Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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In seiner geistvollen Schrift über Cavour und dessen Formel «Freie Kirche im freien Staat» hat der Philosoph Vera die Behauptung aufgestellt, daß die vollkommensten Offenbarungen des deutschen Geistes Luther und Hegel seien, und diese Ansicht wiederholte er mir persönlich in Neapel. Wir selbst haben Luther diese höchste Stelle in der Nation gegeben, und wenn wir der Zukunft das Urteil überlassen, ob einst Hegel einen solchen Ehrenplatz einnehmen wird, so werden wir doch schon heute neben Luther noch einige andere Männer der Vergangenheit als die Typen deutschen Geistes zu nennen haben. Es ist bezeichnend für das Verhältnis der Italiener zu unsrer Kultur, daß einem ihrer scharfsinnigsten Denker der Gegenwart Lessing, Goethe und Schiller auf einem nicht gleichhohen Gipfel des deutschen Geistes zu stehen scheinen, als ihn Hegel einnimmt: während doch diese großen Männer gerade die verständlichsten und vollkommensten Zeugen unsers gesamten Nationalbewußtseins sind, in denen die reformatorische und philosophische Idee Deutschlands ihre künstlerische Realität gewonnen hat. Es mag indes sein, daß Vera hier den deutschen Geist wesentlich nur von seiner spekulativen Seite betrachtete, denn er selbst ist ein so gründlicher Kenner und so aufrichtiger Verehrer der germanischen Literatur wie wenige seines Volks.

Luther steigt gerade jetzt immer höher vor der Welt auf. Die Italiener begreifen erst heute mehr und mehr diesen größten Freiheitshelden der modernen Kultur, nachdem sie angefangen haben, seine Heldengestalt vom Schmutze zu reinigen, mit dem die jesuitische Literatur dieselbe beworfen und unkenntlich gemacht hat. Sie erkennen, daß jene ganze unermeßliche Geistesarbeit der Deutschen die Wirkung der Reformation gewesen ist und daß selbst die jüngste Wiedergeburt und Machtentfaltung des Deutschen Reiches den Gedanken Luthers zu ihrer Voraussetzung hat. Sie wiederholen täglich das Wort Machiavellis, daß der moralische und politische Verfall Italiens die Schuld der Priesterreligion sei, aber sie selbst überliefern sich noch heute demselben Priestertum, welches nach wie vor ihr Gewissen und ihre Schule beherrscht, und derselben Papstkirche, deren Ziel die Alleingewalt des Priesters ist, deren Mittel zu diesem Ziele sind: die Knechtung des wissenschaftlichen Bewußtseins und die Zerstörung der politischen Nation. Bei der verzweifelten Unfähigkeit, den politischen Gedanken mit dem reformatorischen zu verbinden, wodurch allein erst ein Volk lebensfähig wird, blicken die Italiener mit Achtung auf Deutschland, wo sie das Volk sehen, dessen Gewissen sich nicht durch die Priesterlüge ketten ließ und dessen Kulturstaat zu seiner Basis nicht eine tote politische Formel, sondern die lebendige Wissenschaft hat. So verschieden von der unsrigen auch ihre, namentlich der einseitigen Cavourianer Ansicht über die Mittel des sogenannten «Kulturkampfes» sind, so verkennen sie doch dessen Bedeutung für Europa nicht, und sie begreifen, daß ein Staat, der aus dem Prinzip der Reformation entstanden ist, den Beruf und die Macht hat, auf ihren Wegen vorwärtszugehen. Dieselben von Deutschland geführten Kämpfe mit der römischen Kirche und dem Jesuitismus haben, in Verbindung mit dem Sturze des weltlichen Papsttums in Rom, auch die Erinnerung an die Hohenstaufen in Italien wieder lebendig gemacht. Denn auch die Heldengestalten Barbarossas, Friedrichs II. und seiner Epigonen steigen gerade jetzt immer größer empor, und immer verständlicher wird ihre kulturgeschichtliche Bedeutung im Licht der Gegenwart.

Hier in Andria sind mehrere Straßen mit hohenstaufischen Namen benannt. Alle diese aber sind neu eingeführt; sie gehören einem neuen Bewußtsein der Italiener von ihrer Vergangenheit und einer modernen Auffassung der Geschichte an. Diese Wahrnehmung wird man heute oft in Städten Italiens machen. Ich habe mich bei Gelegenheit Manfredonias bereits darüber ausgesprochen und auch die Gewaltsamkeit beklagt, mit welcher diese städtische Neutaufe nur zu oft betrieben wird. Bisher waren, wie in Rom, so in allen Städten Italiens, die Straßen zum größten Teil von Kirchen und ihren Heiligen benannt, denn die Kirche hat hier überall dem Leben ihren Stempel und Kalender aufgedrückt. Wo es nur irgend möglich ist, löscht nun heute das neue Geschlecht die mittelaltrige, das heißt kirchliche Legende ihrer Städte aus und ersetzt sie durch die nationale und bürgerliche. Das ist sehr passend, wenn das lokal Bedeutende dabei festgehalten wird. Nicht immer ist dies in Andria geschehen, denn auch hier gibt es viel Willkürlichkeit in der Namengebung. Es ist in der Ordnung, wenn Straßen nach verdienten Bürgern genannt werden, wie nach Flavio de Excelsis oder nach Carlo Troya, dem bekannten liberalen Minister Neapels im Jahre 1848 und hochverdienten Geschichtsforscher, welcher in diesem Ort geboren war. Aber warum hier Straßen den Namen Salvator Rosa und Cimarosa tragen, weiß wohl niemand recht zu sagen.

Es gibt in Andria Plätze und Straßen, die nach Friedrich II., nach Konrad IV. und Manfred benannt sind; auch fand ich eine Via Jolantha und Via Pier delle Vigne. Die Via Frederico II. di Svevia ist die Fortsetzung der langen Straße Corrado IV.; sie führt auf das Tor S. Andrea, auf welchem die schon bemerkte Inschrift steht: «Imperator Federicus ad Andrianos: Andria Fidelis Nostris affixa midullis 1230.» Dieses Tor, das letzte übriggebliebene der alten Stadttore Andrias, ist im Rokokostil erneuert worden im Jahre 1593. Neben ihm steht die älteste Kirche der Stadt, Sant'Andrea, und daneben liegt das Viertel le Grotte di Sant'Andrea, wo nach der Ansicht der Antiquare der erste Ursprung der Stadt zu suchen ist. Dieses Quartier ist ein malerisches Labyrinth von noch altertümlichen Häusern mit Hallen und Terrassen. Es wird von dem ärmlichsten Teil des Volks bewohnt, den Frascari, Menschen, die vom Verkauf von Reisigbündeln kümmerlich ihr Leben fristen.

Wenn es im Mittelalter in Andria noch Denkmäler aus der Hohenstaufenzeit gegeben hat, so sind diese in den Katastrophen der Stadt unter den Anjou und Aragonen, endlich in dem Brande des Jahres 1799 untergegangen. Dieses letzte furchtbare Unglück hat den Verlust vieler Monumente in Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden zur Folge gehabt.

Damals wurden nur wenige Kirchen verschont. Einige haben ihre Fassaden und Portale gerettet. So die der Porta Santa, ein einfacher und schöner Kuppelbau mit Kreuzgewölben. Sie führt ihren Namen von der Legende, welche erzählt, daß Petrus durch das Stadttor in der Nähe seinen Einzug in Andria gehalten habe. Die Gründung der Kirche wird Konrad IV., ihre Vollendung dem König Manfred zugeschrieben. Aber diese Angaben sind unsicher; wenn sie ein ursprünglich hohenstaufischer Bau gewesen ist, so wurde sie doch später umgebaut, und sie erscheint heute durchaus als ein Werk der Renaissance. Auf den Pilastern ihres schönen Portals sieht man zwei steinerne Bildnisse in Medaillenform, und diese benennt man ohne jeden Grund Friedrich und Manfred, da sie modernen Ursprungs sind.

Älter sind die Kirchen S. Francesco, mit einem Kloster gotischen Stils, in dessen Kreuzgang altertümliche, vermischte Fresken zu sehen sind; S. Domenico mit einem zerstörten Klosterhof in gleichem Stil, worin der Herzog Francesco II. del Balzo begraben liegt, und die ursprüngliche Templerkirche Sant'Agostino mit einem bemerkenswerten gotischen Portal von schöner Zeichnung und mit vorzüglichen Skulpturen in der Lünette. Diese Kirche hatte Friedrich II. dem Orden der Deutschen Ritter zum Eigentum gegeben, den er im Jahre 1230 mit vielen Gütern in Andria ausstattete. Die Deutschherren besaßen überhaupt in Apulien reiche Kommenden, wie die Abteien bei Siponto, bei Terlizzi und Cerignola, und große Hospitäler in Brindisi und Barletta. Ihre Kirche zu Andria kam im Jahre 1387 in den Besitz der Augustiner. Jene genannten Kirchen sind hier die hauptsächlichsten Denkmäler der Gotik; außer ihnen hat sich derselbe Stil nur noch in wenigen Gebäuden erhalten, wie im Palast Torre.

Der gotisch angelegte Dom San Riccardo erfuhr einen mehrfachen Umbau, namentlich seit 1463, wo ihn der Bischof Antonius de Joannocto erneuert hat. Er ist eine schöne und stattliche Kirche von drei gleich großen Schiffen, bietet aber nichts besonders Denkwürdiges dar. Die Denkmäler in seinem Innern sind untergegangen. Vergebens bemühte ich mich, eine Spur von den Mausoleen der beiden Kaiserinnen Jolantha und Isabella aufzufinden. Beide Frauen Friedrichs II. waren in einer unterirdischen Kapelle bestattet, welche später zu einem Beinhaus diente und verschlossen wurde. Man müßte die Kapelle von dem in ihr angehäuften Schutt befreien, um die Reste der kaiserlichen Sarkophage und die Grabinschriften wieder ans Licht zu bringen.

Unmittelbar neben dem Dom steht der Palast der Herzöge Andrias, ein großer viereckiger Bau, welcher seinen mittelalterlichen Charakter, die Türme und Zinnen, längst verloren hat. Hier wohnten die Balzi und dann die Caraffa. Der Brand im Jahre 1799 beschädigte den Palast und zerstörte zugleich den größten Teil des herzoglichen Archivs; was davon noch gerettet worden war, soll, wie man mir in Andria erzählte, an die Gewürzkrämer verkauft worden sein, als nämlich die Herzöge Caraffa selbst ihren Palast verkauften. Es erstand ihn ein wohlhabender Besitzer der Stadt, Herr Spagnoletti. So ging diese alte Residenz feudaler Grafen und Herzöge in die Hände eines einfachen Bürgers über, wie viele andre Schlösser und Paläste berühmter Geschlechter im ehemaligen Königreich Neapel das gleiche Schicksal erfahren haben.

Es gibt in Andria noch einige ansehnliche Paläste, die im Besitz reicher Bürger sind. So jene der Familie Ceci in der besten und saubersten Straße Sant' Agostino. Auch das Munizipium, welches über beträchtliche Einkünfte verfügt, hat sich im Jahre 1860 einen schönen Gemeindepalast gebaut. Seinen Hauptsaal zieren viele Porträts der Balzi und Caraffa; auch zeigt man dort das Bildnis Konrads IV., natürlich ein fingiertes.

Eine Stunde von der Stadt entfernt liegt mitten im Felde der Kampfplatz der berühmten «Disfida di Barletta». Dort fochten am 13. Februar 1503 dreizehn italienische Ritter mit ebenso vielen auserwählten Franzosen einen Zweikampf aus, welchen höhnische Bemerkungen französischer Edler über die Kriegsuntüchtigkeit der Italiener veranlaßt hatten. Der große Kapitän Consalvo, Oberbefehlshaber der spanischen Macht, bekämpfte damals von Barletta aus die Franzosen in Apulien, und unter seinen Fahnen dienten viele Italiener im Solde Spaniens, namentlich Ritter aus dem Hause der Colonna. Das militärische Ansehen Italiens war so tief gesunken, daß es mit Recht den Spott der Franzosen erregte. Dieses Land, worin noch am Anfange des 15. Jahrhunderts der Ruhm großer Generale, wie der Sforza und Braccio, und ihrer kriegerischen Einrichtungen geglänzt hatte, war so wehrlos geworden, daß es Karl VIII. von Frankreich von den Alpen herab bis nach Neapel durchziehen und erobern konnte, mit Sporen aus Holz an den Stiefeln und dem Kreidestift in der Hand, um die Quartiere der Armee in den Städten aufzuzeichnen, wie Alexander VI. ironisch sagte. Die Ausforderung der Italiener galt der Ehre des Vaterlandes, und der ritterliche Zweikampf sollte dartun, daß in dem unglücklichen, zerrissenen, von Spaniern und Franzosen zerfleischten Lande, wenn auch nicht mehr die politische Kraft und Tugend, so doch die Tapferkeit der Väter noch fortlebte. Der Zweikampf erhielt eine nationale Bedeutung, und in Wahrheit ist nie ein so vernünftiger irgendwo ausgefochten worden.

Seine Ordner waren für die beiden Parteien die berühmtesten Kriegsmänner jener an Helden so reichen Zeit, der Ritter Bayard und der Römer Prospero Colonna, der Richter und die Zeugen waren die Tapfersten beider Heere, angehörig den drei romanischen Nationen. Man hatte festgesetzt, daß jeder Besiegte seine Pferde und Waffen und hundert Golddukaten dem Überwinder ausliefern solle. Die tapfern und fröhlichen Franzosen erschienen in ihrem nationalen Übermut so siegesgewiß, daß ihrer keiner jene Summe Goldes mit sich gebracht hatte. Aber das Los fiel anders aus als ihre Erwartung; ein Franzose blieb tot auf dem Kampfplatz, die andern wurden verwundet in das Kastell Barletta abgeführt, wo sie erst ihr Lösegeld aufzubringen hatten und dann freundlich entlassen wurden.

Der für die Ehre Italiens ruhmvolle Ausgang des Zweikampfes ist in hundert gleichzeitigen und späteren Schilderungen beschrieben worden. Die französische Eitelkeit erlitt die verdiente Züchtigung, und diese war das Augurium des baldigen Untergangs der Armee Frankreichs in Neapel. Ganz Italien jubelte, nur mischte sich in diese patriotische Freude das demütigende Bewußtsein, daß der ritterliche Sieg nicht für die Freiheit des Vaterlandes, sondern unter den Fahnen des spanischen Eroberers erfochten war, der bald darauf halb Italien knechten sollte. Gleichwohl ist jene Stelle mit Recht den Italienern heilig; denn hier erhob sich doch ihr Selbstbewußtsein wieder aus einer langen Schmach. Diesen Kampfplatz tapfrer Männer, wo nur 26 Streiter gegeneinander fochten, darf man immerhin mit mehr innerem Anteil betreten als hundert Schlachtfelder, worauf ganze Armeen für die Launen der Könige oder die Ländergier der Eroberer verbluteten.

Die Stelle liegt unter Weingärten auf ebenem Felde. Sie ist durch ein steinernes Denkmal in Form eines antiken Grabmals mit gegiebelter Front bezeichnet, welches vom Volk «Epitaffio» genannt wird. Dasselbe setzte im Jahre 1583 der Herzog Ferrante Caracciolo als Präfekt der Terra d'Otranto. Die Inschrift darauf lautet:

Quisquis Es Egregiis Animum Si Tangeris Ausis
    Perlege Magnorum Maxima Facta Ducum
Hic Tres Atque Decem Forti Concurrere Campo
    Ausonios Gallis Nobilis Egit Amor
Certantes Utros Bello Mars Claret Et Utros
    Viribus Atque Animis Auctet Alatque Magis
Par Numerus Paria Arma Pares Aetatibus Et Quos
    Pro Patria Pariter Laude Perisse Juvet
Fortuna Et Virtus Litem Generosa Diremit
    Et Quae Pars Victrix Debuit Esse Fuit.
Hic Stravere Itali Justo In Certamine Gallos
    Hic Dedit Italiae Gallia Victa Manus

O-P-T. Max. Exercituum Deo.            

Ferdinandus Caracciolus Aerolae Dux Cum A Philippo
Regum Max. Novi Orbis Monarca Salentinis Japicibusque
Praefect. Imperaret Virtutis
Et Memoriae Causa Octaginta Post Annis
Anno a Christo Deo Nato MDLXXXIII.

Darunter: Patriae Gloriae Monumentum
Capitulum Tranense Refecit MDCCCXLVI.

Wer du immer auch seist, dem kühnes Wagnis das Herz rührt,
Lies die Taten hier jetzt, die große Führer vollbracht.
Edelste Liebe trieb an hier dreizehn tapfre Ausonier
Kühn zu schreiten zum Kampf mit dreizehn Tapfren der Gallier.
Beiden leuchtete Mars voran in krieg'rischem Kampfe,
Gebe er beiden auch Mehrung an Geist und an Kraft.
Gleich war bei beiden die Zahl, gleich waren das Alter, die Waffen,
Gebe das Schicksal auch, daß mit gleichem Ruhme sie starben,
Wenn für des Vaterlands Wohl einstens der Tod sie erreicht.
Tapferkeit edelster Art hat hier das Streiten geendet.
Sieger blieb schließlich der, dem es das Schicksal bestimmt.
Italiener sie warfen im rechten Kampfe die Gallier,
Gallien aber besiegt, gab hier Italien die Hand.


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