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Hier macht weniger der ungeheure Aufwand mühsamster Kunst als die Vorstellung des religiösen und künstlerischen Gedankens erstaunen, der das gesamte christliche Religionssystem erfassen, das unendlich Vielfache konzentrieren und darstellen konnte. Solcher universellen Auffassung der geistigen Menschengeschichte ist unsere Kunst gar nicht mehr fähig, und alle ähnlichen Erscheinungen, welche unsere Gegenwart in vereinzelter Weise durch die Freskomalerei versucht, sind als kalte Verstandesallegorien geistig unwirksam. Diese Mosaiken, Giottos Skulpturen am Campanile von Florenz, welche die Geschichte menschlicher Kultur darstellen, und das Dantesche Gedicht darf man als die zusammengehörigen Denkmäler jener Periode, wo die christliche Idee die umfassendsten Bildungen der Kunst hervorrief, in ihrer innern Geistesverwandtschaft zusammenstellen. Man vergesse aber nicht, daß der Mosaikenzyklus von Monreale um hundert Jahre Giotto und Dante voraufgeht, und wenn man weiß, daß die Göttliche Komödie noch bis auf Michelangelo herab ihren Einfluß auf die Kunst geltend gemacht hat und die Maler zu ihren zyklisch-epischen Freskobildern anregte, so muß man um so mehr erstaunen, daß schon so früh in jenen Mosaiken das System des Christentums in großartiger Einheit aufgefaßt werden konnte.
Wir wissen nicht, wem ein solcher Gedanke entsprang. Da auch in andern und ältern Kirchen Palermos aus der Normannenzeit derselbe Ideengang in den musivischen Darstellungen, wenn auch in kleinerem Maße vorherrscht, so mögen hier byzantinische Traditionen zugrunde liegen. Wer diese Arbeiten leitete, ist unbekannt. Wenn drei Jahre auf die musivische Ausschmückung des Doms verwendet wurden, müssen, nach der Berechnung Serra di Falcos, 150 Mosaikbildner dabei fortdauernd tätig gewesen sein. Kaum möchte man sich eine mühsamere Arbeit vorstellen dürfen.
Das System der Verteilung ist dieses. Indem sich alle bildliche Darstellung und jede heilige Handlung oder Gestalt auf Christus bezieht, dessen gigantische Figur in der Tribune als der göttliche Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt des Kosmos abgebildet ist, beginnt der Zyklus mit der Schöpfung und erstreckt sich bis zum Kampfe Jakobs mit dem Engel. Dem Alten Testament ist das Mittelschiff eingeräumt. Auf das Sanctuarium und die Flügel verteilt sich die Geschichte des Lebens Christi und setzt sich in die beiden Seitenschiffe fort, doch werden auch hier Patriarchen und Propheten hereingezogen, wenn sie auf Christus deuten, und endlich wird die kaum übersehbare Mythologie der Märtyrer und Heiligen ausgebreitet. Petrus und Paulus haben als die obersten Kirchenfürsten ihre Stelle in den Nischen, dem Christus zu den Seiten; rechts sitzt Petrus auf der Kathedra, die linke Hand auf ein Buch gestützt, die Rechte segnend erhoben. Über ihm und seitwärts sind Szenen aus seiner Lebensgeschichte abgebildet. In gleicher Weise sieht man links Sankt Paul auf seinem Stuhle sitzen und über ihm seine Enthauptung dargestellt. In der Mitte der Tribune strahlt das riesige Brustbild des Erlösers; ein griechisches Kreuz ragt in einer Glorie hinter seinem Haupt hervor, von dessen Scheitel lange Locken bis auf die Schultern herabfallen. Mächtig und voll ist auch sein Bart. Er hebt die Rechte wie lehrend auf und hält in der Linken ein Buch. Die griechische Versalinschrift nennt ihn Jesus Christus Pantokrator. Der Eindruck dieses riesigen Antlitzes ist von übernatürlicher Gewalt und finsterer Hoheit, in byzantinischem Geiste. Byzantinische Christusköpfe haben etwas Dämonisches, wie die Antlitze der ägyptischen Götter, wie überhaupt das byzantinische Wesen in der Empfindung des Göttlichen ans Ethnische streift. Dieser Typus führt uns in ein Ideenreich, welches uns heutigen Menschen bei weitem ferner liegt als die Antike. Es ist ein fürchterlich Abstraktes, eine alles Menschliche, alle Phantasie, allen Zufall, alle freie Lebensregung ausschließende Notwendigkeit. Von solchem Christusantlitz geht wie von einem Medusenhaupt ein Hauch der Versteinerung aus. Ich kann solche Bilder nicht betrachten, ohne in ihrem schrecklich erhabenen Gesicht die christliche Kirchengeschichte wie in einem prophetischen Spiegel zu lesen: die fanatische Askese, das Mönchstum, den Judenhaß, die Ketzerverfolgungen, die dogmatischen Kämpfe, die Allmacht der Päpste. Nichts in der Tat vermag so sehr die negative wie die positive Gewalt der christlichen Religion symbolisch zur Anschauung zu bringen. Für die Entwicklung der christlichen Kunst im Fortschritt der Jahrhunderte ist wieder nichts bedeutender als der Vergleich eines solchen Christusantlitzes mit dem Christuskopfe Raffaels oder Tizians; die beiden äußersten Grenzen der Anschauung des Religiösen sind hier ausgesprochen.
Ich übergehe andere Mosaiken, wie die Jungfrau mit dem Kinde in der Mitte der Nische und die Szenen aus dem Leben Christi. Im allgemeinen bemerkt man, daß alle Wirkung am Sanctuarium ins Pathetische, Übermenschliche, in das Höchste der religiösen Empfindung gehe, daher der Ausdruck übernatürlich sein muß. Dagegen steigt die Vorstellungsweise in den Szenen des Alten Testaments wieder herab, und hier entfaltet sich ein menschlich heiteres Leben, ein neues Genre, und auch die Pflanzen- und Tierwelt wird mit hineingezogen. Wir stehen auf dem Boden der Natur und der Menschengeschichte. Manche dieser Bilder sind sehr naiv. Man sieht zum Beispiel das Opfer Isaaks in großer Derbheit vorgestellt; Isaak liegt auf dem Holzstoß, Abraham hat ihn am Kopf gepackt und erhebt ein Messer, welches die halbe Länge des Knaben mißt; hinter ihm kommen zwei Männer mit Knitteln; unter ihm weidet ein gesatteltes Pferd, über ihm schwebt der Engel. Die Zeichnung ist oft sehr mangelhaft, namentlich die der Tiere ungeschickt; die Kamele, denen Rebekka zu trinken gibt, sehen höchst komisch aus. Im ganzen aber sind die Mosaiken von einer wohltuenden Erscheinung; in ihrem Farbenton sind sie sehr gedämpft.
Am 11. November 1811 war der schöne Tempel von Monreale in Gefahr, ein Raub der Flammen zu werden. Ein Chorknabe hatte an einen Schrank eine brennende Kerze gestellt, und dadurch dort befindliche Zeuge entzündet; der kleine Herostrat hatte das Feuer zu ersticken gesucht, den Schrank verschlossen und aus Furcht sich still davongemacht. Um die Mittagszeit sah man aus den Türen und Fenstern des Doms dicken Rauch hervorquellen; das Volk stürzte in die Kirche und fand den Chor in lichten Flammen stehen. Nach vier Stunden wurde das Feuer gelöscht; aber die Verwüstung war groß; beide Orgeln zerschmolzen, das Sparrenwerk des Dachs verzehrt; die herabfallenden Balken hatten auch die Grabmäler Wilhelms I. und Wilhelms II. zertrümmert, und ein großer Teil der Mosaiken war gänzlich vernichtet worden. Seit dem Jahre 1816 hat man die verwüsteten Teile wiederhergestellt und glücklicherweise waren die Tribunen und die Schiffe von den Flammen nicht ergriffen worden.
Die Grabmäler der beiden Wilhelm und ihrer Familie, welche damals zerbrochen wurden, stehen auf dem rechten Flügel des Chors. Wilhelm der Böse ruht in einem Sarkophag von Porphyr; auch seine Gemahlin Margarethe und seine drei Söhne Roger, Herzog von Apulien (gestorben 1164), Heinrich, Prinz von Capua (gestorben 1179) und Wilhelm der Gute sind hier bestattet, so daß von dem sizilischen Herrschergeschlecht der Normannen hier nur Roger I., Simon und Tancred fehlen. Wilhelm der Gute, der Erbauer der schönen Kirche, dessen Figur zweimal in Mosaik dargestellt ist, über dem königlichen Thronsitz, wo ihn Christus krönt, und über dem bischöflichen Sitze, wo er der Madonna das Abbild des Tempels überreicht, liegt in einem geschmackvollen Sarkophag von weißem Marmor, welchen Arabesken auf Goldgrund sehr graziös verzieren. Dieses Grabmal wurde ihm erst im Jahre 1575 vom Erzbischof Ludovico de Torres errichtet; denn der fromme König hatte befohlen, seine Gebeine in einer schlichten Kiste von gemauertem Ziegelstein neben dem prächtigen Sarkophag seines Vaters beizusetzen. So geschah es auch und jahrhundertelang hatte Wilhelm II. kein anderes Grabmal.
Derselbe König hatte sich mit dem Bau des Doms nicht begnügt, sondern auch ein herrliches Kloster ihm angeschlossen, in welches er Benediktiner von La Cava hineinsetzte; es gehörte zu seinen Erholungen, mit den frommen Vätern zu verkehren und sich der Prachtbauten zu erfreuen, um welche mit der Zeit die Stadt Monreale sich ansiedelte. Das Kloster ist längst verfallen und ein neues neben seinen Trümmern aufgebaut, ein prachtvolles Benediktinerhaus, welches von Marmor strotzt wie alle Klöster dieses gelehrten und vornehmen Ordens in Italien, die eher Paläste für Fürsten als Wohnungen für Mönche scheinen.
Das alte Kloster muß eins der stattlichsten Gebäude gewesen sein und an Pracht San Martino weit übertroffen haben. Es stand neben dem Dom und beherrschte die Ebene von Palermo. Aus seinem Garten genießt man noch die entzückende Aussicht über dies Paradies von Meer und Land. Wilhelm hatte das Gebäude mit Mauern und Türmen befestigt, von denen nur noch Trümmer übriggeblieben sind; auch das Kloster ist zerstört bis auf einige Mauerreste, die noch die normannische Architektur erkennen lassen, und bis auf den Kreuzgang, der seinesgleichen nicht finden mag; ein großes, von einer Arkade umgebenes Viereck; 216 phantastische Säulen, je zwei verbunden, tragen die musivisch ausgelegten Spitzbogen; an den Ecken hat man jedesmal vier solcher Säulen vereinigt, und mit besonderem Fleiß sind ihre Kapitäler gearbeitet. Überraschend und graziös ist die Erscheinung dieser zahllosen schlanken kleinen Säulen, deren Schäfte alle verschieden behandelt, teils gewunden, teils gerade sind, bald geriefelt, bald glatt, bald mit wellenförmigen Linien, bald mit spiralischem und wiederum mit musivischem Schmuck ausgeziert sind. Die Kunst hat sich hier den anmutigsten Wechsel der Dekoration zum Gesetz gemacht und eine reizende Willkür sich gestattet; alles naiv, zierlich und kindlich, bunt, flimmernd und phantastisch. Die Kleinheit der Formen gestattet dies wohl, denn das Kleine spielt. Diese Arkaden sind der vollkommenste Gegensatz zu den dorischen Säulenstellungen, und schwerlich könnte man architektonische Formen in größerem Kontraste denken. Der unendliche Reichtum des Schönen in der Form überhaupt, die wunderbare Fülle der Ausdrucksweisen, in welchen sich die menschliche Poesie auszusprechen vermag, von der Tragödie bis zum Märchen wird hier offenbar.
Die größte Aufmerksamkeit verdienen die Kapitäler jener Säulen. Auch hier herrscht dasselbe Gesetz spielender Willkür, denn nicht eins ist dem andern gleich, sondern der Künstler scheint hier mit der Natur gewetteifert zu haben, die Mannigfaltigkeit ihrer Pflanzenbildungen in heiterer Lust nachzuahmen. Aus korinthischen Akanthusblättern, die in verschiedenartiger Zeichnung den Blattkelch des kleinen Kapitäls bilden, entsteigt das phantastische Gebilde gleich einer Blume von Tier-, Pflanzen- oder Menschengestalten zusammengefaßt, welche als eine kleine Geschichte jedesmal sich entfalten. Hier sind es wirkliche Figuren, die als Karyatiden zugleich den Abakus tragen, dort sind es arabeskenartige Gebilde, Löwen, Pferde und Delphine, geflügelte Genien, Drachen, Harpyen, Greifen, wunderliche Wesen, welche den Blumen entspringen und die wechselvollsten Kapitälplatten in bunter Mosaik und bizarrer Zeichnung tragen. Viele enthalten Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, wenn auch nicht gut gezeichnet, so doch immer von höchst naivem Charakter. Auf einem Kapitäl ist der König Wilhelm selber dargestellt, wie er das Abbild des Gebäudes der Madonna übergibt; auf einem andern sieht man die Könige aus dem Morgenland dem Christuskind Geschenke darbringen, teils zu Fuß, teils zu Roß. Es fehlt nicht an Ritterkämpfen, wo Gewappnete mit Lanzen gegeneinandersprengen, und die bei den Normannen auch in musivischen Bildern beliebte Darstellung von Bogenschützen wiederholt sich hier und erinnert an die nordischen Eddasagen von Eigil dem Bogenschützen, welche die Normannen auch in dem fremden Süden nicht möchten vergessen haben. So ist hier Weltliches und Heiliges, die Bibel und das Naturmärchen in einer reichen Phantastik vereinigt und zu einer steinernen Bilderwelt rings um den Klosterhof verbreitet, ein merkwürdiges Seitenstück zu dem Mosaikenzyklus im Dome selbst.
Wie im menschlichen Wesen Ernst und Spiel sich immer zueinander gesellen und wie das Erhabene an dem Wechsel des Kleinen seinen Gegensatz fordert, macht Monreale recht deutlich. Dies ist überhaupt der Charakter der gotischen Architektur, die in ihrem universellen Ausdruck unendlich reicher ist als die der Hellenen, weil sie auf einer mehr umfassenden Anschauung der Natur beruht.
Der Klosterhof von Monreale ist eins der besten Denkmäler jenes frühern Mittelalters, in welchem der menschliche Geist in Architektur, Skulptur und Poesie diese fast rätselhafte Fülle von Formen auszusprechen begann und wie in der Kultur auf jedem Gebiet schöpferischer Tätigkeit die Gestalten miteinander verwandt sind, so ist es offenbar, daß auch die poetischen Formen der romantischen Poesie in Sonetten, Canzonen, Madrigalen, Terzinen und all den zahllosen bunten Strophen und Weisen genau den Mosaiken, Arabesken, Architektur-Ornamenten und Skulpturen jenes Zeitalters entsprechen. Wie man ferner den Charakter der Tragödie des Äschylus deutlicher erkennt, wenn man ihre leibhaften architektonischen Abbilder, die dorischen Tempel von Paestum und von Sizilien vor Augen gesehen hat, so werden die großen Gedichte Dantes und Wolframs von Eschenbach ebenso durch die Dome Italiens und die Münster Deutschlands in ihrem innern Wesen begreiflicher.