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Nachdem die Normannen jene Provinz erobert hatten, machten sie die Erzengel-Kapelle zu einem großen Wallfahrtsort. Die Völker Frankreichs und Englands pilgerten dorthin; sie wurde unermeßlich reich; sie hielt Schiffe auf dem Meer. Der höchste Orden des alten Frankreich, welchen Ludwig XI. stiftete, die goldene Kette mit der Medaille des Erzengels und den Pilgermuscheln, schreibt sich von diesem Heiligtum her. Auch in anderen Ländern wurde derselbe Orden gestiftet. Noch heute dauert jene Kapelle als Wallfahrtsort fort, und nur eben erst machte der Mont Saint-Michel in der Welt von sich reden, da die Bischöfe Frankreichs Tausende von Pilgern dorthin in Bewegung setzten, welche daherzogen mit dem Gesange des modernen Rachehymnus der Franzosen: «Sauvez la France et Rome.»
In der Legende von der Stiftung dieses französischen Heiligtums spiegelt sich, wie man erkannt hat, jene vom Garganus. Die Grottenkirche in Apulien war und blieb die Metropole des S. Michael-Kultus im Abendlande. Die französischen Normannen erkannten diese Tatsache an, und die Beziehung beider so weit voneinander entfernten Orakel dauerte im ganzen Mittelalter fort.
Um die Kapelle auf dem Garganus war schon im sechsten Jahrhundert ein befestigter Ort entstanden, das heutige Sant' Angelo. Es stritten sich um seinen Besitz die Langobarden, die griechischen Kaiser und die Sarazenen. Nachdem die Langobarden unter ihrem Führer Zoto sich Benevents bemächtigt hatten, unterwarfen sie sich auch den größten Teil Apuliens, und schon im Beginne des siebenten Jahrhunderts reichte ihr Herzogtum Benevent bis über Sipontum zum Garganus hin. Sie plünderten den Erzengel dort oben im Jahre 657, dann entriß ihnen das Land der griechische Kaiser Konstans II. Seither scheint der Garganus in der Gewalt der Byzantiner geblieben zu sein bis gegen die Mitte des neunten Jahrhunderts, wo sich die Sarazenen in Apulien festsetzten. Sie eroberten Bari im Jahre 841. Dort residierte ihr Sultan. Im Jahre 869 plünderten diese Heiden die Garganus-Kapelle. Aber zwei Jahre später gelang es dem kraftvollen Kaiser Ludwig II. nach langen Mühen, Bari mit Sturm zu erobern.
Doch die Araber behaupteten das Vorgebirge auch nach dem Falle jener Stadt; sie setzten sich daselbst fest und unternahmen von dort aus Streifzüge in die Landschaften Apuliens. Das Kap oder ein Teil desselben hieß von ihnen sogar Monte Saraceno; und dieser Name dauert noch heute fort.
Im Jahre 952 wird von einer Plünderung des Heiligtums durch die Araber gemeldet. Dann hörten ihre Raubzüge auf, als der griechische Kaiser nach der schrecklichen Niederlage Ottos II. bei Stilo in Kalabrien (982) wieder Herr Apuliens wurde. Ein griechischer Statthalter saß seitdem in Bari als Katapan (Capitaneus), von welchem Titel auch Apulien den Namen Capitanata erhielt.
Unter dem Schutze der griechischen Kaiser stand noch der Erzengel auf dem Garganus, als der schwärmende Sohn Ottos II. und der Byzantinerin Theophano als Pilger auf dem Kap erschien. Die Wallfahrt Ottos III. ist die erste eines Kaisers überhaupt, dessen der Erzengel sich rühmen konnte.
Der berühmte Gerbert, Papst Sylvester II., hatte in dem jungen Kaiser den ersten Gedanken eines Kreuzzuges zur Befreiung Jerusalems angeregt; und die Seele von Bildern des Orients erfüllt, pilgerte Otto III. zum Garganus im Jahre 998. Barfuß zog er aus dem Tore Roms; barfuß wanderte er von Benevent nach Sipontum, und mit Priestern, Mönchen und Rittern klomm er das wilde Kap empor. In der heiligen Grotte wollte er vor dem Fürsten der Engel, so sagte man, die Blutschuld sühnen, welche er durch die grausame Hinrichtung des Freiheitshelden Roms, des schönen Herzogs Crescentius, auf sich geladen hatte. Er fand die Kapelle verarmt, weil 40 Jahre zuvor von den Sarazenen ausgeraubt. Viele Schätze wird er dort niedergelegt haben.
Die Pilgerfahrt des Kaisers der Römer auf den Garganus machte großes Aufsehen in der damaligen Welt, und sie steigerte ohne Zweifel die Verehrung des Erzengels in allen Ländern des Westens. Langobarden Nord- und Süditaliens, Franken, Sachsen, Angeln, Normannen, Große und Geringe, sah man seither jahraus jahrein die steilen Pfade zum Kap emporklimmen, in der heiligen Grotte ihre Gebete zu verrichten und Opferspenden darzubringen, und dann herabsteigen mit geweihten Amuletten, an Hut und Kleid mit der apulischen Pilgermuschel geschmückt und in den Händen den garganischen Pinienzweig.
Hätten die Tempelhüter dort oben seit dem 11. Jahrhundert den modernen Gedanken gehabt, ein Fremden- oder Pilgerbuch in der Kapelle des Erzengels aufzulegen, so würden wir in ihm die größten Namen des Mittelalters lesen.
Zwölf Jahre nach jener Wallfahrt Ottos III. erschienen auf dem Garganus pilgernde Ritter aus jener Normandie, wo derselbe Erzengel sein berühmtes Heiligtum bei Avranches besaß. Gerade damals hatte sich der langobardische Stamm in den apulischen Seestädten gegen die Herrschaft der Byzantiner erhoben, und zugleich waren Apulien und Campanien wiederum von den Sarazenen bedrängt, die das langobardische Herzogtum Salerno zu erobern trachteten. Die Legende hat das erste Auftreten der Normannen in Apulien romantisch ausgeschmückt; soviel aber ist geschichtlich, daß es der Fürst von Salerno war, der diese fremden Abenteurer zuerst in seine Dienste nahm. In derselben Zeit, als dies geschah, erhob sich Melus, ein großartiger und heldenhafter Mann langobardischen Geschlechts in Bari, wider die byzantinische Herrschaft. Er wanderte flüchtig an die langobardischen Höfe von Capua und Benevent, Bundesgenossen und Helfer zu finden, und es ist hier, wie die Sage erzählt, daß er normannische Pilger, die von Jerusalem zurückgekehrt waren, am Garganus fand und diese überredete, unter seinen Fahrten gegen die Griechen zu dienen und auch ihre Landsleute in das fruchtreife Land Apulien zu rufen, wo er ihnen Sold, Beute und Ehren versprach.
Die Legende kann immerhin einen Zug von Wahrheit enthalten, denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß normannische Ritter damals die Wallfahrt zum Garganus machten. Die Beziehung zweier entlegener Heiligtümer desselben Erzengels, jenes in der Normandie und dieses auf dem Kap in Apulien, würden demnach dazu mitgewirkt haben, daß aus den abenteuerlichen Unternehmungen der Normannen in Apulien das Königreich beider Sizilien entstand.
Melus nahm im Jahre 1017 eine Normannenschar unter Rainulf in Sold; mit ihnen und anderm Kriegsvolk kämpfte er erst glücklich gegen die Byzantiner, bis er vom tapfern Katapan Bugianus im Jahre 1019 beim alten Cannae aufs Haupt geschlagen wurde. Es war dies derselbe Katapan, welcher die Stadt Troja gründete. Melus starb als Flüchtling, mit dem Titel eines Herzogs von Apulien geschmückt, am Hofe des Kaisers Heinrich II. zu Bamberg, wo er im Dom begraben ward.
Dieser fromme Kaiser unternahm hierauf im Jahre 1022 seinen siegreichen Zug nach Apulien, welches Land er den Griechen entriß und der deutschen Krone unterwarf. Ehe er von dort in das Vaterland zurückkehrte, stieg auch er als Pilger auf den Garganus.
An seine Wallfahrt heftete sich eine Legende, welche dies erzählt: Als der Kaiser in der Kapelle des Erzengels betete, erscholl plötzlich die heilige Grotte von angelischen Chören – ein himmlisches Licht erstrahlte; S. Michael erschien, das Missale in den Händen, welches er dem sichtbar werdenden Heiland darbot, der dasselbe küßte. Christus gebot dem Erzengel vor den Kaiser hinzutreten, und als dies geschah, blieb Heinrich in frommem Schauder starr und regungslos; da faßte ihn der Engel an der Hüfte und zog ihn über das heilige Buch herab, es zu küssen. Seit diesem Augenblick blieb der Kaiser an der Hüfte lahm. So erklärte die Legende das Hinken, welches Heinrich II. wirklich verunstaltete.
Wer in Rom die altertümlichen Wandmalereien sah, mit denen Honorius III. am Anfange des 13. Jahrhunderts die Vorhalle von S. Lorenzo fuori le mura ausschmücken ließ, wird sich einer dort gemalten Szene erinnern. Sie stellt den Streit Satans mit einem Engel dar, welcher die Seele eines Menschen und ihre Werke auf der Waage wägt. Ein goldener Kelch macht die Waage zu deren Gunsten sinken. Der Engel ist der himmlische Seelenführer Sankt Michael, und die Seele ist die des frommen Kaisers und Pilgers Heinrich II. Den goldenen Kelch hatte er vielleicht dem Erzengel auf dem Kap Garganus als Weihgeschenk dargebracht.
Ich weiß nicht, ob auf dem Grabmal dieses Kaisers in seinem Dom zu Bamberg (es ist ein Werk deutscher Renaissance vom Jahre 1513) seine Pilgerfahrt und die Garganus-Legende abgebildet ist. Schon vor seinem Zuge nach Apulien muß Heinrich II. den Erzengel besonders verehrt haben; denn in Bamberg steht der Michelsberg und auf ihm die alte Benediktinerabtei, deren Stiftung durch denselben Kaiser schon ins Jahr 1009 fällt.
Michelsberge gab es viele in Deutschland, zumal in Franken, Schwaben, Bayern und im Elsaß. Sie alle sind Sitze desselben Erzengels, wo er sich auf den Trümmern alter heidnischer Tempel niederließ. Es gibt einen Michelsberg bei Ulm, eine Michelskapelle bei Gundelsheim, einen Michelsberg bei Hersbruck zwischen Nürnberg und Regensburg, und viele andere. Wohl jeder einzelne hat seine Engellegende. Eine der ältesten dieser ist die Sage vom Michelsberg bei Besigheim, dessen Kapelle auf einem alten Heiligtum der Diana steht. Dort verkündete einst Bonifatius, der Apostel der Deutschen, den Heiden das Christentum; Satan hinderte ihn in seinem Werk. Der Apostel rief den Erzengel, ihm beizustehen, und der himmlische Herzog ließ sich herab, mit dem Teufel zu streiten, den er mit Ketten band und in die Hölle niederstürzte. Der Fürst der Finsternis aber hatte ihm im Kampf aus seiner Schwinge eine Feder gerissen, die von Diamanten und Rubinen funkelte. Bonifatius hob die Feder vom Boden auf und legte sie in ein Kästchen, welches er unter dem Altar der Kirche verbarg, die er auf der Stelle des Dianatempels errichtete. Die kostbare Erzengelfeder blieb daselbst bis auf die Zeit der Reformation, in deren Stürmen sie verschwand.
Es mochte während der Kreuzzüge sein, daß viele Heiligtümer und Legenden Sankt Michaels in allen Ländern Europas entstanden; jener Epoche gehört vielleicht auch die Legende vom Michelsberg an, worauf das Schloß Arthurs steht, in dessen Tiefen der Held Kimri mit den Rittern der Tafelrunde sitzt und schläft, und so lange schlafen wird, bis ihn der Erzengel erweckt.
Die Kreuzzüge führten zahlreiche Pilger nach dem Garganus-Heiligtum. Seine östliche Lage am Adriatischen Meer, gegenüber den von Byzanz beherrschten Küsten und auf der Straße des Orients, rückte dasselbe gleichsam Jerusalem nahe. Die Kapelle wurde deshalb von vielen Kreuzfahrern besucht, sei es auf ihrer Rückkehr vom Heiligen Grabe, oder ehe sie sich in den apulischen Häfen Barletta, Bari und Brindisi einschifften. So dankten sie Sankt Michael, welcher den in Syrien kämpfenden Kreuzfahrern oftmals als Helfer erschien, wie Sankt Theodor und Sankt Georg, oder sie sicherten sich vorweg seinen Schutz.
Um die Mitte des 11. Jahrhunderts erlosch die Herrschaft der Griechen in Apulien. Benevent wurde päpstlich, aber der Garganus kam in den Besitz der Normannen, denn schon Rainulf, der Söldner des Melus und der erste Graf von Aversa, hatte sich dort zum Herrn gemacht. Dasselbe Volk der Normannen hütete seither die beiden berühmten Kapellen Sankt Michaels; denn die Herzöge der Normandie beschirmten jene bei Avranches, und die Herzöge Apuliens normannischen Stammes diese auf dem Garganus. So war der uralte Schutzgeist der Juden im Laufe der Zeit zum Schutzengel der Normannen geworden.
Im Jahre 1137 wallfahrtete noch ein deutscher Kaiser dorthin, Lothar II. von Sachsen. Die Reihe von Fürsten, Päpsten und berühmten Personen, welche zum Garganus pilgerten, ist sehr groß; denn nie erlosch der Ruf dieses wunderbaren Heiligtums.
Als die Hohenstaufen die Erben der Normannen-Dynastie in Apulien wurden, übernahmen sie den Schutz der Kapelle des Erzengels. Es wird zwar nicht gemeldet, daß Friedrich II., Konrad IV. und Manfred eine Wallfahrt zum Garganus machten, aber daß sie es taten, ist nicht unwahrscheinlich, da sie sich so oft in seiner Nähe zu Foggia und in Sipontum aufhielten. Neugierde und vielleicht auch wirklicher Glaube an die Macht Sankt Michaels wird sie getrieben haben, seine Grotte zu besuchen und mit Weihgeschenken zu ehren. Man behauptet, daß Friedrich II. ein Stück vom Kreuz Christi in die Kapelle des Erzengels stiftete, und daß dieses noch heute dort bewahrt wird.
Nach dem Falle der Hohenstaufen waren es sodann die bigotten Anjou, welche das Heiligtum ganz besonders auszeichneten. Karl I. hatte vielleicht während seines Kampfes mit Manfred und Konradin dem Sankt Michael ein Gelübde getan, oder er bildete sich ein, unter dem Schutze des Erzengels zu stehen, denn er baute die Kapelle auf dem Garganus mit großer Pracht neu aus und gab ihr diejenige Gestalt, welche sie im wesentlichen noch heute besitzt. Er legte auch einen bequemeren Weg über das Gebirge nach Sant' Angelo an.
Alle seine Nachfolger auf dem Throne Neapels beschützten und pflegten die Engelkapelle. Sie blieb einer der besuchtesten Wallfahrtsorte Italiens, trotz Loreto und dem Sankt Nikolaus in Bari.
Dreizehn Jahrhunderte sind vergangen, seitdem dieses seltsame Heiligtum auf dem wilden Kap am apulischen Meere gegründet worden ist; Reiche, Völker und Völkersprachen sind untergegangen, neue Weltteile sind entdeckt worden, tausend Revolutionen, tausend Schöpfungen und Erfindungen des Menschengeschlechts haben Europa erschüttert, verwandelt und umgestaltet, aber der Erzengel dauert auf dem Garganus unverändert fort, und wie zur Zeit des Belisar und Narses beten auch noch heute Pilger in derselben Grotte zu demselben himmlischen Cherub des alten Chaldäa, dessen wirkliches Dasein irgendwo zwischen Sonne und Erde nie ein Astronom entdeckt hat, noch jemals entdecken wird. Wir selbst sind die Augenzeugen dieser erstaunlichen Tatsache, denn auch wir unternehmen jetzt, im Mai des Jahres 1874, unsere Wallfahrt auf den Garganus.