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Einmal in der Woche macht zur Sommerszeit das toskanische Staatsdampfschiff «Giglio» die Fahrt nach Elba, Regierungsdepeschen und Passagiere hinüberzubringen. Sie dauert, von Livorno aus, gegen fünf Stunden, weil sie über Piombino geht, wo das Schiff eine Weile anlegt.
Immer längs der tuskischen Küste, an den Maremmen hinsegelnd, erfreut man sich der grünen und weitausgedehnten Niederung, die sich zum Meere senkt und nach dem Lande zu durch das Gebirge geschlossen wird, welches die Gegend von Volterra durchstreicht. Türme an solchen Stellen, wo ein Landungsplatz sich befindet, wenige kleine Hafenorte, einige Fabrikgebäude und zerstreut liegende Campagnahäuser unterbrechen den einförmigen Strich der Maremmen, welche von Arbutusbuschwäldern und Myrten grünen und in ihrem Dickicht die reichste Jagd von Wildschweinen hegen.
Zur Zeit der Etrusker standen auf dieser Küste reiche, große und durch ihre Kultur mächtige Städte von Volaterrae ab bis nach Cäre und bis Veji in die Campagna von Rom hinunter. Man kommt in dem alten Cecina vorbei, einem noch heute mit demselben Namen bestehenden Ort, hart an der Küste. Weiter südlich lag das berühmte Vetulonia, dann Populonium, eine der mächtigsten Städte der Etrusker, welche ihre Herrschaft auf alle umliegenden Inseln des tuskischen Kanals erstreckt hatte. Sie wurde im Bürgerkrieg zwischen Marius und Sulla zerstört, so daß schon zur Zeit des Strabo von ihrer Größe nichts mehr übrig war als ein alter Turm, einige Tempel und Mauerreste. Ihre Trümmer sieht man auf dem Vorgebirge der kleinen Halbinsel, die das Ufer hier ausstreckt, überwildert von Gestrüpp und Heidekraut; eine kleine befestigte Ortschaft liegt auf ihrer Stelle. Das Ufer ist tot. Um die Halbinsel von Populonium segelnd, kommt man in den Hafen von Piombino.
Diese kleine Stadt von kaum 1200 Einwohnern war einst die Herrschaft des Hauses Appiani und im Jahr 1805 des Korsen Felix Bacciochi, Herzogs von Lucca und Piombino, und Gemahls der Prinzessin Elisa Bonaparte. Nach dem Aussterben der Appiani im Jahr 1631 kam das Fürstentum an Spanien, und 1681 an Hugo Buoncompagni-Ludovisi, dessen Nachkommen es seit 1815 wieder besitzen unter toskanischer Oberhoheit. Die kleinen Gassen der Stadt mit ihren gelben Häusern, das fürstliche Schloß auf der Höhe, schwarze Mauern und ein verwitterter Turm auf einer zerrissenen Klippe am Hafen schauen in das Meer einsam und weltverloren. Die Aussicht von der Stadt ist eines Herrschersitzes wert; ein ganzer Archipel liegt vor den Blicken, schöne Eilande in der blauen Meeresfläche, Giglio, Cervoli, Palmarola, Elba und Korsika. Gerade gegenüber, nur eine halbe Stunde entfernt, erhebt Elba seine mächtigen Bergmassen, die kleinen turmgekrönten Inseln Cervoli und Palmarola vor sich. Je näher man Elba kommt, desto rauher erscheinen seine Felsen; von Ortschaften ist kaum eine Spur zu sehen, außer einem kleinen Hafenort, den man linker Hand liegen läßt. Die Ufer schroff und von einer finstern Majestät. Hoch oben, auf der höchsten Spitze eines Berges, steht kühn ein grauer und uralter Turm, vom Volk Torre di Giove genannt, ein ehrwürdiges Wahrzeichen für den Schiffer, der auf diese Napoleonsinsel zusteuert.
Nun fliegt das Schiff um ein braunes Vorgebirge, und nicht gering ist die plötzliche Überraschung. Denn mit einemmal zeigt sich der große schöne Golf von Porto Ferrajo, ein herrliches Halbrund, amphitheatralisch von hohen Bergen eingefaßt, deren Abhänge bis zum Meer bedeckt sind mit Gartenhainen und Villen, mit Landgütern und Kapellen, in reizender Landschaft, unter Zypressen, hohen Aloeblumen und grünschattigen Maulbeerbäumen. Zur Rechten wird der Golf von einer Halbinsel umzogen, deren Isthmus sehr schmal ist, und auf dieser liegt in imposanter Haltung Stadt und Hafen Porto Ferrajo, das alte Argons und das spätere Cosmopolis, ein schönes Denkmal des glücklichen Cosmus I. aus dem Hause Medici, und das Gefängnis Napoleons.
Ich betrat die Stadt mit dem Gefühl, in eine historische Idylle einzutreten. Die großen und ernsten Linien des schönen Golfs haben etwas Feierliches von majestätischer Ruhe, die Stadt auf der Halbinsel, so graziös toskanisch, so lieblich und so klein, hat alles von ländlicher Einsamkeit und weltabgeschiedenem Wohlbehagen.
Die Straßen sind zusammengedrängt, doch überschaulich; die kleinen Plätze und grünen Orangengärten, die sich frei und luftig den Berg hinaufziehen, laden zum Bleiben ein. Die ganze Stadt schimmert in einer hellen gelben Grundfarbe, welche zu dem frischen Grün der Bäume und dem tiefen Blau des Meeres heiter stimmt. Ein herrlicher Aufenthalt für entthronte Könige, ihre Memoiren zu schreiben!
Auch die Türme und Basteien dreier Forts, Stella, Falcone und Castell Inglese, sehen nicht düster aus. Zu ihren Füßen liegt der Hafen, ein sicherer und schöner Zirkel, mit guten Kais eingefaßt, ein Werk des Cosmus von Medici. Durch die Tromba, das prächtige Tor in der Mitte des Zirkels, tritt man in die Stadt, nachdem man mit Befriedigung die vielverheißende Inschrift gelesen hat:
Templa Moenia Domos
Arces Portum Cosmus Med. Florentinorum Dux II
A Fundamentis Erexit A. D. MDXLIII.
Alles hat demnach jener glückliche Cosmus hier erbaut, Tempel, Mauern, Häuser, Burgen und Hafen – und Napoleon zu bauen nichts übriggelassen als die Luftschlösser seines erneuten Kaiserreichs.
Das Schiff landet an der Treppe, von welcher er sich einst mit seinen Garden nach Frankreich einschiffte; eine Szene, die sich die Einbildungskraft sofort wiederherstellt, und wie oft, und wo nicht in aller Welt, haben wir jenes Gemälde betrachtet: Napoleons Einschiffung auf Elba. Aber das Auge blickt immer zu der zierlichen Stadt empor und sucht ihre einzige Merkwürdigkeit, die Wohnung des verbannten Kaisers.
«Seht ihr's nicht droben liegen, das gelbe freundliche Haus unter dem Stella-Fort? Es schaut gerade her zum Hafen, seht dorthin, wo die Schildwache an dem Schilderhaus davorsteht.»
«Jenes mit den kleinen Fenstern? Welches Tuilerienschloß für einen Pygmäenkönig! Es gleicht einem Gartenpavillon.»
«Das ist der Palast des Kaisers und heute das Haus des Gouverneurs.»
Eine Barke bringt uns an den Kai, auf dem friedliche Bewohner der Stadt sich neugierig versammelt haben. Da gibt es keine Zudringlichkeit wie in Livorno, wo man vor Barcarolen und Facchini seines Lebens nicht sicher ist. Alles ist still, bescheiden und zufrieden. Aus dem Tor tritt man durch eine Gasse, welche Fisch- und Gemüsemarkt ist, auf die Piazza d'arme, einen langen und schmalen Platz, an dessen Ende die Hauptkirche der Stadt liegt. Die lautloseste Sonntagsstille herrscht hier, eine wahrhaft idyllische Stimmung und Lebensbehaglichkeit. Die reinlichen Häuser sind mit Blumen geschmückt, und von der Bedürfnislosigkeit der Bewohner zeugen die kleinen Verkaufsläden, das kleine Kaffeehaus und der anspruchslose Gasthof «L'ape d'oro», die goldene Biene, in welchem ich mit meinem Reisegefährten einkehrte. Ein einfaches Speisezimmer, ein paar schlichte, ganz schweigsame Tischgäste, ein mittelmäßiger Inselwein, ein dürftig Mittagbrot und ein billiger, freundlicher Wirt.
Wir finden keine Ruhe, ehe wir nicht zur Wohnung Napoleons hinaufgestiegen sind. Sie liegt zwischen dem Fort Stella und dem Falcone hoch auf dem Ufer, so daß sie mit der Vorderseite auf den Golf, mit der Hinterseite aufs Meer nach Piombino blickt und eine sehr schöne Aussicht gewährt. Aber dieser Blick in das sonnige weite Meer und auf die zauberisch lockenden Küsten Italiens ist für einen verbannten Kaiser zu aufregend. Das Haus besteht aus einem platten Mittelgebäude von zwei Stockwerken mit vier Fenstern in der Front und zwei kleineren Seitenflügeln, welche beträchtlich niedriger sind. Durch diese geht man in das Innere, denn das Mittelgebäude hat keine Tür. Einer Mauer umschließt den kleinen Garten, in welchem Napoleon seine Morgen- und Abendspaziergänge zu machen pflegte. Zitronenbäume, Blumen, ein paar Marmorbilder im Grün, das ist der ganze Reichtum des kaiserlichen Gartens von Elba. Napoleon selbst hat ihn angelegt und mit Akazien geschmückt. Mir erschien es sehr charakteristisch, daß ich in ihm Kanonen aufgestellt fand. Da der Garten zum Bereich des Stella-Forts gehört, dient er zugleich als Schanze, und ohne Zweifel standen dort die Kanonen schon zur Zeit Napoleons unter den Blumen aufgepflanzt; waren sie doch die Lieblingspflanzen des Kaisers, ihm schöner duftend als Rosen und Orangenblüten, und so mag man ihn hier in seinem kleinen Kanonengarten umherwandelnd denken, stillstehend an einer Haubitze, brütend, Entschlüsse abwägend, auf das Meer spähend, wo die Küste Italiens dem Blick greifbar ist, und hinüberforschend nach dem Kontinent, dem Schauplatz seines Ruhms, welcher ihm seine Taten zuruft, seine Tatlosigkeit anklagt und seine Seele beständig anstachelt: Cäsar du schläfst!
Aber gestehen wir es, das Bild Napoleons auf Elba erhebt uns nicht allzusehr. Die Heldenkraft eines einzelnen Menschen, welcher gegen die Welt kämpft und trotzig das Schicksal herausfordert, ist immer bewundernswert; aber sie läßt kalt, wenn sie nicht mehr den sittlichen Ideen und Zwecken der Geschichte, sondern nur dem eignen und kleinen Egoismus dient. Die Geschichte hatte Napoleon beseitigt; wie er sich von Elba erhob, erschien er als ein Mann, der in der Welt nichts mehr zu tun hatte und von ihren Interessen abgelöst war. Sein Kampf war titanisch, wie der des einzelnen gegen die Weltordnung sein mußte; sie zerbrach ihn wie ein Rohr, das ein rollendes Rad zerknickt. Dies ist der tragische Sinn von Elba und von den Hundert Tagen.
Napoleon auf Sankt Helena ist wieder eine ganz andere Gestalt. Da erregt er die tragische Wehmut, gleich dem Helden eines großen Trauerspiels, den wir sterben sehen mit einer von Leidenschaft gereinigten und versöhnten Seele.
Wie sonderbar! Es gibt in diesem Tyrrhenischen Meer noch ein zweites Felseneiland, welches als Verbannungsort eines Kaisers fort und fort in der Geschichte einen unsterblichen Namen tragen wird. Dies ist Capri, die Einsiedelei des furchtbaren Tiberius. Elba und Capri, Napoleon und Tiberius sind zwei widerspruchsvolle Kehrseiten der Despotie; dort ein Kaiser, gewaltsam auf die kleine Insel verbannt, der aus der unerträglichen Enge wieder in die Weltgeschichte sich zurücksehnt, nimmer satt von Herrschaft oder Heldentaten; hier ein Kaiser, der unbestritten die Welt besitzt und sie gleichsam mit einem Wink seiner Augenbrauen lenkt, und der sich mit einem halb ironischen, halb furchtsamen Lächeln freiwillig auf die kleinste Felsenscholle seines Reiches verbannt, als ein Eremit zu leben. Wahrlich, es war eine kindliche Naivität der Mächte von 1814, Napoleon nach Elba zu verbannen. Man möchte versucht sein, diesen unschuldigsten Gedanken der größten Politiker Europas aus einer romantisch-poetischen Anwandlung zu erklären. Wenigstens überkam mich der einzige Sinn, der in Napoleons Verbannung nach Elba liegt, plötzlich, als ich auf den Eisengruben von Rio stand, und ich sagte mir, daß die hohe Diplomatie von 1814 sehr poetisch gedacht habe, den Schlachtengott Napoleon auf diese Eiseninsel zu verbannen. Aus ihren unerschöpflichen Erzlagern haben sich die Völker seit mehr als 20 Jahrhunderten Waffen geschmiedet, und Rom, welchem einst Porsenna, König jener Etrusker, die zuerst die Erze Elbas verschmiedeten, die Bedingung gestellt hatte, das Eisen fortan nur zum Ackergerät zu verwenden, hat mit dem Eisen dieses Eilands die Welt bezwungen.
Durfte man glauben, daß der Beherrscher von halb Europa, der sich gewöhnt hatte, mit Königskronen zu spielen, urplötzlich in einen pensionierten Offizier sich würde verwandeln können, welcher auf einer idyllischen Insel Kohl pflanzt, Vögel abrichtet, ein paar Grenadiere als erinnerungsvolles Spielzeug gebraucht, und Sonntags mit seinen Nachbarn auf die Jagd geht? Dachte man an Diokletian, an Tiberius, an Karl V.? Müde Herrscher legen das Diadem ab, weil es drückend ist und nachdem sie selbst gesättigt wurden; aber auch die wuchtvollste Krone hat noch nie dem Haupte eines Mannes zu schwer geschienen, der sie als Emporkömmling dem Glück abgerungen hatte. Solche Menschen können zu herrschen nicht aufhören, ehe sie nicht demselben Schicksal im Kampf erlagen. Wunderlicher Einfall also, den korsischen Löwen auf dieses Eiland, ins offene Meer zwischen Frankreich und Italien hinzusetzen, gerade in den Brennpunkt seiner Herrscherleidenschaften.
Es liegt indes ein tiefer fatalistischer Sinn in diesem Ort von Napoleons Verbannung. Das Fatum, welches große Menschen stürzt, ist in der Regel von einer tragischen Ironie. Es pflegt seine Opfer in ihren eigenen Anfang zurückzustürzen und dann zu erschlagen, wenn sie die Götter des Glücks zum zweitenmal versuchen. Wenn Napoleon einen jener wilden und gewaltigen Berge von Marciana erstieg, so konnte er von ihrem Gipfel Korsika sehen, nahe vor sich mit seinen Städten, Wäldern und Bergen, mit tausend Stellen, die ihm seine Jugend ins Gedächtnis riefen. Der Anblick mußte ihm schmerzlich sein. So fand er sich gegen das Land zurückgeworfen, aus welchem er als junger Mensch ausgegangen war, nur erst ein namenloser Sohn der Fortuna, mit ungewisser Sehnsucht nach großen Taten. Dies war unerträglich. Er mußte den fatalistischen Ring zerbrechen; aber die Ironie des Schicksals ward er doch nicht los, denn es ersparte ihm nicht, daß er von Elba nach Frankreich wiederum in der Gestalt des Abenteurers auszog, in welcher er einst von Korsika in die Welt gegangen war.
Als die Marschälle Macdonald und Ney Napoleon in Fontainebleau anzeigten, daß er als Souverän Elba oder einen anderen Ort, etwa Korsika zu wählen habe, rief er heftig: «Nein! Nein! Ich will nichts gemein haben mit Korsika!» Es gehört wenig Psychologie dazu, hier in seiner Seele zu lesen. «Die Insel Elba! Wer kennt die Insel Elba? Man suche mir einen Offizier, welcher Elba kennt! Man zeige mir Karten, welche mir die Lage Elbas nennen!» Elba – doch – Elba! Und ein Gedanke ging durch seine Seele. Die Günstlinge seiner Schwester Elise von Toskana waren es, welche Elba vorgeschlagen hatten, da es Toskana so nahe lag, und so ging er, als Resultat so vieler welterschütternder Kämpfe endlich die lächerliche Herrschaft einer kleinen Insel anzutreten.