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Seit dem 18. Mai 1853 ist landeinwärts noch eine Straße für die Bewegung des Volkes eröffnet worden, die Strada Teresa, von dem jetzigen Könige angelegt und zu Ehren seiner Gemahlin so genannt. Sie führt in einer Parabole um das Castel Sant Elmo durch Hügel und Täler über den Vomero und mündet dann auf die Chiaia. Sie ist noch nicht vollendet, noch nicht gepflastert; über manche Austiefungen sind erst Bretter gelegt, aber schon jetzt wälzt sich der Volksstrom über sie hin; Reiter, zu Pferd, auf Eseln und Maultieren, sprengen darauf einher, und Scharen von Fußgängern durchziehen diese Anlage, zumal an den Sonn- und Festtagen. Es scheint, als genügten der Volksströmung Neapels jene drei angegebenen Richtungen nicht mehr, und als habe so das Leben dieser ungeheuren Stadt sich durch die Berge ein neues Bett gewühlt, um sich dann vom Vomero wieder auf die Chiaia zu ergießen.
Die neue Straße wird sich überall mit Häusern besetzen, aber immer den Charakter des Ländlichen behalten und dem Bedürfnis der Meeranwohner nach Land- und Gartenluft vollkommen genügen. Hier wechseln die Ansichten der Stadt, des Golfs, der Berge und Inseln mit jeder Windung des Weges, mit jedem Hügel und Tal; man weiß nicht, wohin schauen, in diese blauen Meeresfernen, auf dieses lichtumflossene Amphitheater der Stadt, oder in jene üppigen Gärten mit heitern Villen und auf jene malerischen Gruppen von Pinien, Palmen und Zypressen. Wer hier von der Natur nicht ergriffen wird, muß fühlloser sein als eine Lavaschlacke.
Man steigt zu der Straße von den Studien herauf, wo stets Reihen von Eseln zum Vermieten bereit stehen. Besser wandelt es sich zu Fuß. Wir wollen hier hinaufgehen und vorwärtsschreitend nur die wechselnden Szenen still aneinander reihen. Das ungefähr würde unser Auge nacheinander festhalten: Castel Sant Elmo mit seinen weißen Mauern auf gelbbraunen Felsen, von Kaktus und Aloe umwuchert, von grünen Ranken umschlungen; Gärten in der Tiefe, nun an einer Schenke vorüber, welche ganz in Weingewinden begraben liegt; wieder braune wüste Tuffelsen; ein Tal von Zitronen, Tulpenbäumen, Granaten, ein narkotisch süßer Duft überall; wieder eine Vorstadt mit städtischem Gewerbe; wieder freie, lachende Hügel, Blicke auf Landhäuser; eine Schlucht mit Kaktus und Palmen; ein plötzlicher Blick auf die Stadt zur Linken, auf den Golf, auf Capri; ein Hain von Pinien, über welchem der Vesuv in dem zartesten Violett schwebt. Wieder eine wilde Felsenpartie; darauf Gärten und bizarre Landhäuser mit offenen Hallen. Eine ländliche Szene, Hirten, welche Ziegen treiben. Ein Kloster mit Staffage von Mönchen. Höhere Hügel mit Pinien – ach, wer kann alle jene schönen Bilder nennen! Meer, Himmel und Erde tanzen hier im Licht, und die Seele wird von dem Duft der Pflanzen berauscht. Ich warf mich an einer Zypresse hin, blickte in die Gärten unter mir und sah den Weinreben zu, wie sie in bacchantischer Lust sich um die Bäume wanden, leicht bewegt vom lauen Hauch der Sommerluft. Sie kamen mir vor wie die schwebenden Bacchantinnen von Pompeji. In einem Buch habe ich gelesen, wie sich ein Gelehrter den Kopf mit der Frage zerbricht, warum die Bacchantinnen jener Fresken in der Luft tanzen; weil dies unnatürlich sei und die Füße doch auf dem Boden stehen müßten, so könnten, meinte der Pedant, diese Figuren eigentlich doch nur als Arabesken gelten. Es ist ein schreckliches Ding die Gelehrsamkeit und Archäologie! Wie die Alten empfunden haben, fühlt man auch in diesem paradiesischen Grün auf dem Rücken liegend. Es ist eitel Bacchusdienst umher, die Seele wogt vor Lust in den Lüften wie eine Bacchantin mit dem Thyrsusstab, von der Erde weg schwingt sie sich, hebt sich über sich, wird ganz eine losgelöste Existenz, ein Jauchzen schwebender Lust.
Aber liegt es in der Schönheit der Natur oder nur in dem christlich gewöhnten Gemüt, daß die höchsten Wunder der Erde endlich doch immer zur Wehmut stimmen? Ich war auf eine Höhe hinaufgegangen; Schweizersoldaten zechten dort vor einer Strohschenke. Zu Füßen lag in abendlicher Klarheit das Meer mit den Eilanden Nisida, Procida und Ischia. Ich blieb von diesem Schauspiel hingerissen stehen. Ein gemeiner Schweizersoldat hatte sich zu mir gesellt und sagte plötzlich, auf dieses Paradies weisend: «Ach, es ischt zu schön, es macht ganz traurig!»
Ich habe die drei schönsten Seestädte Italiens, Genua, Neapel und Palermo gesehen, welche um den Vorzug ihrer Lage streiten, und kann sie also miteinander vergleichen. Unbezweifelt wird hier Neapel den Sieg davontragen, denn welche Stadt rühmte sich eines so klassischen Amphitheaters der Natur, eines solchen Golfs, des Vesuvs, der Küsten von Castellamare und Sorrent, und solcher schönen Inseln? Die Farbenpracht, die Größe und Weite dieses Gemäldes ist wohl ohnegleichen in der Welt; die Dimensionen sind so groß, daß sie das Auge nicht zusammenfassen kann; ins Unendliche scheint sich hier das Werk der Menschen wie der Natur auszudehnen und die schöne Erscheinung in Licht und Glanz sich aufzulösen. Man kann dies Totalbild Neapel nicht übersehen, wenn man es aus der Nähe anschaut; es sondert sich dann gleich in Gruppen. Um es mit dem Blick ganz zu umspannen, will es einen verkleinernden Augenpunkt, die Perspektive aus der Höhe oder die aus der Meeresferne, wo dann die Formen der Stadt sich verlieren und nur die der Natur allein wirken.
Dagegen gewähren Genua und Palermo die Anschauung eines von dem prächtigsten Rahmen übersichtlich umfaßten Gemäldes; jenes amphitheatralisch mit seinen Palästen und Landhäusern auf die Berge hinaufgestellt, dieses im üppigsten Tal verbreitet und von plastischen Bergen umringt, welche zu beiden Seiten das Kap Pellegrino und das Vorgebirge Zaffarano in nicht zu großer Weite in das Meer hinausstrecken. Sie machen also ein Bild, dessen Farbenreichtum sowohl als dessen Formen entzücken. Bei Neapel ist alles Weite, ja in Licht schwimmende Unendlichkeit, welche die Sinne mit sich fortreißt und dem zerteilten Blick keine Ruhe gestatten will. Wo man auch seinen Ort wählen mag, um die Stadt anzuschauen, auf Sant Elmo, Camaldoli oder dem Vesuv selber – und das sind die erhabensten Standpunkte für dieses wunderbare Panorama –, überall wird sich Neapel selbst als formlose Masse darstellen, überall die Landschaft und das Meer übermächtig hervortreten. Die Häusermenge, welche sich um den Golf ergossen hat, wirkt nicht architektonisch, sondern durch die Vorstellung schrankenloser Ausdehnung, welche das Leben in einer elysischen Natur genommen hat. Lage und Aussicht ist dem Menschen hier genug; es scheint, als habe er in Bewunderung solcher Herrlichkeiten seine Hände in den Schoß gelegt und es aufgegeben, mit der Natur in erhabenen Werken zu wetteifern. Nichts strebt in diesem Häusermeer auf; endlos dehnen sich die platten Dächer, ebenso viele Schauplätze, auf denen man des Anschauens froh werden kann; wenige Kirchenkuppeln, und diese klein und unscheinbar, fast nirgend ein Turm, unterbrechen die Einförmigkeit der horizontalen Linie. Unvergleichbar schöner nimmt sich Konstantinopel aus, dessen Kuppeln sich über die vielgegliederte Stadt aufschwingen, und dessen zahllose schlanke Minarette über Zypressen und Pinien dem Gemälde einen fremdartigen Reiz geben.
Diese architektonische Unterschiedlosigkeit, ja völlige Unbedeutendheit Neapels ist mir immer höchst wesentlich für seinen Begriff erschienen. Sie spiegelt so vollständig auch die Geschichte des Landes ab, den Unbestand und Wechsel flüchtiger Herrschaften, das Unorganische, die Bestimmungslosigkeit des Volksgeistes für irgendeine kulturgeschichtliche Aufgabe, Passivität und Genuß, das Gegenwärtige, höchste Lebendigkeit der Sinne und allgemeine, heitere Lebensentfaltung. Die Geschichte hat hier keine Form gewonnen; deshalb ist auch die Stadt formlos und unmonumental im höchsten Grade. Weder der Geist der Dynastien, noch des Volks hat sich hier in großen Monumenten ausgesprochen; und Monumente sind Verkörperungen von Kulturprinzipien, sinnliche Darstellungen des innern Wesens, der lebendigen Ideen, welche eine Zeit beherrscht haben oder noch beherrschen. Es ist für Neapel charakteristisch, daß seine vorzüglichste Kulturleistung der Musik angehört. Scarlatti und sein Schüler Porpora, Leonardo Leo, Francesco Durante, Pergolese, Paisiello, Cimarosa und alle jene Meister, welche bis auf Bellini und Mercadante aus der musikalischen Schule Neapels hervorgingen, sind seine Größen. Alle andern geistigen Potenzen, so viele glänzende Köpfe auch diese mit dem lebhaftesten Talent ausgerüstete Stadt hervorgebracht hat, haben entweder keine dauernd organische Entwicklung gewonnen oder sind nur als einzelne Erscheinungen bedeutend.
Dies unmonumentale Wesen wird dem Beschauer noch mehr in die Augen fallen, wenn er eben aus Rom kam, welches das Denkmal der Weltgeschichte selber ist. Aber auch abgesehen von diesem innern Charakter Roms, glaube ich, daß es keine Stadt auf der Erde gibt, welche so wie diese Landschaft und Architektur in völliges Gleichgewicht setzt, und wieder auch ohne die Natur gesehen, allein durch ihre architektonischen Massen zur Bewunderung zwingt. Man muß sich, um jene Verbindung des Landschaftlichen und Architektonischen zu erkennen, auf den Monte Testaccio, den Monte Mario, auf San Pietro in Montorio, auf den Turm des Kapitols stellen; um die Größe der architektonischen Wirkung allein zu erfahren, genügt schon ein Blick vom Monte Pincio, wo sich die Stadt für sich selbst in großen Linien und gewaltigen Formen als ein Riesenwerk der Geschichte darstellt. Hier bestimmen die Monumente der Kulturperioden, die Ruinen des Altertums, die triumphierende Kuppel des Christentums, die Vorstellung von dem, was Rom bedeutet.
Was sich in Neapel, dieser Stadt der Gegenwart, als architektonisch auffallend sondert und in die Augen springt, sind weder Ruinen noch Kirchen. Die Überreste des Altertums sind verschwunden; nie wurde hier für die Ewigkeit gebaut. Das einzige, erstaunliche Monument alter Zeit, welches Neapel besitzt, sind seine Katakomben, die vielleicht nicht einmal von denen in Syrakus an Ausdehnung erreicht werden; auch ist's die merkwürdige Grotte des Posilip, und beide Werke sind unterirdisch. An Kirchen besitzt Neapel mehr als genug, aber die wahrhaft demokratische Unterschiedlosigkeit, mit welcher sie sich anspruchslos den Häusern anreihen und in der Straße aufgehen, turmlos und mit schlechten Fassaden, gibt den Beweis, daß das neapolitanische Volk, obwohl von Geistlichen und Mönchen wimmelnd, dennoch zu jeder Zeit religiös indifferent gewesen sein muß. Begeisterung für die Größe der Kirche, für den Glauben hat hier nicht geherrscht; lange Zeit hat Neapel unter den Hohenstaufen mit den Päpsten in entschiedenem Kampfe gelegen. Die Lebenslust hat endlich alles Geistliche verweltlichen müssen, und ich glaube, recht deutlich spricht sich dies in dem neuesten Prachtbau Neapels aus, der Kirche San Francesco di Paola, welche Ferdinand I. für die Wiederherstellung seiner Herrschaft gelobt und gebaut hat. Diese Nachbildung des Pantheon dient eigentlich nur zur Verschönerung der Piazza Reale; und wie weit die Kirche davon entfernt ist, auf religiöse Würde Anspruch zu machen, kann man an ihrer Arkade sehen, in welche Läden hineingebaut sind, in denen Klaviere verkauft werden. Auch die Paläste, nebst den Kirchen die ansehnlichsten Gebäude in italienischen Städten, verlieren sich in der Unendlichkeit der Häuser, umbaut und eingeengt, als große zum Teil geschmacklose Massen, oder selbst wenn sie durch Majestät imponieren könnten, wie der burgartige Palast Maddaloni, nicht recht genießbar, weil sie eben nicht frei genug stehen. So springt nirgends das Mittelalter, überall der moderne Charakter in die Augen.
Wer nun in diesem Sinne des architektonisch Auffallenden Neapel betrachtet, wird finden, daß sich am meisten bemerkbar machen die schönen Villen auf den Hügeln, die Arsenale und Hafenbauten, das Schloß und vor allem die drei großen Kastelle. Überall treten sie in dem Totalbilde als die wesentlichen Glieder der Stadt hervor. Hoch auf dem Vomero thront über ganz Neapel das Castel Sant Elmo, unendlich malerisch gelegen und von bezaubernder Schönheit in der Morgen- oder Abendbeleuchtung; in den Golf hinein stehen Castel dell' ovo und Castel Nuovo, bizarre Massen aus grauem Tuff. So wird das feurige Roß Neapel gezügelt.
Es war mir nicht gestattet, das Innere des Castel dell' Ovo zu betreten. Es gehört zu den ältesten Gebäuden Neapels, da es schon dem Lukullus den Ursprung verdanken soll und Romulus Augustulus, der letzte Kaiser Roms, darin sein Leben beschloß. Friedrich II. vollendete es im Jahre 1221, ohne zu ahnen, daß es einst der Kerker seiner letzten Nachkommen werden sollte. Denn mehrere Jahre nach der unglücklichen Schlacht bei Benevent, in welcher König Manfred Reich und Leben verlor, schmachteten dort dessen Kinder in Ketten; nur seine Tochter Beatrix verdankte ihre Befreiung der Sizilianischen Vesper. Es war am 5. Juni 1284, als die Sizilianer die große Seeschlacht im Angesicht von Neapel schlugen, unter dem Befehl des berühmten Admirals Ruggiero Loria. Karls von Anjou Tochter schaute derselben von den Zinnen des Kastells zu, ängstlich des Ausgangs harrend; und nicht minder besorgt mochte die unglückliche Tochter Manfreds der Entscheidung entgegengesehen haben. Jene Prinzessin sah die neapolitanische Flotte untergehen oder fliehen; ihr Bruder Karl ward gefangen; es kamen zwei sizilianische Galeeren vor das Kastell; Loria forderte die unverzügliche Auslieferung der Tochter Manfreds und drohte, wenn sie verweigert werde, Karls von Anjou Sohn auf seinem Schiff enthaupten zu lassen. Die Gefangene wurde ausgeliefert. Nach achtzehn Jahren sah sie die Freiheit wieder; ihre ganze Jugend hatte sie im Gefängnis verlebt. Man führte sie im Triumph nach Messina, wo ihre Schwester Constanza, Gemahlin Peters von Aragon, sie wie eine von den Toten Erstandene begrüßte.
In derselben Burg endeten die Söhne Manfreds ihr Leben.