino aufstellen. Eine lebendige Reliquie Napoleons, in deren Besitz der Principe gewesen ist, wird er aber in dieser Villa nicht aufstellen, weil er sie, wie man sagt, nicht wohl gehalten hat, ich meine seine frühere Gemahlin, Mathilde Bonaparte, Tochter des Exkönigs Jérôme, Reliquie von Westfalen.

Wenn die Reliquien alle aufgestellt sein werden, sagten mir die Arbeiter an der Villa, so wird der Fürst auf seine Kosten jeden Freitag ein Dampfschiff von Livorno nach Porto Ferrajo abgehen lassen, und dann wird die ganze Welt mitfahren, die schönen Sachen zu sehen. Jetzt aber darf niemand hinein, und das steht auf der Warnungstafel aufgeschrieben. Und so konnte ich das Innere der kleinen bescheidenen Villa nicht betreten.

Wie ich nach Porto Ferrajo heimkehrte, tröstete mich dafür der schöne Mondschein, welcher viele Dinge zu erzählen weiß. Ruinen, gleichwie Erinnerungen jeder Art, lassen sich am besten beim Mondschein betrachten und bedenken; der Zauber eines zweifelnden Lichts stimmt so wohl mit allem, was vergänglich ist.

Kann man Napoleon lieben? Wird nach tausend Jahren eine Menschenseele auf irgendeinem Schauplatz seines Lebens durch die Erinnerung an ihn zu Tränen der Wehmut gerührt werden? Ich weiß es nicht; ich glaube es nicht.

Es gibt einen großen Namen in der Geschichte, welcher zur Hälfte wie Napoleon klingt, er heißt Timoleon. Ich gestehe es, die Erinnerung an diesen Menschen preßte mir eine Träne der Liebe aus, als ich auf dem Theater von Syrakus an ihn zurückdachte. Wie würde sich Napoleon vor diesem Griechen gefürchtet haben, der ihn nach Korinth geschickt hätte, voll strenger Verachtung, wie den Tyrannen Dionys. Andere Zeiten, andere Größen. Napoleon schwärmte in der Jugend für diesen Helden des Plutarch; als er selbst Kaiser geworden war, schalt er den Tacitus grämlich und hielt er dem Tiberius eine Lobrede.

Man hat ihn so oft mit dem gefesselten Prometheus verglichen, daß dieses Bild schon eine abgebrauchte Phrase ist; aber es paßt doch ganz vortrefflich auf diesen verbannten Heros, der die Ketten von Elba zu zerreißen imstande war, bis ihn Kraft und Gewalt mit unauflöslichen Fesseln an die Klippe von Sankt Helena schmiedeten. Nach welchen Riesenkämpfen! Blücher und Wellington mußten dies Genie bezwingen, als Kraft und Gewalt gegen einen Halbgott losgelassen. Der Husarengeneral Blücher, in der Hand des Schicksals als Mittel gebraucht, Napoleon zu stürzen, oder sagen wir in niederer Redeweise zu «schlagen», denn was konnte ein so wackerer Mann wie Blücher anders, als tüchtig zuschlagen... das ist ein bitterer Hohn. Aber die Natur braucht die größten Kräfte, will sie etwas bilden und entwickeln, die geringsten, will sie vollenden und vernichten.

Napoleon mußten die Wochen, die ihm in Elba hinschlichen, wie Jahrwochen erscheinen. Er klagte oft bitterlich zu Campbell, und zumeist weil ihm Weib und Kind entrissen seien, ihm eine Gunst versagt sei, welche doch den Elendesten unter den Verbannten aus Menschlichkeit gewährt werde.

Seine Mutter kam im Sommer. Wie fand Lätitia Ramolino ihren Sohn wieder! Von der Höhe des Glücks war auch das eitle Mutterherz herabgestürzt, aber es brach nicht – das edlere Herz Josephinens war gebrochen, dreißig Tage nach Napoleons Fall, in Malmaison. Auch Pauline Borghese, seine Schwester, kam, einst die neue Helena der Welt, eine schöne Hetäre, zu deren Füßen gekrönte Herrscher lagen, jetzt auf der Campagna von Elba verschollen.

Viele Personen kamen und gingen geheimnisvoll. Die sieben Häfen der Insel waren noch nie so belebt gewesen. Während der neun Monate liefen 1200 Schiffe ein, und 800 Italiener und 600 Engländer waren angekommen, den Mann von Elba zu sehen, darunter viele Offiziere in italienischen, englischen, französischen Uniformen, bald von Marseille, von Korsika, bald von Genua oder Livorno, oder von Neapel, von Civita Vecchia und Piombino her. Mit allen unterhielt sich Napoleon geistreich und witzig, und ließ sich von jedem über die Zustände seines Landes oder den Kontinent Bericht erstatten.

Eines Tages kam eine fremde Dame mit einem kleinen Knaben nach Porto Ferrajo. Der Kaiser empfing sie mysteriös. In der Campagna ward sie einlogiert, und nach wenig Tagen war sie mit dem Knaben nach Italien hinweg, geheimnisvoll wie sie gekommen war. Man sprach allerlei, nur wenige wußten, wer die Erscheinung gewesen, aber sie hatte sich den Blicken nicht entziehen können. Man wird sich leicht vorstellen, daß Napoleon auf Elba in der Lage eines interessanten Mannes sich befand, der sich in einer kleinen Provinzialstadt aufhält, und von allen Augen verfolgt und von allen Zungen beredet wird. Jene fremde Dame war eine polnische Gräfin, der Knabe Napoleons Kind, die Frucht einer zarten Schäferstunde in dem rauhen Polen. Ich weiß nicht, wie es dem Kinde weiter erging, aber ich glaube, im Monat Dezember 1852 erschien dieser Knabe als offizieller Botschafter Frankreichs vor der Königin Victoria von England und zeigte ihr an, wie die Weltgeschichte trotz Elba und Sankt Helena wieder bonapartisch geworden sei, denn acht Millionen Franzosen hätten Ludwig Bonaparte, Sohn und Reliquie des Exkönigs von Holland, aus Rührung zum Kaiser Frankreichs ausgerufen.

Es ist ein Traum. Die Weltgeschichte träumt, wie der einzelne bisweilen von alten Liebschaften und von alten Schicksalen. Im Jahr 1852 träumte ihr von Napoleon.


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