Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Mit dem Beginn der normannischen Herrschaft in Süditalien kam Capri in den Besitz des tapfern Roger von Sizilien, der die Insel den Amalfitanern entriß, und so wurde sie seither von den Normannen, den Hohenstaufen, den Anjous und Aragoniern besetzt und durch Kapitäne regiert.

Im Jahre 1806 entrissen sie die Engländer den Neapolitanern; sie besetzten sie im Namen des Königs Ferdinand von Sizilien, befestigten sie stärker und gaben ihr zum Kommandanten jenen Hudson Lowe, welcher später als Kerkermeister Napoleons in Sankt Helena unsterblich werden sollte. Fast drei Jahre behaupteten die Engländer Capri, bis die Muratisten durch einen kühnen Handstreich sich des Eilands bemächtigten. Es war der Geschichtschreiber Coletta, damals Ingenieur unter Murat, welcher Capri zuvor auskundschaftete und die Stelle bezeichnete, wo das Felsenufer könnte erstiegen werden. Am 4. Oktober 1808 wurde die Insel nach heftigem Kampf erobert, Hudson Lowe aber als Gefangener nach Neapel abgeführt. Diese Nachrichten mögen hinreichen, uns über die historischen Schicksale Capris aufzuklären. Eindruckslos, bis auf die letzten Ereignisse, sind sie am Erinnern des Volkes vorübergegangen. Es lebt hier allein das Gedächtnis an den grausamen Timberio, und oft war es mir wundersam, den fürchterlichsten Namen der Geschichte aus dem Munde spielender Kinder zu vernehmen. Allerorten hört man ihn, weil er mit dem Lokal verwachsen ist. Die Lebensgeschichte dieses einen Mannes hat das Eiland ganz durchdrungen und zu dem Ernst seiner Natur noch den tragischen Hauch der Geschichte gesellt. Dies gibt Capri den Reiz des Schauerlichen für den, welcher für dunkle Szenen in der Natur und Geschichte empfänglich ist.

Es liegt hier Fürchterliches und Liebliches in einem seltsamen Kontrast. Das lachende grüne Tal stößt hart an schroffe Felsenwände, welche das heitere Pflanzenleben zerreißen und nackt und gigantisch in die Wolken ragen; und wiederum findet das tägliche Bild einfacher Naturmenschen, welche Armut und Frömmigkeit verschönert und die Arbeit veredelt, seinen grellsten Gegensatz, an der immer wieder sich aufdrängenden Vorstellung des finstern Despoten Tiberius.

Die wunderbare Weise, in welcher die Natur hier Entgegengesetztes zu einem plastischen Ganzen verbunden hat, ist es hauptsächlich, was mein Erstaunen erregt. Es gibt hier so viel wüstes Gestein, daß es auf größern Flächen den Eindruck trostloser Öde hervorbringen würde; auf Capri aber ist es anders. Die Natur wehrt hier überall dem Wüsten durch Linie und Form, dem Toten durch die Wärme der Farbe, dem Dürren durch das verstreute Grün, und so stellt sie ein Gemälde dar, in welchem das Große groß und das Fürchterliche fürchterlich bleibt und doch zu gleicher Zeit von der Macht der Form bezwungen ist. Die Berge, Klippen und Täler umfangen den Sinn mit heimlichem Zauber, sie klausen ihn wie in ein Gitter ein, durch das der schönste Golf der Erde hereinscheint, welchen wiederum traumhaft stille Küsten gefangen halten, und so ist es wahrhaft ein magischer Ring, von dem man sich hier umschlossen fühlt.

Die Ähnlichkeit der Natur Capris mit der von Sizilien ist auffallend. Sie ist wahrlich eine Vorstudie dieses großen Insellandes, nicht allein wegen der Dürre des Bodens, sondern auch durch die glühendrote Farbe des Kalkgesteins, durch die phantastisch-grandiose Form der Klippen, und selbst wegen des Pflanzenwuchses.

Die Vegetation ist hier ganz südlich, aber sie ist spärlich. Zwischen dem roten Gestein, wie in die Falten der Berge hineingesät, wächst all das balsamische Kraut der südlichsten Inseln Europas, die Luft mit Wohlgeruch durchwürzend. Dort findet man die Myrte, den Citisus, die Raute und den Rosmarin, den Mastixstrauch und den Albatro, die schönblumigen Heiden. Brombeeren und Efeuranken, wie die Gewinde der Klematis umschlingen Trümmer und Klippen, und der goldgelbe Ginster hängt in vollen Büschen um alle Höhen. Auch der schönste Strauch Capris, welcher zufällig den Namen der Insel trägt, ist nicht das Caprifolium oder Geißblatt, sondern der Kapernstrauch; er hängt sich hier an alle Gemäuer und Felsenwände und schmückt sie mit seinen weißen Blumen voll langer, lilafarbiger Staubfäden.

Um die Abhänge selbst hat der Mensch mit großer Mühe Terrassen angelegt und, indem er durch Aufmauerung kleine Ebenen gewann, Gärten darauf gebaut. Da gedeiht jegliche Frucht und jeder Baum Campaniens. Reichlich wachsen die Eichen, die Maulbeerbäume in großer Zahl; stark und fruchtgesegnet der Ölbaum; sparsam die Zypresse und die Pinie; groß und mächtig der Johannisbrotbaum; überaus fruchtreich und in Menge die Feige; häufig der Mandelbaum; kärglicher die Kastanie und der Nußbaum, aber reichlich die Orange und die Limone, die man in den Gärten in erstaunlicher Kraft findet und deren Früchte oft die Größe eines Kindeskopfs erreichen. Die Rebe wächst hier zwar nicht so üppig wie in Campanien, aber sie trägt schwere Trauben, deren berühmten Feuerwein die Sonnenglut auskocht. Was den Landschaften der kleinen Insel vollends den Charakter Siziliens verleiht, ist die Fülle von Kaktusfeigen. Ihre bizarren, afrikanischen Formen stimmen wohl zu der Dürre der Felsen und ihrer Farbenglut.

Wie nun die Natur, in Formen und Farben ganz harmonisch, dies Eiland gebildet hat, so scheint sie auch den Menschen gezwungen zu haben, in einem phantastisch-idyllischen Charakter seine Häuser zu bauen. Das Städtchen Capri, welches sich auf dem Bergsattel zwischen den Hügeln San Michele und Castello aufreiht, ist sehr originell. Die Häuser, klein und weiß, haben ein plattes Dach, das sich in der Mitte aufwölbt; auf ihm stehen Blumen, und dort sitzt man in der Abendkühle und blickt in das rosenfarbene Meer. Alle Zimmer sind gewölbt, wie die Unterbauten der Villen aus der Zeit des Tiberius. Das Haus umläuft entweder eine Terrasse, oder es öffnet sich zu einer gewölbten Loggia oder Veranda, welche sehr freundlich aussieht, da sie in der Regel eine Weinrebe umrankt, und schöne Blumen, zumal blaue Hortensien, purpurrote Nelken und rosenfarbiger Oleander reich verzieren. Stößt das Haus an den Garten, so findet sich vor der Türe die Pergola oder Weinlaube. Sie ist der schönste Schmuck der Inselwohnungen; da sie aus einer Doppelreihe von gemauerten und weißgetünchten Säulen besteht, welche das Weinrebendach tragen, gibt diese Menge von Säulen auch dem ärmlichsten Hause einen Anstrich von Festlichkeit, seiner Architektur aber etwas Antikes und Ideelles. Die von der Rebe umschlungenen Säulenreihen sehen oft aus wie Arkaden eines Tempels; sie erinnern mich an die kleinen Häuser in Pompeji. Hie und da steht in den Gärten eine Palme; die herrlichste erhebt sich im Garten des Gastwirtes Pagano, dessen Haus unter den übrigen Capris der Palast zu nennen ist.

Auch außerhalb der kleinen Stadt wohnen Weinbauern zerstreut in ihren Masserien, um die Höhen oder an den Füßen der Felsen. Ein jedes dieser Landhäuser scheint das Asyl der Glückseligen und des Friedens zu sein.

Die Capresen, etwa 2000 an Zahl, sind in der Tat das friedlichste Volk der Welt, milde von Sitten, bitter arm und emsig tätig. Sie sind Acker- und Weinbauern oder Fischer, und nur diese besitzen im allgemeinen ein Eigentum, ihre Barke und den Fisch, den sie fangen. Die anderen sind in der Regel Pächter, weil die meisten Masserien Neapolitanern gehören.

Der Pächter zahlt jährlich 80-120 neapolitanische Dukaten Zins, die er samt seinem Unterhalt aus dem Wein, dem Öl und den Früchten erzielen muß. Schlägt die Weinlese fehl, wie nun schon seit drei Jahren, so muß er verarmen, und es ist wahrlich ein Jammer, diese von der Traubenseuche verödeten Weinberge zu sehen und die Klagen der unglücklichen Weinbauern anzuhören. Ich fand Frauen, welche mir sagten, daß sie all ihren Halsschmuck, Ringe und Ohrgehänge verkauft hätten, und dies ist ein Zeichen sehr großer Not, denn nur äußerste Verzweiflung entreißt dem Weibe seinen Goldschmuck. Sie tragen ihn hier beständig, so daß es ein auffallender Widerspruch ist, ein Mädchen elende Lastarbeit verrichten zu sehen, welches lange Ohrgehänge von Gold und auf der Brust ein goldenes Herzchen trägt. Das ist ihr Kleinod, oft ihr einziges Vermögen, aber der Schmuck ist weder vom stärksten noch vom feinsten Golde.

Die Viehzucht Capris ist gering, doch werden jährlich mehr als 200 Stück nach dem Festland geführt, und auch der Käse der Insel läßt sich rühmen. Im Herbst und im Frühjahr nährt die Inselbewohner die Vogeljagd. Es kommen dann die Schwärme von Zugvögeln aus dem Norden rückkehrend oder vom Süden nach dem Norden wandernd, hauptsächlich Wachteln. Die armen Vögel ruhen auf dem ungastlichen Felsen von ihrer Reise aus und werden dann in Scharen ergriffen oder in Schlingen gefangen. Capri hat sonst keine Jagd und kein jagdbares vierfüßiges Tier, weder Fuchs noch Marder, nur eine große Menge von Kaninchen, welche nachts aus den Felsenritzen hervorhüpfen und in die Felder laufen, von der Armut des Landbauern ihr ärmlich Teil zu rauben.

Den dauernden Erwerb sichert den Capresen das Meer. Der Fischer fängt hier Fische jeder Art, auch den Thunfisch und den Schwertfisch, die Murena, vor allem die Sardine und den Calamajo oder Tintenfisch. Dieser wird besonders nachts gefangen. Die Fischer fahren mit der Dunkelheit in See und locken den Fisch durch den Schein einer Fackel an die Oberfläche; das greuliche, polypenartige Tier krallt sich dann in die vielen Nadeln eines rückwärts widerstachelnden Stabes und wird so heraufgezogen.

Der Fischer liegt die ganze Nacht auf See, er kehrt erst mit der Sonne wieder; dann geht es ans Trocknen und Flicken der Netze, dann schläft er ein paar Stunden, dann macht er sich frisch wieder zum Fange auf. Es ist ein armseliges und mühevolles Leben, das Meer oft trügerisch, und nicht ein paar Carlin wert, was eine ganze Fischergesellschaft in dem Netze findet.

Das emsige Leben an der Marina grande, dem einzigen Hafen der Insel, wo eine Reihe von Häusern steht, gewährt zu allen Zeiten einen großen Reiz. Der Strand ist hier kurz und schmal, vor dem Wogenschlage nicht sicher und gibt nicht Raum genug. Deshalb werden die Kähne beim Sturm in gemauerte Schuppen hineingezogen.

Es gibt etwa hundert Barken auf diesem Strande, und drei große vermitteln den Verkehr zwischen der Insel und dem Festlande. Jeden Dienstag und Freitag kehren diese aus Neapel zurück, wohin sie tags zuvor abgegangen waren. Dann gibt es das bunteste Treiben auf dem Ufer, weil auch Mädchen und Frauen von Ana-Capri die große Felsenstiege herabkommen, um dasjenige in Empfang zu nehmen, was die Barke für sie gebracht hat. Ist das Meer bewegt, so springen, ehe das Boot landet, die jüngsten Fischer in die Wellen; sie stürzen sich kopfüber in das Wasser wie Taucherenten; die in der Barke werfen ihnen Taue und Ruder zu, es vermindert sich die Last des Schiffchens, da einer nach dem andern über Bord springt. Jene zu Land ziehen das Fahrzeug mit lautem Geschrei am Tau, und die Stimme des Barkenpatrons übertönt das Rauschen der Brandung und das wilde Rufen aller dieser zu fieberhafter Tätigkeit aufgeregten Menschen. Am Strande harren die Weiber auf das Mitgebrachte; es sind Gemüse, Melonen, Zwieback oder Kleidung und sonstiger Hausbedarf. Auch mancher Blumenstrauß von Napoli wird mitgebracht, und manche neugedruckte Kanzone vom Kai Santa Lucia. Der Fremdling aber setzt sich auf eine der Klippentrümmer am Ufer und erbricht den Brief, der für ihn aus demselben Boote ausgeschifft worden ist.

Fast alle Barken der Marina gehören Fischern in Capri, nur wenige auch Leuten von droben in Ana-Capri. Denn die Natur hat dieses zweite Städtchen der Insel vom Meere abgesperrt. Dagegen gehen viele junge Männer Ana-Capris und mehr als von Capri in die Fremde auf den Korallenfang. Jährlich verlassen ihre Heimat etwa 200. Für Rechnung der Korallenhändler in Torre del Greco wagen sie sich in ihren Barken in die Meerenge von Bonifazio und an die Küsten Afrikas. Sie gehen im März und kommen im Oktober wieder; dann finden sie, was seitdem das Schicksal in ihrer kleinen Welt zur Freude und zum Leide gereift hat, Treue und Untreue, neues Leben und plötzlichen Tod. Wenn sie hundert Dukaten gewonnen haben, heiraten sie ihren Schatz. Denn in Capri gelten hundert Ducati als Erfordernis zum Heiraten. Mir erzählte ein Maler, daß er mit seinem Jungen, der ihm die Staffelei nachträgt, folgendes Gespräch gehabt habe. Der Junge: Herr, habt Ihr eine Frau? Der Maler: Nein. Der Junge: Habt Ihr denn nicht hundert Ducati? Der Maler: Ja, ich habe hundert Dukaten. Der Junge (höchlichst erstaunt): Wie, Herr, Ihr habt hundert Ducati und heiratet nicht? – Lebhaft wurde ich eines Tags an jene heimatlosen Korallenfischer erinnert, als mir auf der Stiege von Ana-Capri ein junges Mädchen einige arabische Münzen anbot. Ihr Bruder hatte sie ihr verwichenes Jahr mitgebracht als Geschenk von den «Heiden». Ich kaufte sie mir zum Andenken und als Zauberpfennige.

Auch an den Strand Capris treiben viel Korallenstücke. Die kleinen Fischerkinder und die jungen Mädchen sammeln sie; sie flechten ganz kleine Körbe von Stroh und tun in sie hinein rote Korallen, Seepferdchen und Meersternchen und kleine bunte Muscheln, und wenn du am Strand entlang gehst, vertreten sie dir den Weg und bieten dir das zierlichste Körbchen mit lachenden Augen zum Kauf an, so daß du es wohl kaufen wirst.

Ja, alles ist hier graziös, lieblich und klein, und gar reizend die Beschäftigung der Mädchen in den Häusern, wo sie die schöne goldgelbe Seide aufhaspeln oder abspannen und die bunten Bänder weben. Die Industrie der Frauen besteht hier in etwas Seidenkultur, hauptsächlich im Weben von Band, sowohl droben in Ana-Capri als drunten. Viele Webstühle sind dort tätig. Die Mädchen sitzen dabei von Sonnenaufgang bis zur Nacht. Die Baumwolle oder die Seide liefert ihnen der Kaufmann von Neapel, der ihre Arbeit dürftig bezahlt. Sie weben Band in allen Farben. Der stillen homerischen Geschäftigkeit bei so reizend frauenhaftem Tun, in den kleinen gewölbten Gemächern oder auf den Terrassen, unter den blühenden Blumen und bei dem beständigen Anblick des Meeres sieht man gerne zu.

Es gibt in Capri ein einsames Haus auf einem Hügel, darin sitzen vier Mädchen schwesterlich beisammen und weben rastlos Seide und Stroh zu Damenhüten. Diese vier Mädchen sind die Elite der jungfräulichen Welt von Capri. Ihr Stübchen ist der Gesellschaftssalon der Insel. Fremde führen sich dort selbst ein. Die Künstler nennen sie die vier Altäre, weil vor ihnen beständig geopfert wird, mein Wirt aber nennt sie die vier Jahreszeiten. Als ich eines Tages bei ihnen saß, fiel mir ein Blatt ins Auge, welches eine der Schwestern sorgsam an ihren Webstuhl geheftet hatte. Es war eine Efeuranke darauf gemalt und der Vers des Sophokles darein geschrieben, mit welchem der «Ödipus Tyrannos» beginnt:

Ω τεκνα Καδμου του παλαι νεα τροφη

O Kinder ihr, des alten Kadmos junge Brut.

Die Weberin bat mich, ihr zu erklären, was die fremde Schrift sage, denn ein Engländer wäre dagewesen, der hätte das aufgeschrieben. Ich sagte ihr, die Worte hießen also: «O Kind, du bist am Tag mein Basilikum und des Nachts bist du mein Stern.» Sie lächelte und war zufrieden.


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