Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Siebenundzwanzigster Brief

Bangor, den 23sten Juli 1828

Chère et bonne.

Eine kleine Unannehmlichkeit dieser sonst so reich begabten Landschaft sind die Wirkungen der Ebbe und Flut, welche erstere einen bedeutenden Teil des Tages hindurch eine große Strecke des Menai, wie der hiesige Meerarm genannt wird, austrocknet, und nur schlammigen Sand zurückläßt. Wahrscheinlich sind diesem Umstande auch die über alle Vorstellung hartnäckigen Fliegenschwärme zuzuschreiben, die zu Tausenden, gleich Bienen schwärmend und auf Raub ausgehend, Menschen und Vieh attackieren, und ihr Opfer nicht leicht wieder loslassen. Man reitet vergebens, was das Pferd laufen kann. Der Schwarm, in einen Klumpen geballt, wie eine mazedonische Phalanx, fliegt mit, und zerstreut sich über seine Beute, sobald man wieder anhält, nur dem Totschlagen weichend. Ja selbst in ein Haus hineinzutreten, hilft nicht immer. Denn ich habe es auf Spaziergängen einigemal erlebt, daß diese Fliegen, wenn sie einen einmal angenommen haben, geduldig draußen warten, bis man wieder herauskommt. Das einzige Mittel ist, eine Stelle aufzusuchen, wo ein starker Zugwind weht, den sie nicht vertragen können. Dies wissen auch die an den Bergufern weidenden Kühe recht wohl, die man immer an solchen Stellen einsam ruhen und wiederkäuen sieht. Ich betrachtete heute lange ein solches Tier, wie es auf einer ganz isolierten Felsenspitze, die Kontur schroff sich gegen die Luft abzeichnend, stand – unbeweglich, bis auf die leise Arbeit seiner Kinnladen, und nur zuweilen mit dem Schwanz sich an die Seite schlagend. Wie schön, dachte ich mir, könnte ein Künstler ein solches Bild kolossal und zum Apis erhoben, und auch mit dem Mechanismus dieser einfachen Bewegungen versehen, nachahmen, und welche Akquisition wäre dies für einen deutsch-englischen Park in der Heimat! z. B. in Cassel, dem Herkules gegenüber, oder gar in Wörlitz auf dem feuerspeienden Berge weidend. Gewiß eine verdienstvolle Idee, die Du fruchtbar zu machen suchen mußt. Erinnerst Du Dich noch Clemens Brentanos, als ihm und dem genialen, liebenswürdigen Schinkel der Graf L... die Aussicht von seinem Jagdschlosse zeigte, von wo man eine anmutige aber flache Waldgegend übersieht, und nun zu den beiden Herren gewandt, der Graf diese etwas einfältig fragte, auf welche Art wohl hier eine recht große Verschönerung anzubringen sei? Brentano verfiel in tiefes Sinnen, und nach einiger Zeit sagte er langsam, den erwartungsvoll zuhörenden Gönner mit seinen kuriosen Augen ernsthaft anstarrend: »Wie wäre es, Herr Graf, wenn Sie ein Gebirge aus Brettern aufführen, und dasselbe mit blauer Ölfarbe anstreichen ließen?« – Solches aber, wenn auch nicht so grell und handgreiflich, geschieht im lieben Vaterlande noch täglich, selbst ohngeachtet des neuen Berliner Gartenvereins.

 

Geliebte Julie, willst Du mit mir nach dem Park des Marquis Anglesea, Plas Newydd, auf Anglesey fahren? Die Phantasie-Pferde sind schnell angespannt.

Wir passieren wieder die Riesenbrücke, folgen eine kurze Zeit der Chaussee nach Irland, und sehen schon von weitem die Säule emporragen, welche das dankbare Vaterland dem General Paget, damals Lord Uxbridge, jetzt Marquis von Anglesea und Vizekönig von Irland, statt seinem in Waterloo gelassenen Beine hier aufgesetzt hat. Eine halbe Stunde weiter öffnet sich das Parktor von Plas Newydd. Das Merkwürdigste hier sind einige Cromlechs, deren eigentliche Bedeutung unbekannt ist, die man aber für Grabmäler der Druiden hält. Es sind ungeheure Steine, gewöhnlich nur drei bis vier, die eine Art rohen Torweg bilden. Es gibt deren von so kolossaler Größe, daß man kaum begreift, wie man sie ohne die kompliziertesten mechanischen Hilfsmittel bewegen, und in solche Höhe hinaufbringen konnte. Der menschlichen hohen Kraft, von unumschränktem Willen oder Fanatismus angeregt, ist indessen gar vieles möglich. Las ich doch einst, daß ein Schiffskapitän der an den Ufern Japans hinfuhr, über die sich daselbst hinziehende Bergkette zwei Dschunken der größten Art, nicht viel kleiner als unsre Fregatten, durch Tausende von Menschen zu Lande transportieren sah.

Die hiesigen Cromlechs, welche nicht zu den größten gehören, haben wahrscheinlich Anlaß zu dem Gedanken gegeben, an einer passenden Stelle, wo man unter andern eine schöne Ansicht des Snowdon hat, eine Druiden-Cottage zu bauen. Es ist aber ein seltsames Ding daraus geworden, mit altertümlichen und modernen Gegenständen, wie ein Chaos, angefüllt. In den kleinen, dunkeln piècen war auf artige Weise Licht durch Spiegeltüren hereingebracht, die in andern Zimmern wiederum dazu dienten, die vorteilhaftesten Partien der Landschaft, wie unter Rahmen und Glas, zu fassen. Im Fenster des Salons stand überdies ein großer Guckkasten, eine camera obscura und ein Kaleidoskop neuerer Art, welches nicht, wie die alten, gefüllt wird, sondern dem jeder Gegenstand, auf den man es hält, sobald man es nur bewegt, zum nie aufhörenden Veränderungsspiele dient. Blumen machen besonders durch den sich ewig verschieden brechenden Glanz ihrer Farben einen wunderbaren Effekt. Solltest Du ein ähnliches wünschen, so kann ich Dir es von London aus leicht senden lassen. Es kostet 8 Guineen. Das Schloß und die übrigen Anlagen bieten gar nichts Erwähnungswertes dar, werden auch selten vom Eigentümer besucht, dessen Haupt sitz in England liegt.


Den 23sten

Heute erhielt ich mit großer Freude einen langen Brief von Dir. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Diese und ähnliche Stellen sind ausgelassen, da sie sich bloß auf Familienverhältnisse beziehen, und gar kein Interesse für den Leser haben können. A. d. H.

Es freut mich, daß Du L...s Scherze nicht mißdeutest, und ihn nicht mit Frömmel für einen Gottlosen hältst. Er macht sich wohl zuvörderst nur über den Köhlerglauben jener Menschen lustig, die sich von dem Unaussprechlichen, dem Wesen aller Dinge, das wir nur ahnen, nicht begreifen können, ein sonderbares Mittelding von menschlichem Herrn, Schulmeister und dienendem Schutzgeiste bilden, sich stets am Kinder-Gängelbande von ihm geleitet glauben, und alles was sie sehen und hören, und sie irgend angeht, immer für eine, bloß auf ihre Wenigkeit sich beziehende, Handlung Gottes halten; wenn sie aber gar z. B. ins Wasser fallen, oder das große Los gewinnen, dann Gottes Finger unwidersprechlich darin erkennen, und wenn sie einer Gefahr entgehen, Gott so dafür danken, als habe eine fremde Kraft die Gefahr, Gott aber nur wie ein sorgsam herbeieilender Wächter, durch schnelles Eingreifen die Errettung gebracht. Sie möchten doch bedenken, daß von wo die Rettung kömmt, auch die Gefahr sich herschreibt, wo der Genuß auch die Qual, wo das Leben auch der Tod. Das Ganze ist eben Weltleben, und kann nicht nach Willkür, sondern nur nach unwandelbaren Gesetzen gegeben und geordnet sein. – Solche kleinliche Ansichten, als die gerügten, ziehen die Idee der Allmacht zu unsrer Gebrechlichkeit herab. Danken sollen wir für alles Sein der ewigen Liebe, wäre es auch ohne Worte – und kein Gebet vielleicht kann mehr als dieses, in Entzücken verstummende Dankgefühl – vom Menschen dargebracht, der Gottheit würdig sein; – kindisch aber ist es, alle jene alltäglichen und äußern einzelnen Begebenheiten, wie Glücks- und Unglücksfälle, Reichtum, Armut, Sterben u. s. w., die den Naturgesetzen untertan sind, oder von uns selbst, nach dem Maßstab unsrer Kräfte herbeigeführt werden, immer einer ganz besondern, und der Himmel weiß überdies, wie unnützen! Erziehung unsrer lieben Individuen durch die Allmacht zuzuschreiben.

Ferner aber spottet er über die Christen – die es ganz und gar nicht sind, und darunter, sagt er, stehen als Nummer eins, nicht sogenannte Atheisten (überhaupt eine sinnlose Benennung), nicht einmal wahre Fanatiker, sondern jene heillose race der modernen Frömmler, die entweder nervenüberreizte Schwächlinge,Herrlich sagt Jean Paul irgendwo von solchen: »Ich habe diese verdammte Erhebung der Seelen bloß aus Niedrigkeit, öfters mit den englischen Pferdeschwänzen verglichen, die auch immer gen Himmel stehen, bloß weil man ihre Sehnen durchschnitten.« oder Heuchler der gottlosesten Art sind von Jesus erhabener Reinheit entfernter als der Dalai Lama. Sie sind die wahren Pharisäer, und zugleich Händler in der Kirche, die Christus heute noch zum Tempel hinausjagen würde, und die, wenn er unter andrem Namen wieder erschiene, zuerst rufen würden: Kreuziget ihn!Man irrt sich sehr, wenn man glaubt, daß hier bloß Stoff zum Lächerlichen, und zu einiger Indignation der Vernunft vorhanden sei. Der Bund der Frommen ist nicht ohne Gefahr für die Freisinnigen. Hier gährt Jesuitenmasse, die unter den Protestanten Gestalt gewinnen will, weil der Katholizismus zu aufgeklärt für sie wird. Dieselben Grundsätze, denen jene ihre Macht verdankten, leiten auch sie, derselbe esprit de corps herrscht unter ihnen, eine geregelte Organisation bildet sich, und statt des acquetta gebrauchen sie mit Erfolg den, oft noch zehnmal giftigeren, bösen Leumund, wie so manches Mittel der Finsternis, das einer geheimen Verbrüderung unbemerkt zu gebrauchen leicht ist. Mehr aber wird Deutschland von solchen Heiligen zu leiden haben, als von den Freiheit träumenden Studiosen auf der Wartburg!

In allem diesen muß ich selbst L... ziemlich beistimmen, wenn auch bei dem Gegenstand der ersten Bemerkungen des vorliegenden Briefes jede Ansicht nur Hypothese bleiben, und in der Wahrheit alles viel anders sein muß, als wir es überhaupt zu ergründen fähig sind. Hätten wir es wissen können, und sollen, so würde der Schöpfer unsres Daseins auch dies uns offenbart, und zwar so unbezweifelt offenbart haben, als wir es mit Bestimmtheit wissen, daß wir fühlen, denken und sind. Was uns nötig war, ist uns im Innern offenbart, und dies haben von jeher die größten Geister der Erde in mehr oder minder erleuchteten Worten ausgesprochen.

Daß die Menschheit nicht wie eine willenlose Maschine stille zu stehen, oder im Kreise sich ewig umzudrehen brauche, sondern weiter schreite, und aus sich selbst fort werde, bis sie einst ihren möglichen Lebenszyklus geendigt, und ihre höchste Perfektibilität erreicht hat, daran zweifle ich keinen Augenblick. Meine Hypothese würde dabei nur die sein, daß die Erde, gleich dem einmal vom Stapel gelassenen Schiffe, unter dem Schutz und Zwange unwandelbarer Naturgesetze, nun ihrer eigenen Mannschaft überlassen bleibe. Wir selbst machen hinfort unser Leben (so weit es vom Menschen und nicht von jenen Gesetzen abhängt) so wie unsre Geschichte, im Großen wie im Kleinen, durch unsre eigene moralische Kraft oder Schwäche. Keine besonders eingreifende Macht ist meines Erachtens anzunehmen, die z. B. Napoleon einen harten Winter in Rußland schickt, um ihn zu stürzen, sondern Napoleon stürzt an dem fehlerhaften Prinzip, das ihn selbst leitet, und welches auf die Länge, an dieser oder jener scheinbaren Ursache, immer untergehen muß. Das Naturereignis tritt, in bezug auf ihn, nur zufällig ein, an sich aber ohne Zweifel in der notwendigen Folge der Gesetze, denen es unterworfen ist, wenn diese Gesetze uns gleich unbekannt sind. Aus eben dem Grunde wird es dem Guten, Fleißigen, Sparsamen, Klugen etc. in der Regel der liebe Gott gut gehen, und vieles was er wünscht, gelingen lassen, dem Toren und Bösen aber, der sich in Krieg mit der Welt setzt, wird es nicht so gut ergehen. Dem, der die Hand im Eise liegen läßt, wird sie der liebe Gott höchstwahrscheinlich erfrieren, und dem, der sie ins Feuer hält, verbrennen lassen, es müßte denn der unverbrennbare Spanier sein. Die zu Schiffe gehen, werden zuweilen vom lieben Gott die Schickung des Ertrinkens zugeteilt erhalten, wer aber nie das Land verläßt, den wird der liebe Gott auch gewiß nie im Meere umkommen lassen. Daher heißt es auch mit Recht: Hilf Dir selbst, und Gott wird Dir helfen. Die Wahrheit ist, daß Gott uns schon von vornherein geholfen hat. – Das Werk des Meisters ist vollendet, und, soweit es beabsichtigt war, vollkommen. Es braucht daher keiner fernern extraordinären Nachhilfe und Korrigierung von oben. In unsre eignen Hände ist für jetzt die weitere Entwicklung gelegt. Wir können gut und böse, klug und töricht sein, nicht immer vielleicht wie es die Individuen frei wollen möchten, aber wie sie die vorhergehende Menschheit herangebildet. Tugend und Sünde, Klugheit und Torheit sind ja überhaupt bloß Worte, die ihre Bedeutung hier erst durch die menschliche Gesellschaft erhalten, und ohne sie gänzlich verlieren würden. Der Begriff des Guten und Bösen entwickelt sich offenbar nur in bezug auf andere, denn der Mensch, welcher nie einen Mitmenschen sah, kann weder gut noch böse handeln, ja wohl kaum so fühlen und denken – er besitzt allerdings die Fähigkeit dazu, und dies begründet seine höhere geistige Natur, aber nur durch ihm gleichartige Mitgeschöpfe kann diese in Wirksamkeit treten, wie Feuer erst entsteht, oder sichtbar wird, wo brennbare Materie vorhanden ist. Der Begriff des Klugen und Törichten entsteht dagegen schon früher, und auch in bezug auf unser eignes Individuum allein, denn auch der einzelne Mensch, im Konflikt mit der sogenannten toten Natur, kann töricht sich schaden, oder das Gegebene mit Klugheit benutzen, und dies an sich gewahr werden. Gut sein heißt also in jeder Beziehung nichts andres als: andre Menschen lieben und sich ihren Gesetzen unterwerfen – böse aber: sich nicht an diese Gesetze kehren, das Wohl andrer für wenig oder nichts achten, und bei seinen Handlungen nur die eigne momentane Gratifikation vor Augen haben. Klug sein heißt dagegen nur seinen eignen Vorteil am geschicktesten zu bewahren wissen – töricht, ihn zu vernachlässigen, oder falsch zu beurteilen. Wir sehen also sehr bald, daß gut und klug, böse und töricht, in höchster Potenz, fast synonym werden, denn wer gut ist, wird in der Regel seinen Mitmenschen gefallen, von ihnen wieder geliebt werden müssen, folglich auch klug, für sich den wahrsten Vorteil erlangen, der Böse dagegen mit ihnen in ewigen Streit geraten, indem er zuletzt den kürzeren ziehen, folglich Schaden haben muß. Hat sich aber das Moralprinzip noch höher herangebildet, so wird der einzelne tugendhafte Mensch sich zwar ein eignes Gesetz stellen, dem er folgt, unbekümmert um Vorteil, Gefahr oder Meinung anderer. Aber die Grundlage dieses Gesetzes wird immer das sein, was ich eben geschildert, Berücksichtigung des Wohlseins der Mitmenschen und daraus abgezogene Pflicht, die von nun an dem selbst vorgezeichneten Wege konsequent folgt. Aber auch dann gibt die innere Überzeugung, diese Pflicht erfüllt zu haben, dem geistigen Menschen größere Befriedigung als alle irdischen Güter ihm gewähren könnten, und es bleibt daher, in einer wie der andern Beziehung, und in jedem Stande der Bildung, wahr: daß es zugleich die höchste Klugheit ist, gut, die größte Torheit, böse zu sein.

Aber freilich treten hier, durch das Gewirr des Lebens, noch vielfache Nuancen ein. Man kann, für das Irdische oder Äußere, sehr wohl durch größere Klugheit den Schein erlangen, ohne Realität. Man kann andere Menschen täuschen, und ihnen sogar glauben machen, man tue ihnen wohl, verdiene ihre Achtung und ihren Dank, wenn man sie doch nur zu Werkzeugen seines eignen Vorteils benutzt, und ihren bittersten Schaden herbeiführt. Torheit bringt nur zu oft die entgegengesetzte Wirkung hervor, nämlich andere Böses und üble Motive voraussetzen zu lassen, wo das Gegenteil stattfindet. Aus diesem folgt ganz natürlich die, auch durch die Erfahrung, überall begründete, wenn gleich schmerzliche Wahrheit: daß in den irdischen Verhältnissen es dem Individuum noch gewisseren Schaden bringt, töricht, als bös und schlecht zu sein. Die äußern Folgen des letztern können durch Klugheit aufgehalten, ja ganz abgewendet werden, nichts aber wendet die Folgen der Torheit ab, die fortwährend gegen sich selbst arbeitet. Das Bedürfnis und die Erfindung positiver Religionen mögen dieser Erkenntnis, und der daraus folgenden Unzulänglichkeit der bloß irdischen Strafgesetze größtenteils ihre Entstehung verdanken, namentlich die Lehre der künftigen Strafen und Belohnungen eines Allwissenden, gegen den die Klugheit nicht mehr ausreicht, und von dem der Törichte Mitleiden und Kompensation erwartet, denn wahrlich der Gute und Kluge braucht keinen weitern Lohn – er findet ihn schon reich und überschwenglich in sich selbst. Wer würde nicht ohne Bedenken alles hingeben, um die Seligkeit zu genießen, vollkommen zu sein! Es könnte vielleicht eine Zeit kommen, wo alle Staats-Religionen und Kirchen zu Grabe getragen würden, Poesie und Liebe aber, deren Blüte die wahre Religion, wie Tugend ihre Frucht ist – müssen ewig den menschlichen Geist beherrschen, in ihrer heiligen Dreieinigkeit: der Anbetung Gottes als der Ursache alles Seins, der Bewunderung der Natur als seines hohen Werks, und der Liebe zu den Menschen als unsere Brüder. Und das allein ist ja Christus' Lehre – von keinem reiner, inniger, einfacher und doch tiefer ausgesprochen, wenn auch den Formen und den Voraussetzungen seiner Zeit gemäß – und darum ist er auch der Kern geworden, an dem sich die Frucht der Zeiten ansetzt, der wahre Vermittler, dessen Lehre einst, wie wir hoffen müssen, Christentum in Wahrheit, nicht bloß dem Namen nach werden wird. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

(Hier befindet sich eine Lücke in dem brieflichen Tagebuche, welches erst mit dem 28sten wieder beginnt.)


Capel Curig, spätabends, den 28sten Juli

Da das Wetter sich aufklärte, und die Freunde, die ich erwartete, nicht kamen, so beeilte ich mich, die ersten Sonnenblicke zu benutzen, um noch tiefer in das Gebürge einzudringen, und fuhr daher gegen sieben Uhr abends, ohne Diener, und nur mit einiger Wäsche, nebst einem Wechselanzug in meinem leichten Mantelsacke, versehen – in einem irländischen cart, mit einem Pferde bespannt, dem Bergpasse von Capel Curig zu. Diese Wagen bestehen aus einem offnen Kasten, der auf zwei Rädern steht, auf vier horizontalen Federn ruht, und zwei einander gegenüberliegende Sitzbänke enthält, wo vier Personen bequem Platz finden. Von hinten steigt man ein, da die Türe zwischen den Rädern angebracht ist; das Ganze ist sehr leicht und bequem.

Der Moment war außerordentlich günstig. Fast eine Woche langer Regen hatte alle Wasserfälle, Flüsse und Bäche so angeschwellt, daß sie sich in ihrer größten Schönheit zeigten, Bäume und Gras hatten ihr saftiges Grün angelegt, und die Luft war rein und durchsichtig wie Kristall geworden. Ich bewunderte die reichen Massen farbiger Bergblumen und Eriken, welche in den Felsenspalten wucherten, und bedauerte, zu wenig von der Botanik zu verstehen, um sie noch mehr als mit den Augen genießen zu können. Bald indes erreichte ich die ernsteren Regionen, wo von Blumen nur noch wenig, von Bäumen gar nicht mehr die Rede ist. An dem Wasserfall von Idwal stieg ich aus, um einen kleinen See zu besichtigen, der nicht übel für den Eingang des Hades passen würde.

Die trostlose Öde und Wildheit des tiefen Felsenkessels ist wahrhaft schaudererregend. Ich hatte gelesen, daß es möglich sei, von hier über den Tryfan (der Berg mit den Basaltsäulen, von dem ich Dir geschrieben), und die ihn umgebenden Felsen in gerader Linie nach Capel Curig zu gelangen, die Passage war aber als sehr schwierig, jedoch auch äußerst schön geschildert. Da nun eben ein Schafhirte von den Bergen herabkam, so fühlte ich große Versuchung, mit dem Führer, den mir der Zufall so gefällig bot, diese tour zu versuchen. Ich ließ ihm meinen Wunsch durch den Postillon verdolmetschen, er meinte aber, es sei nun schon zu spät, und das Hinuntersteigen auf der andern Seite bei Nacht zu gefährlich, auf weiteres Dringen äußerte er jedoch, wenn ich ihm rüstig folgen könne, so glaube er, daß wir, bei dem zu erwartenden Mondscheine, wohl in zwei Stunden den Weg zurücklegen könnten, es gäbe aber sehr mißliche Örter zu passieren. Ich hatte auf dem Snowdon meine Kraft zu gut wieder kennengelernt, um mich davor zu fürchten, machte daher alles richtig, und befahl nur zur Vorsicht dem Postillon, eine Stunde auf mich zu warten, im Fall ich doch unverrichteter Sache zurückkehren müßte, und dann erst weiter auf der Landstraße nach Capel Curig zu fahren.

Wir mußten nun gleich von Anfang an sehr steil, über sumpfigen Boden und zwischen enormen, einzeln zerstreuten Felsenblöcken, aufwärts klettern. Es mochte ungefähr halb acht Uhr sein. Von irgendeinem gebahnten Fußwege war keine Spur, der Tryfan erhob seinen grotesken Gipfel, wie eine krenelierte Mauer, vor uns, und nirgends war abzusehen, wie wir da hinüber kommen sollten. Hier taten uns indes die Bergschnucken wahre Liebesdienste, denn sie zeigten, vor uns klimmend, dem selbst oft ungewissen Führer, häufig die gangbarsten Stellen an. Nach einer Viertelstunde sehr ermüdenden Steigens, mit manchem schwindelnden Blick in die Tiefe, wogegen man aber bald gleichgültig wird, kamen wir auf ein kleines, nur aus einem Sumpfe bestehendes, Plateau, wodurch wir, bis an die Knie in den weichen Moor sinkend, waten mußten. Hier war eine schöne Aussicht auf das Meer, die Insel Man, und das am Horizont dämmernde Irland. Gleich hinter dem Sumpf erwartete uns wieder ganz anderer Boden, nämlich eine vielfach gefurchte, schräg liegende, kompakte Steinwand, an der wir mit Füßen und Händen hinankriechen mußten. Die Sonne war schon hinter einen seitwärts stehenden hohen Berg gesunken, und rötete jetzt die ganze wilde Gegend, wie die Wand an der wir hingen, mit dunkelroter feuriger Glut, einer der wunderbarsten Effekte, die ich je vom Sonnenlicht gesehen. Es glich einer Theaterdekoration der Hölle. Jetzt ging es noch durch einen angeschwollenen Bergstrom, über den eingestürzte Blöcke eine natürliche Brücke geformt hatten, und dann abermals an nackten Felsen, ohne alle Beimischung von Erde, hinan, bis wir endlich den hohen Kamm erreichten, der so lange vor uns gestanden, und wo ich das Ende aller Beschwerlichkeit erwartete. Ich war daher nicht wenig betreten, als ich von neuem eine andere bergtiefe Schlucht vor mir sah, in die wir erst hinab, und dann wieder hinauf mußten, denn auf der, den kürzeren Weg zeigenden, halbmondförmigen Kante des Kammes hätte kein menschlicher Fuß lange haften können. Wir hatten nun die frühere Aussicht nach dem Meere hin ganz verloren, und sahen dagegen landeinwärts, wo das Gebürge von Wales in seiner ganzen Breite, Gipfel an Gipfel sich reihend, vor uns lag – einsam, schweigend und gewaltig! Das sterile Tal unter uns war mit nichts als umhergeschleuderten Riesensteinen angefüllt, und wahrlich: die Revolution, die einst hier mit Felsen wie mit Bällen gespielt, muß ein Schauspiel für Götter gewesen sein! Während ich, in Betrachtungen verloren, dieses Chaos anstaunte, hörte ich nahe über mir einen gellenden, mehrmals wiederholten Schrei, und sah, aufblickend, zwei majestätische Adler mit ausgebreiteten Schwingen über uns schweben, eine Seltenheit in diesen Gebürgen. »Willkommen meine treuen Wappenvögel!« rief ich, »hier, wo es nur harte Felsen, aber keine falschen Menschenherzen gibt – wollt ihr mich wie der Vogel Rock in ein Diamantental entführen, oder Kunde aus der lieben fernen Heimat bringen?« Die Tiere schienen mit ihrem fortwährenden Rufe antworten zu wollen, leider aber bin ich in der Vogelsprache noch nicht hinlänglich bewandert, und so verließen sie mich, immer höher und höher kreisend, bis sie zwischen den Säulen des Tryfan verschwanden. Diese wiederholten Attentionen der Raubtiere für mich, sehe ich als ein gutes Zeichen an.

Es war höchst unbequem, daß ich mit meinem Führer nicht mehr als mit den Adlern sprechen konnte, denn er verstand kein Wort Englisch. Wir mußten uns daher nur durch Zeichen verständlich machen. Auf diese Weise zeigte er jetzt, nachdem wir eine Weile verhältnismäßig ganz bequem hinabgestiegen waren, mit der Hand auf den Ort, wohin wir nun unsre Schritte lenken sollten. Hier waren wir an die »böse Passage« gelangt. Diese bestand nämlich in einer ganz steilen Wand, von gewiß nicht weniger als 600 Fuß Tiefe, und über dieser einen fast ebenso steilen Erdabhang, vom Regen abgewaschen und mit kleinen losen Steinen besäet. Über den letztern sollten wir, wohl 1500 Schritt lang, hinwegschreiten. Ich hätte dieses Unternehmen früher für unausführbar gehalten, von der Notwendigkeit gezwungen, fand ich es jedoch, nach den ersten ängstlichen Schritten, ganz leicht. Es sah allerdings halsbrechend aus, aber die vielen Steine und die feuchte weiche Erde gaben einen festern Tritt als sie erwarten ließen. Überhaupt klingen diese Dinge auch in einer nicht übertriebenen Beschreibung immer etwas gefährlicher, als sie wirklich sind. Es ist ganz wahr, daß ein Fehltritt hier ohne Rettung Verderben brächte, aber man hütet sich eben schon vor einem solchen. So müßte man auch im Wasser ertrinken – wenn man zu schwimmen aufhörte. Wer also gehen kann, und einen festen Kopf hat, kann dergleichen ganz ohne Gefahr unternehmen.

Die Dämmerung fing nun an einzutreten, undeutlicher wurden die Berge, und unter uns lagen, wie ein Paar dampfende Suppenterrinen, die Nebel aushauchenden Seen von Capel Curig und Beddgelert. Wir hatten den höchsten Punkt erreicht, und eilten so viel wir konnten, nach dem ersten der genannten Seen hinab. Noch einmal durchwateten wir einen Sumpf, und kletterten wieder über Felsen hinunter, bis wir an den, am wenigsten schwierig aussehenden, und dennoch ermüdendsten Teil des Weges ankamen, eine glatte und feste Rasenalp, sehr steil, und mit einem Steinuntergrund, der an manchen Stellen in weiten Platten zu Tage kam. Auf diesem abschüssigen Boden mußten wir oft ganze Stellen mehr hinabgleiten als steigen, und die Anstrengung wurde zuletzt so schmerzhaft in den Knien, daß sowohl der Führer als ich, in der Dämmerung einigemal fielen, ohne uns jedoch Schaden zu tun. Die hohen umstehenden Berge hatten den Mond bisher verdeckt, der nun groß und blutrot über ihre Wellenlinien heraufstieg. Bald darauf verloren wir ihn jedoch wieder, und erst nahe am Ziel sahen wir ihn von neuem, jetzt goldgelb, klein und klar, sich im stillen Gewässer des Sees spiegeln, an dessen Ufer unser Gasthof liegt. Der letzte Teil des Weges wurde auf ebener Landstraße zurückgelegt, und bot, im Vergleich mit dem vergangenen, eine solche Bequemlichkeit dar, daß ich darauf hätte gehend schlafen können. Es war, als wenn ich willenlose Schritte machte, von einem Uhrwerk fortgetrieben, wie die Kinderspielwerke, welche aufgezogen, unaufhaltsam auf dem Tische umherfahren. In 1¾ Stunden hatten wir die tour vollbracht, und ganz stolz auf diese Tat, zog ich in Capel Curig ein, dessen Wirt kaum glauben wollte, daß wir den Weg in so kurzer Zeit bei Nacht zurückgelegt. Ich hatte mich in den letzten Jahren so verweichlicht, daß ich mich fast alt geworden glaubte, aber der heutige Tag bewies mir zu meiner Freude, daß ich nur Anlaß brauche, um Geist und Körper wieder frischkräftig zu fühlen, Gefahr und Beschwerde zeigten sich ohnedem immer als das mir am besten zusagende Element, wenn die Umstände mir beides bescherten.

Mein post boy war noch nicht mit dem Wagen angekommen, und ich mußte daher für den nötigen Umzug die Garderobe des dicken Wirtes benutzen, in dessen Kleidern ich seltsam genug aussehen mag, während ich, am Kamin die meinigen trocknend, Dir hier abwechselnd schreibe, und meinen Abendtee verzehre. Morgen soll ich schon um 4 Uhr aus den Federn, um – rate was – aufzusuchen: Merlins, des Zauberers, Felsen, wo er dem König Vortigern die Geschichte der kommenden Zeiten prophezeite, und wo seine Wunderschätze, der goldne Thron, das diamantne Schwert noch heutzutage in verborgenen Höhlen begraben liegen. Da gäbe es noch eine neue, weit sicherere Spekulation für die Bergwerksunternehmer in London und Elberfeld!


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