Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Bald darauf folgte die Umwälzung Neapels durch den Zug Karls VIII. von Frankreich, der Sturz der Aragonen und endlich die Eroberung des Königreichs durch Spanien. Es war in jenen Kriegen des großen Kapitäns Consalvo mit der französischen Armee, wo in der Nähe Andrias der weltberühmte Zweikampf stattfand, welcher als «Disfida di Barletta» unsterblich geworden ist. Ferdinand der Katholische verlieh demselben Consalvo zum Lohn seiner Dienste im Jahre 1503 auch das Herzogtum Andria. Hierauf schenkte Consalvo, welcher von dem kastilianischen Könige nach Madrid entführt worden war, im Jahre 1515 Andria seiner Tochter als Mitgift, und diese brachte das Herzogtum an ihren Gemahl, Don Luis Guevara de Cordova, und an dessen und ihre Nachkommen. Als sodann im Jahre 1527 der Marschall Lautrec seinen tollkühnen Zug nach Neapel unternahm, wurde Andria, vielleicht aus Rache des Schimpfs jener «Disfida di Barletta», von den Franzosen in Brand gesteckt. Ein Enkel Guevaras, mit Namen Consalvo, verkaufte im Jahre 1552 Andria dem Don Fabrizio Caraffa, welcher Graf des benachbarten Ruvo war. So ging das Herzogtum an diese Familie über. Sie war im 17. Jahrhundert eins der mächtigsten unter den Baronalgeschlechtern Neapels und fast den Balzi vergleichbar.

Die Caraffa von Ruvo wohnten im Palast zu Andria fast drei Jahrhunderte lang, bis sich die Katastrophe der Familie Balzo in ihrem Hause wiederholte. Der Erstgeborene, Ettore Caraffa Graf von Ruvo, war ein glühender Anhänger der Republik, welche die Franzosen unter Championnet in Neapel eingerichtet hatten. Er führte im Jahre 1799 neben dem General Duhesme republikanische Truppen nach Apulien, um diese Provinz den Bourbonen wieder zu entreißen, welche bereits Andria und Trani besetzt hatten. Ettore leitete selbst den Sturm gegen seine eigene Vaterstadt, und hier zeigt man noch die Stelle, wo dieser kühne Republikaner als der erste die Mauern erstiegen hatte. Zehntausend Bourbonische und das von den Pfaffen fanatisierte Volk verteidigten Andria mit Wut, aber die Republikaner drangen ein. Sie metzelten die Bürgerschaft nieder. Auf den Rat des wilden Caraffa wurde Andria, sein eigenes Besitztum, in Asche gelegt. Aber bald genug eroberte der gräßliche Kardinal Ruffo ganz Apulien. Caraffa ergab sich in Pescara; wider den Vertrag wurde er in den Kerker nach Castel Nuovo abgeführt und hier, nach der Rückkehr der Bourbons, hingerichtet. Colletta erzählt von ihm: «Er, ein Edelmann, sollte durch das Beil sterben; rücklings wollte er hingelegt sein, um mit Verachtung die Maschine herabfallen zu sehen, welche Feiglinge fürchten.»

Das Haus Caraffa wurde gleichwohl später in den Besitz seiner Güter in Andria gesetzt, und erst vor wenigen Jahren hat die verarmte Familie diese verkauft. Sie hat dort nichts mehr behalten als das Hohenstaufenschloß Castel del Monte. Dies ist es, was ich von der Geschichte Andrias zu sagen hatte.

Die Stadt liegt wenig mehr als eine Stunde vom Meer entfernt, auf einer reichbebauten Ebene. Hinterwärts wird dieses Flachland von einer wellenförmigen Hügelkette abgeschlossen, auf welcher, einer Pyramide ähnlich, eine Anhöhe hervortritt, auf ihrer Spitze ein Schloß tragend. Es ist Castel del Monte.

Die Landschaft ist ein unabsehbarer Mandelgarten. Oliven- und Weinkultur, auch Orangenpflanzungen wechseln damit ab, doch vorherrschend ist der Mandelbau. Wer die volkswirtschaftlichen Verhältnisse Apuliens nicht kennt, möchte glauben, daß die in solcher paradiesischen Fülle der Natur lebenden Menschen im Reichtum schwelgen, und er wird dann mit Verwunderung wenige reiche Besitzer und Tausende von mühselig ihr Leben fristenden Bauern und Tagelöhnern vorfinden.

Hart vor Andria überschreitet man den Tratturo, die mit Gras bedeckte breite Wanderstraße der Herden Apuliens. Die Mauern der Stadt sind gefallen oder nur noch stellenweise erhalten. Sie breitet sich in weißen Massen in dieser Ebene aus, denn alle Häuser sind entweder weiß übertüncht oder aus dem apulischen Kalkstein von weißgelber Farbe erbaut. Der herzogliche Palast der Balzi und Caraffa neben der Kathedrale mit hohem Turm bildet den monumentalen Mittelpunkt Andrias, aus deren Straßen noch viele andere Kirchen und Türme und hie und da ein Palast aufsteigen. Es ist eine massiv und solid gebaute Stadt moderner Erscheinung, aber trotz ihrer Größe – sie zählt 35 000 Einwohner – von so wenig vornehmem Aussehen, daß sie durchaus den Eindruck einer Stadt von Ackerbauern macht.

Ich fand sie in den Tagesstunden leer und tot, am Abend von Volk wimmelnd, das heißt nur von einer und derselben Klasse belebt, von Bauern und Feldarbeitern, in die blaue Jacke des Landes gekleideten Menschen von brauner Gesichtsfarbe und meist edel geformten Zügen. Die ruhige Gelassenheit dieser Hunderte von Menschen, wie sie auf den Plätzen umherstanden, ist mir ganz besonders aufgefallen. Es scheint ein gesittetes und gutgeartetes Volk zu sein, welches sich in einem immer gleichen Tempo zwischen Arbeit und Muße ohne Hast bewegt. Aber diese Ruhe macht nicht den Eindruck des Bewußtseins behaglichen Daseins, sondern den eines apathischen Zustandes in althergebrachten, stets erduldeten Verhältnissen. Die Geschichte Andrias, und sie gilt hier für hundert andere Städte des Königreichs Neapel, wo, wie in keinem andern Lande der Welt, der Feudalismus sich in Jahrhunderten schichtweise abgelagert hat, wird es klargemacht haben, daß die Bevölkerung dieser Stadt keine Entwicklung zum Wohlstand hat nehmen können. Sie ist die Geschichte eines nie unterbrochenen, bis auf die moderne Zeit fortgesetzten Feudaldrucks. Die Blutsauger des Volkes waren hier der Baron und sein Verbündeter, der Priester. Beide teilten sich in den Besitz der Äcker; fast die größere Hälfte der Landschaft Andrias war das Eigentum der toten Hand. Die Barone sind schließlich dahingeschwunden. Auch das Kirchengut ist endlich zum großen Teil verkauft worden. Aber diese Veränderung wurde eine Wohltat, die praktischerweise nur einzelnen Besitzern zugute gekommen ist, welche nämlich reich genug waren, die ausgebotenen Güter zu kaufen. Ein freier Bauernstand ist nicht geschaffen worden. Die Zustände sind dieselben geblieben; wenige besitzen, die große Masse sind Kolonen und Löhner.

Die schreienden Übel eines solchen Wesens in Süditalien und die soziale Krankheit, welche sich als dessen Folge in manchen Provinzen eingewurzelt hat, haben neuerdings die lebhaftesten Erörterungen veranlaßt, sowohl im italienischen Parlament als in der Presse. Ich erinnere u. a. an die in der «Opinione» erschienenen mittelländischen Briefe Villaris, welche ein wohlverdientes Aufsehen gemacht haben.

Auch Andria lehrt, daß der Mangel des besitzenden Bauernstandes den andern einer durch Arbeit und Industrie reich gewordenen Bürgerschaft bedingt. Den bei weitem größten Teil der Bevölkerung dieser Stadt bilden noch heute die Ackerbauern: sie wohnen nicht auf den Feldern, sondern in der Stadt selbst. Täglich ziehen hier zehntausend Feldarbeiter mit ihren Tieren aus und ein; so sagte mir der Syndikus Andrias, und er ließ mich selbst damit meine Frage beantworten: warum man die Straßen eines so stattlich gebauten Ortes nicht sauberzuhalten vermöge.

Die Läden der Kaufleute und Handwerker zeigen einen nur primitiven Grad fast durchgehends bäuerischer Bedürfnisse. Im Mittelalter war Andria durch seine Töpfereien berühmt, und diese mochten noch eine Überlieferung der alten Vasenkunst sein; denn das nahe Ruvo, fortdauernd ein Fundort herrlicher Gefäße, wie sie das Museum Jatta daselbst gesammelt hat, lehrt, daß jene Kunst hier im Lande heimisch war. Heute ist auch dieser Fabrikbetrieb auf das Notwendigste beschränkt.

Das jahrhundertelange Stehenbleiben volkreicher Orte Apuliens auf einer und derselben Stufe, des Ackerbaues nämlich, ohne daraus einen höheren bürgerlichen Organismus zu entwickeln, ist etwas durchaus Befremdendes. Man denke sich eine Stadt von 35 000 Einwohnern irgendwo in Toskana und Oberitalien, von Deutschland und England nicht zu reden, so würde sie ohne Zweifel ein vielfach gegliedertes Leben darstellen, welches sich in sozialen Vereinen, in Assoziationen von Arbeit und Kapital, in vielerlei Anstalten geselliger, musikalischer und wissenschaftlicher Natur auseinanderlegt. Nichts der Art ist hier zu finden; das einzige korporative Wesen ist das althergebrachte geistlicher Genossenschaften.

So große Städte dieses Landes wie Andria haben weder ein Lokal für gesellige Zusammenkünfte der Bürger noch überhaupt irgendein Gasthaus, wo Reisende auch nur mittelmäßigen Standes einkehren können. Sie müßten denn in irgendeiner schmutzigen Taverne sich einquartieren wollen. Der Grund dieser auffallenden Tatsachen liegt nicht gerade darin, daß Andria noch keine Eisenbahn besitzt, denn in Trani selbst fand ich noch im Jahre 1874 das erste Gasthaus der Stadt in einem geradezu unerträglichen Zustande; er liegt vielmehr darin, daß die mangelnde Betriebsamkeit und das unentwickelte Leben der Bürgerschaft die Entstehung von Hotels noch nicht zum Bedürfnis gemacht haben. Der Reisende ist demnach noch heutigentags, wie im Mittelalter, auf die Gastfreundschaft der Bürger angewiesen, und hier tritt ihm wieder die Lichtseite dieses Zustandes entgegen, nämlich die Fortdauer einer alten und edeln Tugend.

Wir genossen in Andria die liebenswürdigste Gastfreundschaft einer angesehenen Familie, deren Haupt ein ehrwürdiger Greis, der Domherr Guglielmi, ist. Sein Neffe Domenico war mir schon durch Rafael Mariano in Rom bekannt geworden als ein leidenschaftlicher Verehrer der deutschen Kultur. So fand ich in Andria ein Haus, worin man deutsche Studien betrieb und dem deutschen Wesen eine aufrichtige Liebe entgegenbrachte.

Ich will bei dieser Gelegenheit bemerken, daß die geistige Annäherung Italiens an Deutschland überhaupt im Zunehmen begriffen ist. Denn so ist die gegenwärtige freundliche Beziehung zu nennen: sie ist Annäherung, aber keine Sympathie. Die platonische Freundschaft, welche die Italiener heute für uns Deutsche empfinden, hat zu ihrer festesten Grundlage die Achtung der deutschen Wissenschaft. Die politischen Motive, welche seit 1866 hinzugekommen sind, haben zwar einen augenblicklich hohen Wert, aber dauernd und wesentlich sind sie nicht. Es lauert im Herzen vieler Italiener leider noch immer der alte Widerwille gegen die Deutschen. Denn die Eindrücke einer jahrhundertealten Geschichte, in welcher sich dieses Land mit und ohne sein Verschulden tatsächlich als Beute deutscher Eroberung und Fremdherrschaft befunden hat, lassen sich nicht in wenigen Jahren aus dem Volksgefühl vertilgen. Die Sympathien Italiens gehören auch heute noch dem ihm stamm- und kulturverwandten Frankreich an. So kurz ist nicht das Gedächtnis der Italiener, daß sie die einzige ruhmvolle Epoche ihrer jüngsten Nationalerhebung vergessen sollten, die Zeit, als Cavour mit Hilfe Napoleons III. seinen kühnen Plan ins Werk setzte und so Großes erreichen konnte. Nur die Erinnerung an jenes Bündnis mit Frankreich ist für sie reich an genialen Taten der Staatskunst und an tapfern Taten der Armee; und nur sie ist frei von dem Bewußtsein tiefer Demütigungen, wie sie Italien im Jahre 1866 erfahren hat.

Selbst der Verlust Nizzas und Savoyens hat die Sympathien der Italiener für Frankreich kaum gemindert. Im Jahre 1870 verhinderte nur die Schnelligkeit unserer Siege das Bündnis Italiens mit Napoleon, und der Zug Garibaldis, eines Patrioten, den man als Repräsentanten des italienischen Volksinstinkts gelten lassen darf, nach Frankreich, zur Bekämpfung derselben Preußen, denen sein Vaterland nacheinander die Befreiung Venedigs und den Fall des Papsttums in Rom verdankte, entsprang nicht der Schwärmerei für ein republikanisches Ideal allein, sondern auch dem romanischen Verwandtschaftsgefühl. Wenn sich das neue Italien heute aus Notwendigkeit unter den Schutz des Prinzips und der Macht des neuen Deutschlands stellen muß, so kann doch eine Zeit kommen, wo es ein viel wärmer und national empfundenes Bündnis mit Frankreich schließt. Trotzdem dürfen wir hoffen, daß die Kraft rationeller und praktischer Ursachen die gegenseitige Achtung und die freundliche Beziehung der deutschen und italienischen Nation zueinander mit jedem Jahre stärker machen wird.

Deutschland trennt von Italien eine schwer auszugleichende Verschiedenheit der Rasse, der Religion und der ganzen hier lateinischen, dort germanischen Bildung. Es fehlt noch den Italienern, dem Volk der schön begrenzten Formenplastik, in seinem natürlichen und geistigen Wesen das Verständnis für ganze große Distrikte in der germanischen Volksnatur. Vieles, was diese gerade aus den Tiefen ihres Seelenlebens offenbart, bleibt jenen unzugänglich. So viele Versuche auch gemacht worden sind, die deutsche Poesie und Musik in Italien einzuführen, so sind sie doch alle als gescheitert zu betrachten. Wir haben es vermocht, so gut dem Dante wie dem Shakespeare einen Kultus zu weihen, welcher fast national zu nennen ist: aber es ist zweifelhaft, ob unsere größten Dichter und Musiker ihre Altäre und Jünger in Italien haben werden, wenn ihre Werke und deren Wirkung in der Welt den langen Zeitraum Dantes und Shakespeares werden zurückgelegt haben.

Gleichwohl ist es nicht übertrieben, zu sagen, daß die Italiener heute mit Ehrfurcht auf Deutschland blicken, als auf eine terra sacra, worauf die Weihe des Gedankens liegt, und wo die Tempel des Wissens stehen. Die ungeheure Geistesarbeit, welche das deutsche Volk in seinem von der Natur nur mittelmäßig ausgestatteten Lande seit drei Jahrhunderten geleistet hat, und die logische Methode, in der es diese Arbeit darstellt, erregen das Erstaunen der Lateiner. Hier ist es das klare, wenn auch nicht in unserm Sinn schöpferische Denken, die Reflexion, der lebendige Trieb, alles Gedachte praktisch zu verwerten, endlich das Gefühl der Reformationsbedürftigkeit seiner im römischen Katholizismus dumpf gewordenen Geisteswelt, was den Italiener der deutschen Wissenschaft entgegenführt. Um dieser willen lernt er unsere Sprache. Er will vor allem die deutschen Denker begreifen.


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