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1. Ortygia
Die Insel Ortygia ist ein Dreieck, welches sich gegen das Kap Plemmyrium sehr scharf zuspitzt. Heute bedecken sie ganz und gar die moderne Syracusa und ihre starken Festungsmauern. Sie war der älteste durch altbekannte Mythen geheiligte Stadtteil, ein Sitz der Artemis, und Ortygia genannt, weil auch die Insel Delos so hieß. Schon die Sikaner hatten sie angebaut; dann erst kamen die Korinther unter Archias, vertrieben jene und gründeten Syrakus. Mit der Zeit breitete sich die Stadt über die Insel hinweg auf der gegenüberliegenden Küste aus. Es standen daher auf der Ortygia die ältesten Heiligtümer von Syrakus; zunächst auf der äußersten Spitze der Junotempel, weiter hinein die Tempel der Diana und der Minerva. Starke Befestigungen umschlossen die Insel schon vor Dionys I., welcher auf dem Isthmus eine Mauer mit Türmen und eine Burg erbaute, wohl auf derselben Stelle, wo vor ihm Hieros herrlicher Palast gestanden hatte. Von Dionys rührten die stärksten Befestigungen der Ortygia her, und auch die Schiffswerften am kleinen Hafen, der seither der Marmorhafen hieß. Aber später erlitt Ortygia große Veränderungen, denn Timoleon riß die Dionys-Burg nieder und baute an ihrer Stelle die Tribunale. Er selbst wurde dort begraben, und über seiner Gruft das Timoleontium errichtet, ein Gymnasium für die Jugend. Zur Zeit der Belagerung durch die Römer stand indes auf dem Isthmus wieder eine Burg.
Heute ist, bis auf wenige Reste, jedes alte Denkmal Ortygias verschwunden. Die neue Stadt nimmt die ganze Insel ein, und gewaltige Mauern und Zitadellen aus der Zeit der Byzantiner, wie aus der Epoche Karls V. und Karls III. von Neapel, machen sie bei ihrer Lage zu einer der stärksten Festungen des Königreichs. Auf der äußersten Spitze erhebt sich jetzt der Turm des Griechen Georg Maniaces, Generals des Kaisers Konstantin des Paphlagoniers, der im Anfang des 11. Jahrhunderts Syrakus den Sarazenen entriß und jenes feste Fort erbaute. Auf seiner Pforte hatte er die berühmten bronzenen Widder aufgestellt, Erzwerke aus der Zeit des Dionys; sie kamen später nach Palermo, wo man noch den einen derselben im Schloß aufbewahrt, da der andere durch einen Brand verzehrt wurde.
Nicht weit von hier fließt die berühmte Arethusa. Sie sprudelt aus zwei alten, gewölbten Grotten, in die man durch eine schmutzige Wohnung hinuntersteigt. Es macht einen tieftraurigen Eindruck, zu diesem heiligen Wasser hinabzusteigen, begleitet von Scharen zerlumpter Bettelkinder, welche das Tamburin schlagen, und von halbnackten Weibern, Wäscherinnen, die mit ekelhafter Natürlichkeit im kristallhellen Quell umherwaten, dem Fremden das Wasser zu schöpfen; elende Karikaturen jener Nymphen Dianas, die einst in diesem Borne badeten. Wo die Arethusa aus den Grotten herausströmt, wird sie (erst seit kurzem) von einem gemauerten Halbrund umfaßt, in dessen Mitte ein Piedestal aufgestellt ist für eine noch zu erwartende Bildsäule der Quellnymphe. Auch den «Occhio della Zilica» zeigte man mir nahe am Meer, jene Süßwasserquelle, die mitten in den Salzwogen sprudelt und der Sage nach der Flußgott Alpheus ist, der hier die flüchtige Nymphe erhaschte.
Der herrlichste Überrest auf der Ortygia und zugleich von allen Gebäuden des alten Syrakus überhaupt ist der Minervatempel. Die Kathedrale, welche in ihn hineingebaut wurde, hat ihn vor dem gänzlichen Ruin gerettet. Mächtig wirken noch die zweiundzwanzig Säulen des Peristyls, dreizehn auf der nördlichen und neun auf der südlichen Seite, mit ihrem Architrav und Fries, nun kläglich eingemauert in die dumpfen Wände einer Kirche. Es sind herrliche dorische Säulen mit prachtvollen Kapitälen und je zwanzig Kannelüren; ihre Höhe beträgt 8,60 m, ihr Durchmesser 2 m. Der Tempel war ein Hexastylos peripteros von sechsunddreißig Säulen, auf einem Unterbau von drei Stufen erhöht; in der Länge zählte er 56,80 mm, in der Breite 22,75 m. Nach den Angaben Diodors, welcher erzählt, daß die Geomoren von Syrakus die Güter des Bauunternehmers Agathokles einzogen, weil er sich vom besten Steinmaterial ein prachtvolles Haus errichtete, ergibt sich als Zeit für den Bau des Minervatempels die Periode von Gelon, als eben die Geomoren noch nicht von den Plebejern vertrieben waren. Cicero beschreibt das prächtige Heiligtum in seinen Verrinischen Reden. Er preist die Türen des Tempels als die herrlichsten, die man sehen konnte. Auf ihnen waren köstliche Bildwerke in Gold und Elfenbein gearbeitet und darüber ein überaus schöner Medusenkopf. Im Innern sah man auf den Wänden den Kampf des Königs Agathokles mit den Karthagern und die Bildnisse von siebenundzwanzig Königen und Herrschern Siziliens in Malerei dargestellt; vielleicht in ähnlicher Anordnung wie heute die Bildnisse der Päpste das Innere von Sankt Paul vor den Mauern Roms schmücken. Nach dem Bericht des Athenäus zierte die Giebelspitze des Tempels ein goldener Minervaschild, dessen Glanz den Schiffenden weithin sichtbar blieb; denn es war Gebrauch, daß diejenigen, welche aus dem Hafen von Syrakus schifften, ein Gefäß voll brennender Kohlen vom Altar des olympischen Zeus mit sich nahmen und solange in Händen hielten, als der heilige Minervaschild zu sehen war. Marcellus verschonte den Tempel, seine Weihgeschenke und Bilder; aber Verres raubte alle darin befindlichen Gemälde, brach aus den Türen die Bildwerke und den Medusenkopf und eignete sich viele andere Schätze der Kunst zu.
Auch vom Tempel der Diana hat man Spuren und Reste auf Ortygia entdeckt. Man sieht heute in der Casa Santoro zwei kannelierte dorische Säulen in einem Hof. Sie haben nur sechzehn Kannelüren und stehen auffallend eng beieinander, denn die Interkolumne beträgt weniger als einen Säulendurchmesser.
Dies sind die alleinigen Reste der alten Inselstadt. Von ihren andern herrlichen Bauwerken ist keine Spur geblieben, und wahrhaft trostlos erschien mir das heutige Syrakus, das noch dürftiger ist als das heutige Agrigent. Seine engen Gassen starren von Schmutz, Armut und Unwohnlichkeit. Ich habe nirgend einen Ort gefunden, der so grenzenlos melancholisch wäre als Syrakus. Die beiden prächtigen Häfen sind so totenstill wie die Stadt und wie das steinerne Feld der Achradina, um dessen tief ausgehöhlte Kalksteinküsten die smaragdnen Wellen trauervoll auf- und niederrauschen. Von der Uferbrüstung der Arethusa aus muß man in stiller syrakusischer Mondnacht auf dies wunderbare Panorama blicken, um alle Schauer der Endlichkeit in das vereinsamte Herz zu fassen. Wehmütiger und geisterhafter dünkte mir hier die Nacht als selbst auf den Kaiserpalästen des alten Rom – was man hier empfindet, ist ja auch edelstes Heimweh nach Hellas, dem Vaterland jeder denkenden Seele. Am Kai des großen Hafens flimmern nachts Lampen zwischen den Bäumen des einzigen Spaziergangs der Syrakuser; dort stehen auf Sockeln die ärmlichen Bildsäulen des Hieron und des Archimedes; und da wandelt nun umher das moderne Geschlecht der Syrakuser, freudelos, dürftig, ohne Wissenschaft, ohne Kunst, ohne Industrie; dörfisch herabgesunken in die engste Lebensbeschränkung und Sklaven des verhaßten Neapel. Ich sah nicht ein schönes Antlitz unter ihnen; kaum leuchtet tröstend ein Feuerblick aus den Augen einer vorüberschwebenden schwarzverhüllten Signora und gemahnt an die Zeiten des Aristippus und der sizilischen Lais.
Wenn ich von jenem Kai aus den herrlichen Hafen in dieser unglaublichen Verödung erblickte (denn nur zwei türkische Fahrzeuge ankerten damals vor der Ortygia), so fiel mir Ciceros Ausruf ein: «Nihil pulcrius quam Syracusanorum portus et moenia videri potuisse.» Und wohl war der Handelsverkehr des alten Syrakus so groß wie der Konstantinopels in den blühendsten Zeiten.
Man muß das Museum der heutigen Stadt, welches dem Minervatempel gegenüber liegt, besuchen, um auch hier ganz und gar melancholisch zu werden. Alles was von der Fülle der köstlichsten Kunstwerke, womit einst Syrakus prangte, hier zusammengekehrt ist, gleicht einem Häuflein von Scherben, verteilt an die Wände eines unheimlichen Zimmers. Auch die berühmte Venus von Syrakus steht kopflos da, mit verstümmeltem rechtem Arm. Sie ist vorgestellt dem Bad entsteigend. Die Linke hält das Gewand unter dem Leibe zusammen, die Rechte beschattet die Brust. Der Körper ist sehr in Fülle, der Unterkörper auffallend stark und kräftig; eine Venus für Michelangelo. Unter allen berühmten Gestalten der Liebesgöttin, der von Milo, von Capua, vom Kapitol, von Florenz, zeichnet sich die syrakusische am wenigsten durch Reiz, am meisten durch vollweibliche Schönheit aus. Ihre Bewegungen haben nichts von jener koketten Grazie der Venus von Florenz und Rom, sie ist ruhender in Fülle ihrer göttlichen Sinnlichkeit. Die Auffindung der herrlichen Statue im Garten Bonavia zu Syrakus (wie mag sie die frechen Augen des Verres gereizt haben!) geschah durch den Ritter Landolina im Jahr 1804 und gab Veranlassung zu diesem Museum. Jener verdienstvolle Nacheiferer Mirabellas und der Bischof Filippo Maria Trigona stifteten dasselbe im Jahr 1809. Einige Vasen, Statuen, griechische Inschriften, Bronzen, viel Wust von Anticaglien setzen es zusammen. Sizilien hat kein Nationalmuseum; wollte man so viele zerstreute Sammlungen von Noto, Syrakus, Agrigent, Biscaris Museum in Catania und jenes von Palermo, das durch den Besitz der selinuntischen Metopen so unendlich wichtig ist, vereinigen, so würde sich eine stattliche Nationalsammlung bilden; an Münzen möchte sie kaum ihresgleichen haben.