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Whitby, den 25sten Sept. 1827
Teure Julie!
Ich hatte etwas lange nach der gestrigen fatiguanten Tour geschlafen und verließ daher Scarborough erst um 2 Uhr. Der Weg bis Whitby ist der vielen Berge wegen schwierig und der Anblick der Gegend sonderbar. So weit man umherblickt, kein Strauch, kein Haus, keine Mauer noch Zaun. Nichts als endlos wogende Hügel, oft von der seltsamen Form regelmäßig aufgestürzter Halden, dicht mit Heidekraut bedeckt, das in der Nähe die schönsten violetten und rosenroten Blüten darbietet, in der Ferne aber nur ein und dieselbe düstere, rotbraune Farbe über das ganze Land breitet, welches den Grouse-Jägern eine reiche Ernte darbietet Keine Abwechslung als eine Menge weißer Punkte, die sich langsam hin und her bewegen – und was sind diese? – Tausende von Heidschnucken, die sehr scheu sind, meistens schwarze Köpfe haben, und gegen deren Wolle Pudel und Schafspitze Seide aufweisen können. Eine Stunde vor Whitby, wenn man aus den kahlen Bergen wieder hinabsteigt, verändert sich die Gegend nach und nach, und wird bei der Stadt sehr romantisch. Die englische Reinlichkeit und Zierlichkeit verliert sich indes immer mehr und mehr Whitby sieht einer alten deutschen Stadt vollkommen gleich. Ohne Trottoirs, ebenso schmutzig, mit engen Gassen, ab er auch mit herzlichern, freundlichern Bewohnern.
In diesen ärmlichen Ort kommen wahrscheinlich selten Reisende von einiger apparence an, oder man hielt mich für einen andern, kurz, man belagerte mich wie ein Wundertier und ließ mich nicht ohne eine Eskorte von wenigstens hundert Menschen ausgehen, die sich zwar sehr gutmütig, aber doch auch sehr zudringlich andrängten, um mich vom Kopf bis zum Fuß zu betrachten. Mir fiel dabei eine komische Anekdote ein, die ich neulich vom Herzog von Leeds hörte. Dieser Herr war sehr herablassend mit seinen Untergebenen und Pächtern, deren einer einmal, als der Herzog eben spazieren ging, an ihn herantrat und ihm eine Bitte vortragen zu dürfen bat. Als dies freundlich gewährt wurde, kam er damit heraus, daß sein 12jähriger Sohn ihn Tag und Nacht quäle, den Herrn Herzog zu sehen, und daß, da er grade jetzt nicht weit von seiner Hütte sei, er doch die hohe Gnade haben möge, sich von seinem Sohne beschauen zu lassen. Der Herzog gab lächelnd seine Einwilligung, ging nach der Hütte, und der erfreute Vater holte den neugierigen Sprößling. Kaum war dieser jedoch hereingestürzt, als er schon verwundert vor dem etwas ältlichen und unansehnlichen Herzog, von dessen Macht und Größe er so viel gehört hatte, stehen blieb, ihn lange ansah, dann befühlte, und nun plötzlich fragte: »Könnt Ihr schwimmen?« – »Nein, mein guter Knabe.« – »Könnt Ihr fliegen?« – »Nein, das kann ich auch nicht.« – »Nun dann, bei meiner Treu, da ist mir doch Vaters Enterich lieber, denn der kann beides.«
Whitby hat einen, von höchst malerischen Felsen eingefaßten Seehafen, mit einem schönen Molo von Granit, der sich weit ins Meer hinein erstreckt, und von dem man zugleich eine herrliche Aussicht auf die Stadt hat. Besonders schön nimmt sich auf dem einen schroffen Felsenufer die berühmte Ruine der Abtei aus, welche im sechsten Jahrhundert von einem König von Northumberland gegründet ward. Sie ist jetzt das Eigentum eines Privatmannes, der gar nichts für die Unterhaltung dieses erhabnen Denkmals alter Größe tut. Sein Vieh weidet in den Ruinen, die so voller Unflat liegen, daß man sie kaum näher besichtigen kann. Ich stieg beim Schein des jungen Mondes hinauf und war entzückt über den romantischen Effekt. Ungeheure Pfeiler, leicht wie schlanke Tannen in die Höhe steigend, mit langen Fensterreihen, sind noch wohl erhalten, und viele kunstreiche Verzierungen so unversehrt, als rauschte heute der erste Herbstwind durch ihre weiten Bogen. Andere waren dagegen durch die Zeit ganz umgewandelt, und manche scheußliche Larven grinsten mich im Mondlicht wie Totenschädel an. Daneben steht eine noch ältere Kirche, welche auch noch im Gebrauch, und von einem mit Tausenden von dicht bemoosten Leichensteinen bedeckten Kirchhof umgeben ist.
Ich wohne in einem ländlichen, aber ganz vortrefflichen Gasthof, der von zwei Schwestern gehalten wird, welche voller Bereitwilligkeit der Art sind, die nicht aus Interesse, sondern aus wahrer Gutmütigkeit entspringt. Da ich etwas zu lesen verlangte, brachten sie mir die Chronik von Whitby, in der ich blätterte; während es draußen heftig stürmte, und der Wind gerade so unheimlich pfiff als im guten Schloß zu M... In dieser Chronik ist einer Schätzung der Güter im siebenten Jahrhundert erwähnt, wo Whitby mit Pertinenzien (jetzt vielleicht eine Million L. St. am Wert) zu 60 Schilling (3 L. St.) angeschlagen ist!
Ich lerne auch daraus, daß die große und prachtvolle Abtei weder durch Feuer noch Schwert, sondern im Wege stiller Gewalt, dem Zahne der Zeit überwiesen wurde. Heinrich VIII. konfiszierte dies Kloster mit den übrigen, als er vom Papste abfiel, und verkaufte alles bis auf die einzelnen Steine der Gebäude. Glücklicherweise erstand, nachdem mehrere Häuser der Stadt von dem Material der Abtei schon aufgebaut worden waren, noch der Ahnherr des jetzigen Besitzers den Rest, und ließ wenigstens die Kirche seitdem in statu quo.
Guisborough, abends
Ich hatte einen Brief an Lord Mulgrave, den Besitzer eines großen Alaunbergwerks, schönen Schlosses und Parks am Seeufer, geschrieben, und ihn gebeten, mich diese Dinge sehen zu lassen. Er schickte mir eine sehr artige Antwort und einen Reitknecht zu Pferde, mich überall hinzubegleiten. Dies machte das gestrige Übel in der kleinen Stadt noch ärger, und der Magistrat bekomplimentierte mich eine Stunde darauf durch Absendung zweier Mitglieder, die zugleich Sekretäre des Museums waren, welches sie mir zu zeigen sich anboten. Da dieses Museum in der Tat wegen der vielen hier gefundenen Fossilien sehr merkwürdig ist, so nahm ich es an. Die halbe Stadt war wieder versammelt, und folgte uns mit der arrière-garde einer sehr geräuschvollen Jugend. Im Museum waren eine große Menge Honoratioren zugegen, und ein Blumenflor neugieriger Damen, von deren anziehenden Blicken ich meine Augen jeden Augenblick auf ein Krokodil, einen alten Walfischzahn, oder einen versteinerten Fisch wenden mußte. Die beiden Sekretäre hatten sich in die Merkwürdigkeiten geteilt. Der eine machte die honneurs der Fische und Amphibien, der andere die der Quadrupeden, Vögel und Mineralien. Beide waren aber so eifrig, mir nichts entgehen zu lassen, daß in der Regel einer den andern unterbrach, wenn dieser eben seinen Spruch angefangen hatte, um mich mit etwas aus seinem respektiven Reiche zu erfreuen. Dies war im Anfang lächerlich, wurde aber zuletzt beschwerlich, denn während mich A... beim linken Arme festhielt, und anhub: »dies ist das berühmte kleine Krokodil, das hier im Bauche einer Boa-Schlange versteinert gefunden wurde, und hier das noch berühmtere große, 6 Ellen und...« – ergriff B... mich beim rechten Arm, drehte mich herum, und machte mich auf Mäntel aus Papageienfedern und den tätowierten Kopf eines Neuseeländers aufmerksam, dem man im eigentlichen Verstande die Haut über die Ohren gezogen, und wie Leder gegerbt hatte. Einige Dilettanten empressierten sich noch dazwischen, mir andere Dinge vorzuzeigen, so daß ich Argus' hundert Augen hätte haben mögen, um alles auf einmal zu betrachten. Was mich am meisten interessierte, war ein von Parry geschenktes, vollständiges canoe mit Fischer-Apparat der Esquimaux. Es ist nur aus Fischknochen und Seehundsfell gemacht, und von einer solchen Leichtigkeit, daß man kaum begreift, wie es möglich ist, sich darauf dem Meere anzuvertrauen. Obgleich ziemlich lang, ist es in seiner größten Breite in der Mitte doch kaum einen Fuß breit, und überall, auch von oben, geschlossen wie ein Kasten, bis auf ein einziges rundes Loch in der Mitte, worin der Esquimaux sitzt und mit einem Doppelruder, das die Form einer Balancierstange hat, sich im Gleichgewicht erhält. Eine Art Spaten von den Südsee-Inseln war so schön geschnitzt, daß kein Londoner Künstler es besser machen könnte. Die Versteinerungen aller Art, sowohl von noch existierenden als antediluvianischen Tieren und Pflanzen, sind außerordentlich zahlreich und schön, und das große, fast ganz erhaltene versteinerte Krokodil (das ich früher schon anführte), ist allerdings einzig in seiner Art. Etwas sehr Eigentümliches war auch eine conglomération die sich durch den Ablauf der Kohlenwerke hier in der Nähe, in einer viereckigen hölzernen Rinne, vor vielen Jahren gebildet hatte.
Man sah nämlich darauf sechs schwarze und einen gelben Streifen, wie an einem angeschnittenen Baumkuchen, fortwährend abwechseln, welches daher entstanden ist, daß an den Wochentagen, wo im Werke gearbeitet wurde, der Abfluß von den Kohlen schwarz gefärbt war, am Sonntag aber, dem Ruhetag, das Wasser, welches viel Ocker enthält, in seiner natürlichen gelblichen Farbe floß. Diese Abwechslung geht mit der größtmöglichsten Regelmäßigkeit sieben Wochen hindurch fort und bildet jetzt geschliffen eine sehr nette Zeichnung. Die Herren ließen es sich nicht nehmen, mich mit dem gewöhnlichen Gefolge wieder nach meinem Gasthof zurückzubringen, wo, als ich fortfuhr, ein furchtbares ›Hurrah‹ erschallte, und mehrere der Jüngeren beiderlei Geschlechts mich nicht eher verließen, als bis es ihrer Lunge unmöglich wurde, es den Pferden länger gleich zu tun. Auf dem Meersande hin ging es nun langsam dem Alaunwerke zu, Lord Mulgraves Reitknecht voraus. Ich stieg aus, um eine Strecke zu Fuß zu gehen, und amüsierte mich dabei, kleine Steinchen zu sammeln, von denen die glänzendsten Exemplare aller Farben und Formen das Ufer bedeckten. Nach einer Stunde erreichten wir das Bergwerk, welches höchst romantisch zwischen den schroffen Felsen am Meere liegt. Ich besah alles sehr gründlich, wie Du aus meinem beiliegenden Schreiben an den A... D... ersehen wirst. Um von da, wo ich mich befand, zu den Förderungen zu gelangen, mußte ich einen Weg zurücklegen, der nur für Ziegen gemacht zu sein schien, und von dessen Unannehmlichkeit mich der Steiger vorher schon avertiert hatte. Einigemal war er kaum einen Fuß breit, und die abhängige Seite ein glatt abgearbeiteter Alaunfelsen von 200 Fuß Höhe. Auf solchen Fußwegen, deren mehrere den Felsen durchscheiden, arbeiten die Leute, und bauen das zutage liegende Felsenerz neben sich ab, welches das seltsamste Schauspiel darbietet, das man sich denken kann, da die Menschen wie Schwalben an der Mauer zu hängen scheinen, und sich, um dahin zu gelangen, oft an Stricken hinaufwinden lassen müssen. Unten im Tal stehen große Karren, die auf Eisenbahnen das Erz fortfahren, welches immerwährend aus der Höhe herabprasselt. Ich brauchte drei Stunden, um alles zu besehen, und fuhr dann auf's Schloß, wo mich Lord Mulgraves Sohn (er selbst war krank am Podagra) mit einem guten luncheon bewirteten, und darauf in dem schönen Park umherführten. Er hat seine Schönheit nur der Natur zu verdanken, zu deren Felsen, Waldbächen und baumreichen Schluchten sinnig gewählte Fahrwege führen, die einige deutsche Meilen lang sind. Aus dem Schloß sah man unter hohen Eichen und Buchen über einen sanften Rasenabhang nahe vor sich das Meer mit hundert Segeln bedeckt. Eine Hauptzierde des Parks ist die Ruine des ›Old Castle‹, von dem man glaubt, daß es früher ein römisches Fort, und dann die Burg des Sachsen-Fürsten Wanda gewesen sei. Später wurde es einem Vorfahren der Familie vom König Johann für den Mord des jungen Prinzen, den Shakespeare so rührend schildert, geschenkt, also ein blutig-romantischer Ursprung. Die Aussicht von den alten Zinnen ist wild und malerisch. Im neuen Schlosse, welches vor 50 Jahren im gotischen Stil erbaut wurde, fiel mir das Portrait einer Urgroßmutter des jetzigen Lords auf, die eine reizende und dabei originelle Frau gewesen sein muß, denn sie ist in tiefer Trauer gemalt, und sitzt dennoch lächelnd am Fenster mit der Überschrift in veraltetem Englisch: »Da meines Mannes Liebe nur Spaß war, so ist meine Trauer auch bloß Spaß.« Der jüngste Sohn des Hauses, dessen Familienname für uns nicht wohllautend klingt – nämlich »Phipps«, also der junge Mr. Phipps erzählte mir, daß vor 10 Jahren auf den nahen Schieferfelsen, die mit einer scharfen Kante ins Meer hineintreten, sich eine sonderbare Begebenheit zutrug. Zwei Mädchen saßen auf einem Abhang mit dem Rücken gegen die See gekehrt. Ein scharfer Felsenschiefer hoch über ihnen löste sich durch ein Ungefähr ab, und durch die zunehmende Schnelligkeit des Falls fast mit Blitzesschnelle ankommend, schnitt er dem einen Mädchen, das eben emsig mit dem andern schwatzte, den Kopf so rein ab, daß dieser weit auf den Meersand hinausrollte, und der Körper ruhig sitzen blieb. Die Eltern leben noch im Dorfe.
Ripon den 27sten
Ich schlief die Nacht sehr gut in meinem Wagen, frühstückte im Blumengarten eines netten Gasthofs, und eilte dann nach Studley Park, der die famosen Ruinen von Fountains Abbey enthält, welche für die größten und schönsten in England gehalten werden. Sie übertrafen bei weitem noch meine Erwartung, so wie auch der Park. Ich will Dir daher dies alles in der Ordnung beschreiben.
Durch einen majestätischen Wald führt der Weg zuerst an einem Abhange hin, bis man an einer jählingen Wendung desselben in ein langes Wiesental kommt, dessen Breite ungefähr 300-400 Fuß sein mag, und in dessen Mitte ein kleiner Fluß strömt, den verschiedene natürliche Wasserfälle unterbrechen. Die eine Seite des Tals bildet ein ansehnlicher Bergrücken mit alten Eschen, Buchen und Eichen bewachsen, die andere eine schroffe Felsenmauer mit Schlingpflanzen überhangen und ebenfalls mit uralten Bäumen gekrönt. Am Ende schließt sich das Tal in seiner ganzen Breite mit den Ruinen und dem hohen Turm der Abtei. Du wirst dir leicht einen Begriff von der Größe dieser Trümmer machen, wenn Du hörst, daß einst die Gebäude der Abtei 15 acres einnahmen, jetzt die Ruinen noch vier. Das Schiff der Kirche, deren Wände, größtenteils noch stehen, ist 351 Fuß lang, das große Fenster dem Altar gegenüber 50 Fuß, und der Turm, obgleich ein Teil einstürzte, noch jetzt 166 Fuß hoch. Die Architektur ist aus der besten Zeit, dem 12ten und 13ten Jahrhundert, ebenso einfach als grandios. Aus der Kirche führt ein Tor nach dem doppelten Klostergang, der 300 Fuß lang und 42 breit ist; ein zweites nach dem Klostergarten, der jetzt wieder von den Besitzern in einen Blumengarten umgeschaffen worden, und rund umher von andern pittoresken Ruinen umgeben ist, nämlich die der Bibliothek, des Justizgebäudes und des Kapitelhauses. Das Gewölbe dieses letztern wird, gleich dem Römer in Marienburg nur durch eine einzige Mittelsäule getragen. In der Küche bewundert man dagegen fast grade, höchst künstlich konstruierte, Wölbungen ohne alle Stütze, und daneben den prachtvollen Eßsaal, der 108 Fuß lang und 45 breit ist. Dies war wie billig der Kulminationspunkt der Abtei, welche ihrer Schwelgerei und Sittenlosigkeit wegen sehr berüchtigt war. In der Kirche sieht man noch mehrere Grabmäler, eines Lord Mowbray in voller Kettenrüstung in Stein ausgehauen, ferner mehrere Äbte und zuletzt einen leeren Steinsarg, in dem Hotspur Percy begraben gelegen haben soll. In der Höhe erblickt man einen wohlerhaltenen Engel mit der deutlichen Jahreszahl 1285 darunter. An der Spitze des Turms aber liest man noch in gotischen Riesenbuchstaben eine lateinische Inschrift, die schön und passend, da oben in den Lüften schwebend, folgende Worte herabruft: ›Ehre und Preis dem einzigen Gott durch alle Jahrhunderte!‹
Die ganze Ruine ist mit Efeu und Schlingpflanzen wie mit Vorhängen bedeckt, und majestätische Bäume wehen hie und da daraus hervor. Der Fluß schlängelt sich an ihr hin und treibt einige Schritte weiter die alte Klostermühle, welche immer noch im Gebrauch geblieben ist, fast als wollte sie die Lehre geben, daß, wenn Pracht und Hoheit untergehen, das Nützliche sich bescheiden erhält. Ohngefähr 200 Schritte hinter der Abtei steht das alte Wohnhaus der Familie der Besitzer, welches im 16ten Jahrhundert aus den abgefallenen Steinen der Ruine aufgebaut wurde. Auch dieses ist höchst malerisch, obgleich in einem bei weitem weniger edlen Stile gebaut. Seine mit Mauern umgebenen Gärten mit beschnittenen hohen Taxushecken und regelmäßigen Blumenbeeten und die Mischung des noch ganz Alten und schon werdenden Neuen, geben der Phantasie einen angenehmen und weiten Spielraum. Hier stehen vielleicht die ältesten Taxusbäume in England. Einer, den man 1000 Jahre alt schätzt, hat in der größten Dicke seines Stammes 30 Fuß im Umfang. Auf dem Hause befindet sich, zwischen den Bildern zweier alten Ritter, aus der alten Abtei geraubt, die wahrscheinlich auf diese Figuren anspielende moderne Inschrift: ›Sic transit gloria mundi.‹ Auch Fountains Abbey dankt ihren Untergang der Einziehung der Klöster durch Heinrich VIII. Wenn man die Abtei verläßt, gelangt man nach einer halben Stunde Wegs in einen höchst prachtvollen und mit großem Aufwand unterhaltenen pleasure-ground, der durch viel Abwechselung von Berg und Tal, herrliche Bäume und wohlbenützte Gruppierungen sehr anzieht, im übrigen aber mit etwas altertümlichen Anlagen und einer Menge Lusthäusern, Tempeln und bleiernen Statuen ohne Wert zu sehr überladen ist. In einem dieser Tempel, den alten Göttern gewidmet, stand die Büste des – Nero. Doch diesen kleinen Mängeln wäre leicht abzuhelfen, das viele Schöne der Natur und Anlage wird man aber selten so reich vereinigt antreffen. Am Ende des Wildparks liegt das Wohnhaus der Besitzerin, welche mit 40 000 L. St. Einkünften doch eine alte Jungfer von 67 Jahren geblieben ist. Ich begegnete ihr im Garten und wurde von ihr zum luncheon eingeladen, was ich mit Vergnügen annahm, da die Promenade mich ziemlich hungrig gemacht hatte. Ich fand dort noch sechs andere alte Jungfern, einen Advokaten und einen jungen Husaren-Offizier, der coq en pâte zu sein schien.
Um jedoch noch einmal auf die Ruine zurückzukommen (ich meine die Abtei, nicht die alte Jungfer), so würde ich, wenn ich meiner kritischen Ader Raum geben wollte, nur eins an ihr aussetzen, nämlich: daß sie, im Kontrast mit der von Whitby, die es zu wenig ist, hier zu gut erhalten wurde. Kein loser Stein liegt auf dem Boden, welcher so eben wie ein Teppich sorgfältig geschoren ist. Das Blumenparterre im alten Klostergarten war auch zu modern gehalten, und wäre das poetische Gebäude mein, ich würde es schnell wieder ein wenig künstlich zu verwildern suchen, denn in der halbverfallenen Größe eben liegt ja ihr ganzer Zauber für das Gemüt.
Nach meiner Rückkunft in Ripon besah ich den alten dortigen Dom, auch ein schönes Überbleibsel des Altertums mit einem überaus kunstreich geschnitzten Chor. In einem unterirdischen Gewölbe befinden sich eine Art, mit Knochen und Totenköpfen ausgeschmückte, Katakomben, wo ich mich meinem Steckenpferde gemäß, lange mit kraniologischen Untersuchungen beschäftigte. Unter diesen menschlichen Ruinen war ein Schädel dem meinigen so frappant ähnlich, daß es selbst dem alten Küster auffiel. Wer mag der alte Knabe gewesen sein? Vielleicht ich selbst unter anderm Gewande? Über den eigentlichen Ursprung dieser Knochengebäude konnte mir niemand rechte Auskunft geben, nur über den echt französisch aussehenden Schädel eines emigrierten Priesters, den der Küster selbst eingeschwärzt hatte. Er sah noch immer so gesprächig und artig aus, als ob er eben sagen wolle: Monsieur, j'ai l'honneur de vous présenter mes respects, vous êtes trop poli de venir nous rendre visite – Nous avons si rarement l'occasion de causer ici! Es war ein wohlerzogner Schädel, das zeigte er auf den ersten Blick, sehr tiefsinnig und still dagegen schien der meines Ebenbildes. Es wäre doch sonderbar, wenn man so, ohne es zu wissen, manchmal seinen eigenen alten Knochen wieder gegenüber stünde.
Harrogate, den 28sten
Dieser Badeort ist ziemlich auf die Art unsrer Bäder eingerichtet, und mit mehr Geselligkeit begabt als gewöhnlich die englischen. Man sieht sich an der table d'hôte, beim Tee, beim Brunnentrinken, und macht daher leichter Bekanntschaften. Der Ort besteht aus zwei Dörfern, beide nett und freundlich in einer schönen fruchtbaren Gegend gelegen. Leider ist aber jetzt gerade das Wetter abscheulich. Es regnet unaufhörlich, und der Schwefelbrunnen, den ich heut früh trank, hat mich überdies so krank gemacht, daß ich noch nicht aus meiner Stube kommen konnte. Nichts ist fataler als die englische Mode, daß nur das Wohnzimmer unten, das Schlafzimmer aber immer 2-3 Treppen hoch ist, und doppelt unerträglich beim Gebrauch eines Wassers, welches den ganzen Tag durch sehr heftig zu operieren pflegt.
Den 29sten
Der Brunnen bekommt mir noch immer nicht gut, demohngeachtet ging ich heute bis an der Welt Ende, hier eine kurze Promenade, da the Worlds End nur ein nahes Dorf ist, mit einer schönen Aussicht in – den Anfang der Welt – denn da diese rund ist, so kann man ja recht wohl jeden beliebigen Punkt, der Welt Anfang oder Ende nennen. Ich fand einen Bekannten, in dessen Gesellschaft ich, mit 70 andern Menschen, an der table d'hôte aß. Obgleich die saison ziemlich vorbei ist, sind doch noch circa 1000 Badegäste hier, meistens aus dem Mittelstande, weil Harrogate nicht zu den fashionablen Bädern gehört, wiewohl es mir weit angenehmer vorkommt als das höchst fashionable Brighton.
Ein alter General von 80 Jahren, der bei Tisch mein Nachbar war, unterhielt mich sehr gut. Er hatte Friedrich den Großen, Kaunitz, Kaiser Joseph, Mirabeau und später Napoleon in vielen Beziehungen gekannt, und erzählte manche interessante Partikularitäten von ihnen, war überdem Gouverneur von Surinam und Isle de France gewesen, hatte lange in Indien kommandiert und war jetzt, was man bei uns ›General der Infanterie‹ nennt, der nächste Grad am Feldmarschall. Alles dies würde ihm bei uns einen hohen Rang geben. Hier nicht im geringsten, und er äußerte dies selbst. »Hier«, sagte er, »ist die Aristokratie alles. Ohne Kredit der Familie, ohne Verwandtschaft mit hohem Adel, durch den man fortgeschoben wird, kann man zwar wohl einen hohen Rang in der Armee erlangen, aber ohne ganz besondere Umstände nie ein Mann von Ansehen werden. Ich bin nur Baronet«, sagte er, »demohngeachtet gibt mir dieser leere Geburtstitel noch mehr Ansehen und Rang als mein hoher Militärgrad, und ich werde nicht ›Herr General‹, oder wie bei Ihnen ›Ew. Exzellenz‹ genannt, sondern ›Sir‹ Charles.« (Sir ist der Titel des Baronets.)
Nach dem dinner versammelte sich die Gesellschaft zum Tee, der mit einem kleinen Ball endigte.
Leeds, den 1sten Oktober
Ich war hauptsächlich deshalb in Harrogate so lange geblieben, um Briefe von Dir zu erwarten, da ich L... diese Adresse gegeben. Heute erschien denn auch einer, den ich vorfand, als ich von meinem Spaziergang zu Haus kam. Du kannst denken, wie viel Freude er mir machte!
Ich bin in Gedanken mit Dir in Dresden gewesen und habe Deine Gesundheit vor dem illuminierten Namenszug getrunken. Es gehört übrigens wohl zu meiner natürlichen Sonderbarkeit, daß ich, obgleich vier Jahr in D... in Garnison stehend, doch nie weder Pillnitz noch Moritzburg gesehen habe, daher Deine Beschreibung des letzteren mit dem Portrait des alten Landvoigts mich so sehr interessierte.
Du tadelst es, daß ich in gewissen Dingen lieber schreibe wie rede. Du hast im ganzen recht. Es ist aber diese Sache und alles Supplizieren so meiner ganzen Natur entgegen, daß ich unbeholfen und schlecht spreche, und daher immer noch besser tue, wenn ich schreibe. Auch ist dann das Mißlingen nicht so unangenehm. Doch zu meiner Reise zurück.
Die Menge prachtvoller Besitzungen in England ist wirklich fast zahllos zu nennen. Man muß sich nur auf die wichtigsten einschränken. Ohngefähr 10 Meilen von Harrogate fand ich an der Straße Harewood Park, einen sehr reizenden Aufenthalt. Dieser Park ist vor 100 Jahren von Brown ganz auf einem Terrain angelegt, wie ich es mir immer wünschte, nämlich in einem natürlichen Wald mit Talschluchten, Felsen darin, einem reich mit Wasser versehenen Waldbach, und auf einem der Hügel die Ruine eines alten Schlosses – alles dies in der fruchtbarsten Gegend mit fernen Aussichten auf die Gebürge Cumberlands. Der große Meister hat diese Materialien herrlich benützt, ein prächtiges Schloß im edlen antiken Geschmack auf einen der Hügel gebaut, im Talgrund davor den kleinen Fluß zu einem weiten See ausgedehnt, und so dem Schloß auf der einen Seite eine überaus liebliche Aussicht in den einsamen Park, auf der andern in die weite Ferne und reiche Gegend gegeben.
Auf eine auffallende Art wurde für mich die Szene noch dadurch belebt, daß gerade, als ich vor dem Schlosse vorfuhr, der Besitzer Graf Harewood (Hasenwald im Deutschen) mit seiner Meute von hundert Hunden, seinen rotgekleideten piqueurs und einer Menge mutiger Jagdpferde, den Bergabhang herab, über die Wiesen, vom Fuchsjagen zurückkam. Es war nicht zu vermeiden, ihm entgegenzugehen, um die Ursache meines Hierseins zu erklären. Ich fand einen großen schönen Mann von außerordentlich einnehmendem Äußern, in Gestalt und Benehmen noch jung und rüstig, an Jahren aber, was man sich sagen lassen mußte, um es zu glauben, schon ein Fünfundsechziger. Er empfing mich aufs höflichste, sagte, daß er das Vergnügen gehabt habe, mich mehrmals in London zu sehen (je n'en savais pas un mot) und bat mich, zu erlauben, daß er mir selbst seine Besitzungen zeige. So sehr ich dies nach seiner fatigue auf der Fuchsjagd (bei einer solchen pflegt man gewöhnlich 5-6 deutsche Meilen im Galopp zu jagen und während dem 50-60 Sprünge über Hecken und Gräben zu machen) ablehnte, half mein Sträuben doch nichts, und der alte Mann begleitete mich, bergauf, bergab, über den größten Teil seiner fürstlichen domaine. Was mich, als mir neu, diesmal am meisten interessierte, waren die Hundeställe. 150 Stück Hunde fand ich dort in zwei sehr reinlichen Sälen, jeder Saal mit einer großen Bettstelle versehen, auf der 75 Stück Hunde schlafen. Jeder der Säle hat vorn seinen eigenen Zwinger. Nirgends spürte man den mindesten üblen Geruch, noch bemerkte man die kleinste Unreinlichkeit. In jedem Zwinger befand sich ein Ständer mit fließendem Wasser, und ein Diener ist den ganzen Tag gegenwärtig, der mit einem Besen bewaffnet, fast fortwährend den Boden wäscht, auf dem er das Wasser nach Belieben überfließen lassen kann. Die Hunde selbst sind an den größten Gehorsam gewöhnt, und verunreinigen ihr Bett und die Stube nie. Es ist eine große Kunst, sie gehörig zu füttern, denn sie müssen, um die große Anstrengung aushalten zu können, ganz mager und doch zugleich von so festem Fleisch wie Eisen sein, einer wie der andere. Dies war auch durchgängig der Fall, und man konnte nichts Hübscheres sehen als diese schlanken, gehorsamen und muntern Tiere, von denen die eine Hälfte eben erst von der Jagd zurückgekommen war, und dennoch keineswegs übermüdet schien. Sie lagen indes doch alle ruhend auf ihrem kolossalen, gemeinschaftlichen Bett und sahen uns sehr freundlich und wedelnd an, während die andre Hälfte ungeduldig und mutwillig im Zwinger umhersprang.
Auch die Pferdeställe, ohngefähr 1000 Schritt vom Schloß in einem carré erbaut, waren sehr schön, und kostbare Pferde darin, ohngefähr 30 an der Zahl. Der alte Herr hatte meinen Wagen folgen lassen, instruierte nun noch den Postillon auf das genauesten welchen Weg er durch den Park zu nehmen habe, damit ich die schönsten Punkte desselben sehen möge, und wanderte dann erst mit zwei großen Wasserhunden und einem rabenschwarzen Hühnerhunde zu Hause, um sich zu seinem dinner anzuziehen, da er sich noch in seinem scharlachroten Rock, dem Fuchsjäger- costume, das wie eine livrée aussieht, befand.
Ich habe noch vergessen zu sagen, daß wir zuerst eine Tour durch die Zimmer des Schlosses gemacht hatten, welches ebenfalls reich und schön möbliert, und mit Familiengemälden von van Dyck, Reynolds und Lawrence, den besten Malern Englands, aus drei verschiedenen Jahrhunderten geziert ist, vorzüglich aber eine Seltenheit ganz eigentümlicher Art darbot, nämlich in der Haupt- pièce Vorhänge von rot gemaltem Holz, so kunstreich in alter Zeit geschnitzt, daß gewiß Rauch selbst über diesen Faltenwurf erstaunt sein würde. Obgleich man mir es sagte, konnte ich es kaum glauben, bis ich mich durch das Gefühl überzeugte, so vollkommen täuschend war die Nachahmung des seidenen Stoffes. Die Fransen nur waren echtes Gold, also gerade das Umgekehrte unsrer Theatervorhänge aus Seide mit hölzernen Fransen. Eine andere ungewöhnliche Zierde bestand darin, daß die Decken, in schönem Stuck, durchgängig von demselben dessin wie die Teppiche waren, eine sehr kostbare Sache, wenn, wie zu vermuten, die Teppiche nach dem Muster der plafonds haben gewirkt werden müssen.
Die lange Fahrt durch den Park, eine gute Stunde weit, war höchst belohnend. Der Weg führte uns zuerst am See hin, mit einer majestätischen Aussicht auf das Schloß, und dann im Walde am Flusse fort, der viele Kaskaden und kleinere Seen bildete. Der Wald selbst bot die größte Verschiedenheit dar, bald dick und dem Blick undurchdringlich, bald hainartig, dann freie Wiesen mit dunkler Einfassung, oder junge Dickichte mit darin sich bergendem Dammwild, zuweilen eine schmale und weite Aussicht auf ferne Berge.
Ein so situierter Edelmann repräsentiert seinen Stand würdig, und es ist sehr natürlich, wenn er unter diesen günstigen Umständen so gut, wohlwollend, achtungswert und zufrieden erscheint, wie dieser edle Graf, dessen Bild mir immer ebenso wohltätig vorschweben wird, als das der schönen Landschaft, der er gebietet.
Von den Eindrücken des Tages ganz verschieden, und doch nicht minder schön war der Abend. Mit anbrechender Dämmerung erreichte ich die große Fabrikstadt Leeds. Eine durchsichtige Rauchwolke war über dem weiten Raum, den sie auf und zwischen mehreren Hügeln einnimmt, gelagert; hundert rote Feuer blitzten daraus hervor, und ebenso viel turmartige, schwarzen Rauch ausstoßende Feueressen reihten sich dazwischen.
Herrlich nahmen sich darunter fünfstöckige, kolossale Fabrikgebäude aus, in denen jedes Fenster mit zwei Lichtern illuminiert war hinter welchen bis tief in die Nacht hier der emsige Arbeiter verkehrt. Damit aber dem Gewerbe-Gewühl der industriellen Illumination auch das Romantische nicht fehle, stiegen hoch über den Häusern noch zwei alte gotische Kirchen hervor, auf deren Turmspitzen der Mond sein goldnes Licht ergoß und am blauen Gewölbe, die grellen Feuer der geschäftigen Menschen unter sich, mit majestätischer Ruhe zu dämpfen schien.
Leeds hat nahe an 10 000 Einwohner und doch keinen Repräsentanten im Parlament, weil es eine neue Stadt ist, während bekanntlich mancher elende, verfallne Ort, der kaum zwei erbärmliche Häuser hat, deren 2 und mehrere ins Parlament schickt, die natürlich der Besitzer mit seinen Creaturen besetzt. So grell ungerecht dieser Mißbrauch ist, so haben doch die englischen Staatsmänner noch nicht gewagt, ihn abzuschaffen, vielleicht weil sie fürchten, daß jede Veränderung bei einer so komplizierten Verfassung, eine gefährliche Operation ist, zu der man nur im höchsten Notfall schreiten darf.
Spätabends
Ich habe mich hier schon an manche englischen Sitten gewöhnt, unter andern auch an kalte dinner. Als Veränderung zuweilen sind sie der Gesundheit zuträglich und da sie ganz national sind, findet man sie hier fast immer von vorzüglicher Qualität. So wurde heute mein einzelner Tisch mit nicht weniger als folgendem bedeckt, zu dessen Verarbeitung ein englischer Magen gehört hätte: ein kalter Schinken (alles große, nur zum Teil angeschnittene piècen), ein imposanter Rostbeef, eine Hammelkeule, ein Kälberbraten, eine kalte Hasenpastete, ein Haselhuhn, dreierlei Arten pickles, in Wasser gekochter Blumenkohl, Kartoffeln, Butter und Käse. Daß man damit ein ganzes Kränzchen Spießbürger bei uns gespeist hätte, springt in die Augen.
Den 2ten Oktober
Das erste, was ich heute früh vor meinen Fenstern erblickte, war die raffinierte industry eines Materialhändlers, der sich nicht begnügt hatte, wie es in England bei allen seinen Kollegen der Fall ist, eine große Menge chinesischer Teebüchsen, Mandarine und Vasen vor seiner boutique aufzustellen, sondern außerdem noch ein Uhrwerk am Fenster produzierte, wo ein stattlicher Türkenautomat emsig Mocca-Kaffee mahlte. Von hier begann ich meine weitere Tour. Zuvörderst besah ich die Stadt-Markt-Halle, ein schönes Gebäude, wo der Markt unter einem Glasdach gehalten wird; dann die Tuchhalle, ein ungeheurer Raum, der bloß mit Tüchern aller Art und Farben angefüllt ist, und endlich die größte Tuch-Fabrik im Orte, welche durch drei Dampfmaschinen betrieben wird. Man sieht sie mit dem rohen Material (hier das Sortieren der Wolle) anfangen und mit dem fertigen Tuche endigen, und könnte recht gut seine Wolle früh in die Fabrik bringen, und abends mit dem daraus gefertigten Rocke wieder herauskommen, wenn man zugleich einen Schneider mitbrächte. Unser R... hat dieses Kunststück wirklich realisiert, und trug den Schnellrock lange mit großer Vorliebe. Die verschiedenen Maschinen sind im höchsten Grade ingénieux, aber der Gestank dabei und die ungesunde Luft, wie der Staub bei manchen Operationen, müssen für die armen Arbeiter, die übrigens gleich Negern alle blaugefärbt aussahen, sehr ungesund sein. Der junge Mann, welcher mir die Fabrik zeigte, sagte jedoch, daß Baumwoll-Manufakturen noch weit ungesunder wegen des feinen Staubes wären, daher auch selten ein Arbeiter daselbst 50 Jahre erreiche, hier aber habe man Beispiele von 60. Die gotischen Kirchen, welche gestern in der Ferne so viel Effekt machten, boten nichts Merkwürdiges in der Nähe dar, und die Stadt selbst, in der man, des Tag und Nacht nie unterbrochenen Rauches wegen, in einem ewigen Nebel lebt, ist der unangenehmste Aufenthalt, den man sich denken kann.
Rotherham, abends
Meine Reise fortsetzend, machte ich den ersten Halt in Temple Newsome, einem Schlosse aus Elisabeths Zeiten, der verwitweten Marquise Hertford gehörig. Das Schloß hat die Eigentümlichkeit, daß statt der Zinnen, eine Steingalerie von Buchstaben rund um das Dach läuft, die einen Spruch aus der Bibel enthält. Der Park ist traurig, und das ameublement des Hauses altväterisch ohne Reiz. In der Bildergalerie fand ich ebenfalls nichts Besonderes, in den Stuben aber einige interessante Bilder. Erstens die beiden Guise, die Onkel der Maria von Schottland, den General Monk, der auffallend unserm alten Freund Thielemann ähnlich sieht, und das Bild Lord Darnley's (Marias Gemahl) dem dieses Schloß gehörte und in derselben Stube aufgehangen ist, wo er geboren wurde. Ich litt sehr an Kopfschmerz, weshalb ich vielleicht einen zweiten Park, Stainbrook Castle, nur öde und unheimlich fand, auch den Gemälden nicht viel Geschmack abgewinnen konnte. Hierauf führte der Weg fortwährend durch mehrere Fabrikorte, die alle wie brennende Dörfer und Städte aussahen. Rotherham selbst, wo ich mich jetzt befinde, ist wegen seiner großen Eisenwerke berühmt, und ich gedenke morgen einige davon zu besehen, wenn mein Übelbefinden nachläßt.
Den 3ten Oktober
Nachdem ich eine halbe deutsche Meile nach dem größten Eisenhammer gewandert war, fand ich leider das Werk still stehen, indem der hohe Ofen gestern schadhaft geworden war. Ich konnte folglich nur wenig sehen, und begab mich, wieder eine Viertelstunde weiter, nach dem Gußstahlwerk. Hier war aber eben die Dampfmaschine in Unordnung geraten, und das Werk stand ebenfalls still. Ich wanderte also abermals weiter zu der Zwirn- und Leinewand-Fabrik, und mein wie meines Führers Erstaunen war nicht gering, als wir auch hier keine Arbeit gewahr wurden und erfuhren, daß heute früh die große Spindel in der Hauptmaschine gebrochen sei. Mit diesem ganz besondern guignon endigten meine vergeblichen Versuche, mich heute weiter zu unterrichten, da ich keine Zeit zu mehreren hatte. Das einzige Erwähnungswerte was ich en passant noch sah, war die Einrichtung an einem hohen Ofen, wo statt der hölzernen Brücke, die gewöhnlich hinaufführt, eine eiserne Bahn angebracht war, auf der, durch eins der Wasserräder mitgetrieben, der Kohlenwagen von selbst hinauf und herunter lief.
Sheffield, abends
Von Rotherham fuhr ich nach Wentworth House, dem Lord Fitzwilliam gehörig, abermals eine wahrhaft königliche Besitzung, was Größe, Pracht und Reichtum betrifft, aber auch (wie im ganzen die meisten englischen Parks) ebenso traurig und monoton, denn die unabsehbaren Strecken dürren Grases mit einzelnen Bäumen und dem zahmen, schafartigen Wilde zuletzt, werden darauf ganz unerträglich. – Gewiß ist es eine abgeschmackte Sitte, diese Öden fast immer auf einer Seite an das Schloß anstoßen zu lassen, welches solchen Gebäuden das Ansehen verwünschter Paläste gibt, die statt der Menschen nur von Hirschen bewohnt werden. Dieser Täuschung könnte man sich um so mehr überlassen, da man selten ein menschliches Wesen außerhalb dem Hause zu sehen bekommt, dieses auch in der Regel verschlossen ist, so daß man oft an der Türe desselben eine Viertelstunde klingeln und warten muß, ehe man eingelassen wird, und die Frau Castellanin erscheint, um den Cicerone zu machen und ihr Trinkgeld einzunehmen.
Viele schöne Statuen und Gemälde schmücken Wentworth House. Unter andern ein herrliches Bild van Dycks, den Erbauer des Schlosses, Lord Strafford darstellend, wie ihm eben sein Todes-Urteil notifiziert worden ist, und er, es noch in der Hand haltend, dem Sekretär seinen letzten Willen diktiert. Auf einem andern Bilde ist sein Sohn abgebildet, ein schöner Knabe von 16 Jahren in einem äußerst vorteilhaften Trauerkostüm, schwarz mit reichen Spitzen, rehfarbnen Stiefeln, einem dicht anschließenden collet, mit Schmelz gestickt, kurzem Mantel, reichem Schwert und Schärpe en bandoulière.
Das Bild eines Rennpferdes in Lebensgröße auf graue Leinwand gemalt und ohne Rahmen in eine Nische plaziert, täuschte, als sei es lebendig. Dieses Pferd hat so viel gewonnen, daß der vorige Lord ein carré magnifiker Ställe, die vollständigsten, die ich noch hier gesehen, dafür aufbauen lassen konnte. In diesen Ställen, die auch eine Reitschule enthalten, stehen 60 schöne und ausgesuchte Pferde.
Ein vortreffliches Portrait des ebenso unternehmenden als eitlen Kardinal Wolsey, so wie das des leichtsinnigen Herzogs von Buckingham gewähren viel Interesse. Als die Castellanin mir das Portrait Harveys zeigte, sagte sie: »dies ist der Mann, der die Zirkulation des Blutes erfunden hat (who has invented the circulation of the blood).«Wer doch des Mannes Bekanntschaft machen könnte! In den Blumengärten fand ich einige einzelne hübsche Partien, unter andern eine an bunten Parterres hinlaufende Galerie von Drahtgittern, mit ausländischen Vögeln darin, einem klaren Bach der durch sie hinfloß, und immergrünen Sträuchern, auf denen sich das gefiederte Volk frei herumtummeln konnte.
Auf einem kleinen Teich daneben schwammen mehrere schwarze Schwäne, die bereits vier junge Sprößlinge hier großgezogen haben. Sie scheinen sich vollkommen an das hiesige Klima zu gewöhnen. Auffallend war mir eine gewöhnliche Buche am Ufer des Wassers, die durch frühes Köpfen zu einem ganz andern Charakter gekommen war. Sehr niedrig nach oben, bedeckten dagegen ihre sich auf allen Seiten gleich weit ausbreitenden Zweige einen ungeheuern Raum in der Breite, und formten sich zu einem regelmäßigen Laubzelte ohnegleichen. Auch einer Hemlocks-Tanne hatte man durch Köpfen weit größere Schönheit gegeben, als ihr der natürliche Wuchs verleiht.
Ich kam noch bei guter Zeit nach Sheffield, wo des vielen Rauches wegen die Sonne keine Strahlen mehr warf, sondern nur wie der Mond erschien. Indem ich mir hier die bewunderungswürdigen Produkte im Messer- und Scheren-Fach betrachtete, als z. B. ein Messer mit 180 Klingen, Scheren, die vollkommen schneiden und brauchbar sind, obgleich man sie kaum mit bloßen Augen erkennen kann etc. etc. – kaufte ich auch für Dich, ohne Aberglauben, Nadeln und Scheren für Deine ganze Lebenszeit, nebst einigen andern Kleinigkeiten neurer Erfindung, die Dir, wie ich hoffe, Vergnügen machen werden.
Nottingham den 4ten Oktober
Ich fuhr die Nacht hindurch, und sah nur von weitem bei Mondschein Newstead Abbey, Lord Byrons jetzt sehr vernachlässigten Geburtsort und Familienschloß. Außer der gotischen Kirche, deren fast jede Stadt in England eine mehr oder minder schöne aufzuweisen hat, ist in Nottingham nicht viel zu sehen, eine merkwürdige Manufaktur von Petinet ausgenommen, wo die Maschinen ganz allein alle Arbeit machen und nur ein einziger Mensch dabei steht, um acht zu geben, wenn sich etwa irgend etwas verschieben sollte. Es sieht höchst seltsam aus, wenn, wie durch unsichtbare Hände geführt, die Eisenungeheuer mit allen ihren Klammern und Spitzen zu hantieren anfangen, und der schönste Petinet im Rahmen gespannt, nett und fertig oben langsam hervorkommt, während man unten die Spindel mit den darum gewickelten rohen Fäden sich langsam fortdrehen sieht, ohne daß, wie gesagt, eine einzige menschliche Hand das Ganze berührte.
Es war eben die Zeit der hiesigen Messe, welche eine Menge Kuriositäten herbeigezogen hatte, unter andern eine schöne Sammlung wilder Tiere. Zwei bengalische Tiger von enormer Größe waren so vollständig gezähmt, daß selbst Damen und Kinder gestattet ward, zu ihnen in den Käfig hineinzutreten, oder die Tiere selbst in die Reitbahn herauszulassen, worin die Sammlung aufgestellt war. Kein Hund konnte frömmer sein, doch bezweifle ich, daß unsere Polizei solche Experimente geduldet haben würde. Ein merkwürdiges, und so viel ich weiß, noch nie in Europa gesehenes Tier, war das gehörnte Pferd, oder Neyl Gnu aus der asiatischen Tartarei vom Himalaja-Gebürge, schön und flüchtig, und von einer höchst seltsamen Konstruktion einiger Teile. Neu war mir auch der schöne persische Waldesel, der schneller und dauerhafter als ein Pferd laufen, und wochenlang ohne Nahrung zu leben imstande sein soll. Wie auf der Pfaueninsel bei Berlin befand sich auch hier ein Riese und ein Zwerg mit unter der Tiersammlung.
London, den 6ten
Ehe ich Nottingham verließ, besuchte ich den in der Nähe gelegenen Sitz des Lord Middleton, dessen Schloß sehenswert ist. Liebhaber von Georginen können im hiesigen Garten dergleichen finden, welche fast die Größe von Sonnenblumen erreichen. Auch einige Glashäuser zeichneten sich aus, der Park bot wenig. Im Schloß ist ein altes Gemälde, welches dieses und die Gärten treu darstellt, wie sie vor 200 Jahren waren. Es gibt zu interessanter Betrachtung Anlaß, um so mehr, da man die Herrschaft mit großer Gesellschaft und Gefolge im wunderlichsten costume sich im Garten ergehen sieht, und der dargestellte Lord derselbe ist, welcher wegen jener berühmten Geistergeschichte so oft zitiert wird. Dergleichen Darstellungen sollte jeder für seine Nachkommen anfertigen lassen, die Vergleiche sind immer ergötzlich, und zuweilen lehrreich.
In der Nacht erreichte ich St. Albans, und sah die berühmte Abtei bei Mond- und Laternenschein. Der Küster wurde schnell aufgeweckt, und mußte mich noch hinführen. Zuerst bewunderte ich das im achten Jahrhundert von den Sachsen mit römischen Ziegeln (welche ganz unverwüstlich sind) erbaute Äußere des Gebäudes beim Mondlicht, dann trat ich mit der Laterne in das imposante Innere. Das Schiff der Kirche ist wohl eines der größten, die es gibt, denn es ist über sechshundert Fuß lang. Viele herrliche Arbeit in Stein und Schnitzwerk ist darin angebracht, und obgleich man bei dem schwachen Lichte wenig deutlich sehen konnte, so machte doch das Ganze, eben durch die abenteuerliche und ungewisse Beleuchtung, nebst unsern beiden schwarzen Figuren in der Mitte, und den Tönen der Mitternachtsglocke vom Turm herab, einen recht romanhaften Eindruck.
Noch mehr war dies der Fall als wir in die Gruft hinabstiegen, wo in einem aufgebrochenen zinnernen Sarge das Gerippe des Herzogs von Bedford, des Reichsverwesers liegt, der vor 400 Jahren vom Kardinal Beaufort vergiftet wurde. Es ist durch die Länge der Zeit so braun und glatt wie poliertes Mahagoniholz geworden, und neugierige Antiquare haben es deshalb schon mehrerer Knochen beraubt. Auch der Küster, ein Irländer, ergriff ohne Umstände einen der Beinknochen, und ihn wie einen Knüppel in der Luft schwingend, bemerkte er: der Knochen wäre so schön und hart durch die Zeit geworden, daß er einen vortrefflichen Shillelagh abgeben könnte. Was würde der stolze Herzog gesagt haben, wenn er bei Lebzeiten erfahren, wie so geringe Leute einst mit seinem armen Leichnam umgehen würden.
Den soliden Bau damaliger Zeiten beweist am besten die über tausend Jahre alte prachtvolle hölzerne Decke, die noch so schön und wohlerhalten ist, als wenn in der angegebenen Zahl keine Nullen hinter der 1 stünden. Die bunten Fenster, nebst dem goldenen Grab des heiligen Alban, sind leider auch in Cromwells Zeit größtenteils zerstört worden.
Noch zeitig genug, um die Hälfte der Nacht auszuruhen, kam ich in London an, und mein erstes Geschäft am Morgen war, vorliegenden, zum Paket angeschwollenen Brief für Dich zu beendigen. In wenigen Stunden, hoffe ich, ist er schon unterwegs.
Laß Dir also bis dahin die Zeit nicht lang werden, und empfange diesen Brief mit gleicher Liebe und Nachsicht, als seine zahlreichen Vorgänger.
Dein treuer L.