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Vieles raubten die Engländer während ihrer dreijährigen Anwesenheit, und nur das Wenigste hat man nach Neapel für das Museum gerettet. Nirgends in der Welt, so scheint es, ging man mit Altertümern so liederlich um als in Neapel.
Erst die Ausgrabungen in Pompeji lenkten die Aufmerksamkeit der Archäologen auch auf Capri, der erste, welcher die Insel durchsuchte, war, soviel ich weiß, Luigi Giraldi von Ferrara im Jahre 1777, dann folgten ihm Hadrawa, und im Anfange dieses Jahrhunderts Romanelli, dann Giuseppe Maria Secondo und der Graf della Torre Rezzonico, welche alle Schriften über Capri veröffentlicht haben. Noch 1830 wurde Feola mit Ausgrabungen auf der Insel beauftragt und lebte daselbst längere Zeit. Man deckte also die Trümmer auf und fand an vielen Orten noch ziemlich erhaltene Gemächer und manches Kunstwerk aus der besten römischen Epoche. Aber weil der Insulaner den Boden brauchte, warf er die Ausgrabungen wieder zu, verwischte ihre Spuren und pflanzte über den Altertümern seine Gärten. Auch birgt an manchem Orte die Erde, was noch nicht ans Tageslicht gezogen ist. Viel Marmor sieht man im Pflaster der Wege Capris und in Ana-Capri auf der Ebene Damecuta. Auch findet sich hie und da eine Marmorplatte mit zerstörter Inschrift als Schwelle an Haustüren benutzt. Fundamente alter Gebäude aber gibt es viel, und wo man wandern mag, unterbricht Träumerei und Nachdenken irgendein antiker Überrest.
Nicht weit von San Costanzo stand eine der alten Villen des Tiberius hart am Meer. Hadrawa ließ sie im Jahre 1790 ausgraben, fand ihren größten Teil bereits verwüstet, aber doch noch immer ansehnliche Reste, darunter zwei schöne Säulen von Cipollino, zwei von Porta Santa, ein herrliches korinthisches Kapitäl, welches heute im Museum Neapels steht, zwei prächtige Fußböden, von denen einer an einen Engländer, der andere an die Gräfin Woronzow kam, endlich einen Altar der Cybele, welchen der Ritter Hamilton an das Britische Museum zu bringen wußte. Heut ist der Palast das Bild der wüstesten Zerstörung. Große Massen von Gemäuer sind ins Meer gestürzt, andere bedecken den Küstenabhang, doch erkennt man noch eine Reihe von Gemächern und einen gemauerten Halbzirkel, vielleicht einst der Tempel der Gottheit, welcher die Villa geweiht war. Eine zerbrochene Säule von orientalischem Granit ragt aus dem Schutt hervor.
Noch dürftiger sind die Reste der Villa, die einst jenen schönen Hügel Castello krönte, der sich hart über der Stadt am südlichen Ufer erhebt. Von der Seeseite zeigt er sich als schroffe Felsenwand, welche mittendurch eine Grotte zerreißt. Nach der Landseite zu umgeben ihn Weingärten, oben aber trägt er das am besten erhaltene Kastell Capris, ein kleines Fort mit krenelierten Mauern und Türmen, welches der Insel einen mittelalterlichen Charakter gibt. Dort grub Hadrawa im Jahre 1786 nach und entdeckte Bäder und Kammern in großer Zahl, doch schon verwüstet, und fand Fußböden, Bildsäulen, eine schöne Vase von weißem Marmor, ein Relief, das den Tiberius opfernd vorstellt, eine Gemme mit dem Bilde des Germanicus und andere Figuren von Marmor und Stuck. Man verschleuderte auch diese Gegenstände an Hamilton, an den Maler Tischbein, an den Fürsten Schwarzenberg, an unbekannte Russen und Engländer. Im Jahre 1791 schüttete man die Ausgrabungen wieder zu. Doch was sind alle Raritäten des Altertums gegen diesen Blick vom Hügel Castello in das Meer Siziliens, in den blauen Golf von Neapel und auf die majestätische Felsenbildung Ana-Capris. Auch die schroffsten Abstürze des südlichen Ufers übersieht man hier und jene drei hochragenden Klippen, welche Faraglioni heißen.
Dem Hügel zu Füßen liegt eine der märchenhaftesten Stellen des Eilands, die kleine Marina, ein schmaler Strand auf der südlichen Seite, in wüste Klippen eingebogen, deren schwarze Blöcke das Ufer bedecken und im Meer eine kleine Halbinsel bilden. Zwei Fischerhäuser sind dort wie Klausen ins Gestein gebaut, welches für ein paar Barken notdürftigen Schutz gewährt. Der Strand ist ein bizarres Spielwerk der Natur und der einzige auf der ganzen Südküste Capris. Wenn man dort sitzt, ist man ganz aus der Welt verloren. Der Golf von Neapel mit seinen Inseln, Küsten und Segeln ist entschwunden, und vor dem Blick dehnt sich die uferlose See aus, weit in die Ferne, wo Sikelia und Afrika beisammen liegen. Dort sitzt man und blickt in die endlosen Wasser und läßt Phantasieschiffchen nach Palermo und Cagliari und nach Karthago abschwimmen, eins nach dem andern. Wild und schauerlich ist alles umher, eine öde Felsenwüste, zu beiden Seiten gewaltige Höhlen hoch im Ufer selbst, zur Rechten das Kap Marcellino, eine kolossale braune Bergmasse, ins Meer hineingelagert, zur Linken gezackt und gezinnt wie ein Schloß das Kap Tragara, und neben ihm die seltsamen Klippenkegel Faraglioni, über hundert Fuß hohe, unersteigliche Riffe, welche mitten in den Meereswellen stehen gleich Pyramiden im See von Möris. Die eine ist wie von Menschenhand abgeglättet, die andere phantastisch ausgezackt. Ihr dunkler Schatten wallt auf der Flut und macht sie melancholisch, aber die Mitte der einen Klippe durchbricht eine Höhle in prächtiger Bogenform, so daß die Barke hindurchfahren kann. Auf ihren Spitzen schwanken im Seewind Zwergbäume und verwilderte Gräser, und es sitzt dort die Möwe oder umflattert sie, ihre junge Brut im Fluge übend.
Wenn du hier sitzest, so wird dir die Stelle aus dem «Gefesselten Prometheus» des Äschylus einfallen, wo er, an die Klippe geschmiedet, plötzlich den heranwitternden Flügelschlag der Okeaniden und ihren Chorgesang vernimmt. Ich habe den Seevögeln an jenen Klippen oft am Morgen zugehört, wenn sie in ihrer heiligen Frühe, da das Meer zu schimmern beginnt, von den Felsen stürzen, in die Wellen hineinjauchzend mit langen Flügelschlägen, oder am Abend, wenn es still wird, wo sie gern einsamlich auf den Faraglioni stehen und verlorene, harfenstimmige Laute ausstoßen, die man nicht hören kann, ohne in eine märchenhafte, elementarische Stimmung zu geraten. Denn der Gesang der Meervögel ist liedlos wie das Geräusch der Wellen und erweckt wie die vorschwebenden Akkorde der Äolsharfen eine unbestimmte Sehnsucht in die Ferne.
Es waren auf den Faraglioni, wie ich wohl weiß, auch Möwen zum Besuch aus der Insel Ustica und von der Grotte Alghero aus Sardinien; wenn ich nun noch zwanzig Jahre jünger gewesen wäre, so hätten sie mir den Gefallen getan, mich über Meer nach jener seltsamen Grotte zu tragen, oder in den schönen Orangenwald von Milis auf Sardinien, wo 500 000 Orangenbäume beisammen stehen und ihre Millionen Blüten und Goldfrüchte tragen, und die Nachtigallen alle diese Blüten und Goldfrüchte Tag und Nacht besingen. Dort hätten sie mich eines Morgens abgesetzt unter dem größten Orangenbaum Europas, der so groß ist wie eine Eiche, und unter welchem der Marchese Boyl seine Gäste zu Nektar und Ambrosia einladet.
Siehe da, ein Phantasieschiffchen, welches abgeschwommen ist!
Aber in Wahrheit, wer kann an der kleinen Marina in Capri liegen ohne solche Träumereien? Die Wildheit dieser Uferszenen und ihre Verlassenheit ist gar zu zauberhaft, und vollends im Mondlicht oder bei wogender See, wenn die Höhlen schlürfend Welle auf Welle hinunterziehen, oder in der Stille der Nacht, wenn um die Riffe und die dunklen Kaps Lichter aufblitzen, Fackeln der Fischer, die sterngleich und wie Meteore in den Wellen bald verschwinden, bald wieder aufglänzen, eins um das andere, das dritte und das vierte, und hier noch eins und dort am Kap wieder eins um das andere.
Man sieht die Fischer auf den weißen Kieseln des Strandes sitzen, ihre Netze ausbessernd, und mitten in dieser klippenstarren Öde hat ihre stille Geschäftigkeit etwas Seltsames. Sie scheinen geheimnisvoll, als wüßten sie wunderliche Dinge von der Tiefe und den Sirenen, die dort wohnen. Ein schroffer Fels über dem kleinen Strand heißt auch die Klippe der Sirenen. Die Phantasie des Volks wählt immer die passendsten Bezeichnungen für ein Lokal, und keins in Capri ist so sirenisch als dieses. Man kann hier stundenlang, wie vom Meeresduft betäubt, auf den Klippen liegen und das grüngoldene Wasser ansehen; das wogt und wallt unten, flimmert und atmet, saust voll Fittichen in stiller Luft, und unausgesetzt tönt das sommerliche Singen der Zikade, deren Lieder die Luft zu durchschillern scheinen wie fliegende Sonnenstäubchen und wie das Flimmern der Hitze um die Felsen. Luft, Licht und Duft durchdringen alle Sinne.
Zwischen den Faraglioni und der kleinen Marina wölbt sich über Kalksteinblöcken eine der geräumigsten Grotten dieser an Höhlenbildungen so überaus reichen Seeküste. Sie heißt «La grotta dell' arsenale». Das Wasser bedeckt sie nicht, sie ist eine Erdhöhle. An ihren Wänden klebt noch römisches Mauerwerk, und es zeigen sich auch Spuren von Kammern. Nun lehrt der Name der Höhle wohl richtig, das sie einst ein Vorratshaus für die Marine war, wenn nicht auch eine Schiffswerft für die Galeeren des Tiberius, denn sie ist hoch genug, und an ihrem Eingange sieht man auch manche Spur des Eisens, welches das Gestein bearbeitet hat. Der Ort heißt «L'unghia marina». Manche Reste alter Gemäuer zeigen sich hier, am steinigen Ufer wie auf der Höhe. Auch am Kap Tragara, um welches die Faraglioni und die Klippe Monacone im Wasser stehen, erblickt man antikes Gemäuer. Wohl befand sich hier zur Zeit des Tiberius ein kleiner Port. Vielleicht führte ein bedeckter Gang von der darüber gelegenen Villa des Berges Tuoro zu dem Hafen, wo für Fälle der Not gerüstete Galeeren lagen. Denn auch auf dieser Inselscholle schwebte der Tyrann in steter Furcht und hatte alle Anstalten getroffen, daß er zu jeder Zeit seewärts entfliehen konnte.
Man kann am Kap Tragara aus der Barke steigen und zum Hügel Tuoro grande hinaufklimmen. Da oben ist es schön wie auf jedem Gipfel Capris. Es sitzt aber dort über altem Gemäuer ein Telegraph. Fürwahr, es ist seltsam, daß fast auf jeder Bergspitze des Eremitenlandes ein Einsiedel wohnt, sei es ein Klausner oder ein Telegraphenwächter. Der vom Tuoro grande sitzt in einem weißen Häuschen. Sein Zimmer hat zwei kleine Fenster, in dem einen steckt ein Fernrohr und in dem andern auch eins. Nun sitzt der Telegraphos, ein ganz kleiner altertümlicher Mensch, dem vom vielen Gucken die Augen zwinkern, zwischen beiden Fenstern an einem Tisch vor einem großen Register; alle Augenblicke springt er an das Fenster links und guckt durch das Fernrohr, an das Fenster rechts und guckt auch da durch das Fernrohr, dann setzt er sich wieder mit philosophischer Seelenruhe an das Register, sitzt ein Weilchen und läuft wieder an die Fenster und vor die Fernrohre, und so geht es vom Morgen bis zum Abend fort. Sein Hund aber sitzt vor der Türe aufrecht und sieht ohne Ferngläser auch in das Meer. Dies verhält sich nun so. Oben über Ana-Capri sitzt der Telegraph auf dem Gipfel Solaro in seinem Hause und späht in das Meer von Sizilien, ob und welche «segelbeschwingte» Schiffe einlaufen. Sieht er nun etwas Merkwürdiges, so sendet er dem Telegraphen auf dem Berg Tuoro eine Botschaft; der schickt sie flugs weiter über die Meerenge von Capri zu dem Telegraphen von Massa, der über dem Vorgebirge der Minerva sitzt, ein Meereswächter schlummerlos; der wirft die luftige Kunde flügelschnell weiter nach Castellamare zum zeichenkundigen, luftpostdeutenden Späher; der aber schleudert die Botschaft machtvoll weiter nach dem Castel Sant Elmo oberhalb Neapel; der Späher nun von Sant Elmo befördert die Kunde in das königliche Schloß zu Neapolis. Und so fängt der auf dem Solaro an und ist der eigentliche Urheber von all dieser luftdurchwandernden Botenjagd. Als mir dies der Telegraph sehr deutlich auseinandergesetzt hatte, fiel mir sofort der Anfang des «Agamemnon» von Äschylus ein, wo der Wächter auf dem Atreusschloß nach dem Feuertelegraphen späht, welcher die Einnahme Iliums melden soll:
Θεοὺς μὲν αιτω̃ τω̃νδ' απαλλαγὴν πόνων
Die Götter fleh' ich an ums Ende meiner Müh'n |
– und ferner die Verse der Klytämnestra, welche in einer staunenswürdigen Malerei die wandernde Flammenpost beschreiben. Sie steigt auf vom Berge Ida, dann eilt sie zum hermischen Lemnosfelsen, der schickt die Flammenbotschaft auf das Athosgebirge des Zeus, das sendet den goldighellen Freudenstrahl wie eine Sonne auf die Warte von Makistos, und so weiter eilt der Feuerstrahl über die Wogen des Euripos, erweckt die Wächter von Mesapios, fliegt vorwärts über die Flur Asopos, fällt wie der Mondenstrahl auf den Felsen von Kithäron, sendet den Schein über den Gorgopissee, gelangt zum Gipfel Aigiplanktos, bis er dann über das Saronische Meer zum Felsen Arachnaios und endlich in die Burg der Atriden kommt.
Hätten nun die Griechen von Troja einen unterseeischen elektrischen Telegraphen gelegt, so wären wir um diese schöne Stelle im Äschylus gekommen, welche überhaupt eine der am meisten malerischen Schilderungen ist, die gedichtet worden sind.
Es war nun Abend geworden. Der Hochwächter vom Solaro gab plötzlich ein Zeichen, der vom Tuoro schickte es nach Massa. Ich fragte den fernspähenden Mann, was er gemeldet habe. «Heute nichts Neues», sagte er vergnügt und zwinkerte mit den Augen, dann packte er seine sieben Sachen zusammen, winkte seinem Hunde und stolperte den Berg hinunter. Er wohnt aber hoch oben in Ana-Capri, und jeden Abend muß er die 560 Stufen der Felsenstiege hinaufklettern. Des Morgens kommt er wieder 560 Stufen hinabgestiegen, und weil er nun schon seit zehn Jahren alle Tage bis auf einen Feiertag zu Ostern seine einsame Kunst betreibt, so kann man es mathematisch berechnen, daß dieser merkwürdige Mann schon hundertfache Cimborassohöhen erstiegen hat. Dreißig Groschen aber bekommt er täglich.
Außer diesem Äschyleischen Wächter habe ich gar keine Altertümer auf dem Berg Tuoro gefunden. Doch hat auch auf ihm eine Villa des Tiberius gestanden. Nun senkt sich zwischen dem Tuoro und dem Castello zum Meer das Tal Tragara, welches von Reben und Ölbäumen grünt. Auf seinem Rande steht der schönste mittelalterliche Bau der Insel, die Certosa, ein jetzt verlassenes Kloster. Es nimmt einen großen Raum ein; seine originelle Architektur, seine Arkaden, geschnörkelten Glockenstühle und Terrassen, und die Reihe gewölbter Dächer heben sich aus dem Grün und auf dem Hintergrunde des blauen Meeres so grotesk hervor, daß dieser Anblick zu dem Reizvollsten gehört, was die Insel besitzt. Das schlanke turmlose Schiff der Kirche ist zugleich das einzige Gebäude Capris, welches ein gotisches, mit roten Ziegeln gedecktes Dach hat. Tritt man in den Kreuzgang, so erfreut man sich an dem großen, von Arkaden umschlossenen Raum. Die Zellen nun gar, die kleineren Höfe und die verwilderten Gärten, welche die üppigste Vegetation bedeckt, machen dieses öde Kloster zu einem romantischen Labyrinth.
Die Certosa wurde im Jahre 1363 von einem edeln Capresen, Giacomo Arcucci, gegründet. Sein Weib war unfruchtbar geblieben wie Sara; er aber hatte ein Kloster zu bauen gelobt, wenn ihm der Himmel zu einem Sohn verhelfen würde. Eilig tat dies der Himmel und nahm den Mann beim Wort; da baute er ein Gotteshaus nach dem Plan jener herrlichen Certosa San Martino, welche auf dem Vomero Neapels steht. Mit der Zeit wurde dies Kloster reich, die besten Äcker Capris fielen ihm zu. Aber die Parthenopeische Republik hob dasselbe und noch zwei andere Klöster in Capri auf, und ihre Güter fielen an den Fiskus. Heute sind sie der Kathedrale von Ischia zugewiesen, und so erleidet die arme Bevölkerung Capris das große Unrecht, daß ihre besten Ländereien ihr entzogen sind, um die faule Priesterschaft einer fremden Insel zu nähren. Zur Zeit der englischen Besetzung Capris war das Kloster das Hauptquartier Hudson Lowes und auch unter der Herrschaft der Franzosen zu militärischen Zwecken eingerichtet; man baut es gegenwärtig zu einem Militärlazarett aus.