Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Den 12ten

Gestern abend besah ich mir zum erstenmal Vauxhall, ein öffentlicher Garten, in dem Geschmack von Tivoli in Paris, aber weit glänzender und grandioser. Die Illumination mit tausenden von Lampen in den brennendsten Farben ist ungemein prachtvoll. Besonders schön nahmen sich kolossale, unter den Bäumen aufgehangene, Blumen-Bouquets aus, wo die Blumen von roten, blauen, violetten und gelben Lampen, die Blätter und Stiele von grünen gebildet wurden; dann Kronleuchter von einem bunten türkischen Muster aller Nuancen, und ein Tempel für die Musik, von dem königl. Wappen nebst dem crest darüber gekrönt. Mehrere Triumphbögen waren nicht wie sonst gewöhnlich von Brettern aufgeführt, sondern transparent von Eisen gegossen, welches sie unendlich eleganter und dennoch ebenso reich erscheinen ließ.

Weiterhin breitet sich der Garten noch mit verschiedenen Abwechslungen und Darstellungen aus, wovon heute die merkwürdigste die der Schlacht von Waterloo war. Um 7 Uhr wird der Garten geöffnet. Aller Orten gibt es verschiedene Darstellungen. Um 8 Uhr beginnt die Oper. Dieser folgen anderswo Seiltänzer, um 10 Uhr zum Schluß die erwähnte Schlacht von Waterloo. Dies Schauspiel ist sonderbar genug, und die Täuschung wirklich in manchen Szenen sehr groß. Zum Schauplatz dient ein Teil des freien Gartens selbst, der mit uralten Kastanienbäumen, mit Gebüsch untermengt, besetzt ist. Zwischen vier der ersten, deren Laub so dicht ist, daß kaum der Himmel durchschimmern kann, war eine tribune mit gradins für ungefähr 1200 Menschen errichtet, die wohl bis 40 Fuß Höhe hinanstieg. In einem furchtbaren Gedränge, nicht ohne einige empfindliche Stöße zu erhalten und auszuteilen, erreichten wir unsern Sitz. Es war eine warme, wunderliebliche Nacht. Der Mond schien äußerst hell und zeigte in einer Entfernung von ungefähr 50 Schritt zwischen zwei Riesenbäumen einen kolossalen Vorhang von rotem Zeuge, mit den vereinigten Wappen Großbritanniens bemalt. Hinter dem Vorhang ragten viele andere Baum-Gipfel, so weit man sehen konnte, hervor.

Nach einer minutenlangen Stille donnerte ein Kanonenschuß durch den Wald und die militärische Musik von 2 Garde-Regimentern ertönte zugleich in grandioser Harmonie aus der Ferne. Der Vorhang öffnete sich in der Mitte, rauschte voneinander, und wir erblickten, wie im Tageslicht auf einem Boden der sich sanft erhebt, unter hohen Bäumen hervorschimmernd, das Vorwerk Houguemont (nicht eine Dekoration, sondern aus Holz aufgebaute Fassaden mit gemalter Leinwand bekleidet, die wirkliche Häuser vollkommen nachahmten) und aus dem Walde anvancierten unter militärischer Musik die französischen Garden, treu uniformiert, mit ihren bärtigen sapeurs voran. – Sie formieren sich in Parade und Napoleon auf seinem Schimmel, im grauen Überrock, von mehreren Marschällen begleitet, passiert sie en revue. Ein tausendstimmiges ›vive l'Empereur‹ erschallt, der Kaiser berührt seinen Hut, eilt im Galopp weiter, und die Truppen in gedrängten Massen biwakieren. Nach einiger Zeit beginnt ein fernes Schießen, es wird immer tumultuarischer auf der Szene, und die Franzosen marschieren ab. Kurz darauf erscheint Wellington mit seinem Generalstab, alle in recht guter Kopie der Personalitäten, haranguiert seine Truppen und reitet langsam ab. Das große Original befand sich selbst unter den Zuschauern, und lachte herzlich über sein Konterfei. Jetzt beginnt das Gefecht durch tirailleurs, ganze Kolonnen rücken dann gegeneinander an, machen Attacken mit dem Bajonett, die französischen Kürassiere chargieren die schottischen Quarres, und da gegen 1000 Menschen und 2000 Pferde in der Aktion sind, auch das Pulver nicht gespart wird, so waren manche Momente in der Tat auffallend einem wirklichen Gefechte ähnlich. Besonders gut geriet der Sturm auf Houguemont, das in derselben Zeit durch einschlagende Bomben in Feuer aufgeht. Der dichteste Rauch eines wirklichen Feuers verhallte eine Zeitlang die Streitenden, die im allgemeinen Tumult nur durch die Blitze des kleinen Gewehrfeuers teilweise sichtbar wurden, während mehrere Sterbende und Tote den Vordergrund einnahmen. Als der Rauch sich verzog, stand Houguemont noch in Flammen, die Engländer als Sieger, die Franzosen als Gefangene umher, und von weitem sah man Napoleon zu Pferde, und hinter ihm seinen vierspännigen Wagen über die Szene fliehen. Wellington aber als Sieger, wurde unter dem fernen Kanonendonner mit Hurrah-Geschrei begrüßt. Die lächerliche Seite der Vorstellung war Napoleon, welcher der Eitelkeit der Engländer zuliebe, mehreremal flüchtend und verfolgt über die Szene jagen und dem Plebs in gutem und schlechtem Anzug zum Jubel dienen mußte. Das ist das Los des Großen auf der Erde! Der Welteroberer, vor dem einst die Erde zitterte, dem das Blut von Millionen bereitwillig floß, und auf dessen Wink die Könige lauschten – ist jetzt ein Kinderspiel, die Märchen seiner Zeit verschwunden wie ein Traum, der Jupiter dahin und Scapin, wie es scheint, allein noch übrig. Obgleich nach Mitternacht, war es doch noch Zeit genug, mich aus der seltsamen Licht- und Mondscheinszene auf einen glänzenden Ball bei Lady L... zu begeben, mit vielen Diamanten, schönen Weibern, kostbaren Erfrischungen, schwelgerischem souper, und kolossalem ennui. Schon um 5 Uhr früh ging ich daher zu Bett.


Den 13ten

Oft hatte ich von einem gewissen Herrn Deville in der City gehört, einem Schüler Galls, passionierter Kraniologe, der unentgeltlich, um seine eignen Kenntnisse zu bereichern, alle Tage der Woche zu gewissen Stunden Audienz erteilt, und jedem die gewünschte Auskunft gibt. Er untersucht den Schädel sorgfältig und macht gefällig mit dem Resultat bekannt.

Voller Neugierde besuchte ich ihn diesen Morgen, und fand sein Empfangszimmer, in welchem eine merkwürdige Sammlung aller Arten von Schädeln aufgestellt war, mit mehrern Damen und Herren angefüllt, die teils ihre Kinder zum Behufe fernerer Erziehung untersuchen ließen, teils, vielleicht Ämter, suchend, oder schon im Besitze derselben, sich erkundigten, ob sie sie wohl auch verwalten könnten? Ein einfacher, ernster und blasser Mann verrichtete dies Geschäft mit sichtlichem Wohlwollen und Vergnügen. Ich wartete, bis alle übrigen weg waren, und bat nun Herrn Deville, mir eine besondere gütige Berücksichtigung zu schenken, da es zwar zur Erziehung leider zu spät bei mir sei, ich auch kein Amt habe, aber sehr wünsche, eine solche Charakteristik von ihm zu vernehmen, die ich mir, zu noch tunlicher Vervollkommnung, gleich einem Spiegel vorhalten könne. Er sah mich sehr aufmerksam an, vielleicht um zuerst auf Lavater'schem Wege zu erspähen, ob ich de bonne foi oder als Schalk hier aufträte, und bat mich dann höflich, Platz zu nehmen. Er befühlte hierauf meinen Kopf wohl eine gute Viertelstunde lang, wonach er in abgebrochenen Sätzen folgendes Portrait von mir entwarf, das Dich, die mich so genau kennt, gewiß eben so sehr überraschen wird, als es mich, ich gestehe es, in keine geringe Verwunderung setzte, denn es war ganz unmöglich, daß er je früher irgend etwas von mir erfahren haben, noch mich kennen konnte.

Da ich alles sogleich aufschrieb und die Sache, wie Du denken kannst, mich nicht wenig interessierte, so glaube ich nicht, daß ich mich bei der Wiederholung in einem irgend wesentlichen Punkte irren kannIch war im Begriff, diese Stelle wegzulassen, die allerdings zu sehr der vertrauten Korrespondenz angehört, um viele Leser interessieren zu können. Da sie aber den seligen Verfasser wirklich ungemein treu schildert, und später derselbe manchmal darauf bezug nimmt, so hoffe ich, wird man mir die Beibehaltung derselben verzeihen. .

 

»Ihre Freundschaft«, fing er zuerst an, »ist sehr schwer zu gewinnen, und nur durch solche, die sich Ihnen ganz und mit der größten Treue widmen. In diesem Falle werden sie aber Gleiches mit Gleichen mit unwandelbarer Beständigkeit vergelten.«

 

»Sie sind leicht zu reizen in jeder Hinsicht und dann großer Extreme fähig, geben aber weder der leidenschaftlichen Liebe, noch dem Haß, noch andern Leidenschaften eine lange Folge.«

 

»Sie lieben die Kunst und werden, wenn Sie ausübend darin sind oder werden wollen, sich ohne Schwierigkeit darin ausbilden können, und ich finde die Kraft der Komposition auf Ihrem Schädel stark ausgedrückt. Sie sind kein Nachahmer, sondern wollen selbst schaffen, ja es muß sie das Gefühl oft drängen, Neues hervorzubringen.«

 

»Sie haben auch einen starken Sinn für Harmonie, Ordnung und Symmetrie. Wenn Sie Diener haben, oder Handwerker beschäftigen, werden diese viel Mühe finden, Sie zu befriedigen, weil Ihnen nichts genau und akkurat genug sein kann.«

 

»Sie haben sonderbarer Weise die Liebe zum Häuslichen und die des Umherschwärmens in der Welt, welche sich gegenseitig opponieren, gleich stark.«

 

»Gewiß werden Sie daher auf Reisen, so weit es Ihre Mittel erlauben, gern recht viel Dinge mit sich führen, und überall sich so schnell, als möglich, das häusliche, gewohnte Bild wieder herzustellen suchen.«

(Dies so treffende und so sehr in's Detail gehende frappierte mich besonders.)

 

»Ein ähnlicher Widerspruch findet sich bei Ihnen, in einem scharfen Verstande (verzeihe, aber ich muß seine Worte treu wiederholen) und einer bedeutenden Anlage zur Schwärmerei. Sie müssen innig religiös sein, und werden doch wahrscheinlich keiner positiven Form der Religion sonderlich anhängen, vielmehr (ebenfalls seine eignen Worte) eine erste Ursache aller Dinge unter einem moralischen Gesichtspunkte verehren mögen.«

 

»Sie sind sehr eitel, doch nicht von der Art, die viel zu sein glaubt, sondern viel sein möchte. Daher wird Ihnen auf die Länge die Gesellschaft Überlegener, Höherer in irgend einer Art, ja selbst Ihresgleichen nicht ganz wohl tun. Recht behaglich (easy) finden Sie sich nur da, wo Sie auf eine Weise wenigstens entweder durch ihre Stellung, oder in irgend einer andern Beziehung anerkannt präponderieren. Das Gegenteil, versteckte Satire, scheinbare Kälte, besonders wo sie sich nicht bestimmt feindlich, nur ungewiß ausspricht, paralysieren ihre Fähigkeiten leicht, und Sie werden sich, wie gesagt, ganz ungezwungen und heiter (cheerful) nur da bewegen können, wo Ihre Eitelkeit durch nichts niedergedrückt (hurt) wird; die Menschen, mit denen sie umgeben sind, Ihnen aber zugleich wohlwollen, wofür Ihre Gutmütigkeit eines Ihrer starken Organe Sie sehr empfänglich macht.«

 

»Diese letztere, mit einem scharfen Urteil gepaart, macht Sie auch zu einem großen Verehrer der Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Gegenteil empört Sie, und Sie werden ohne alles persönliche Interesse immer die Partei eines Unterdrückten lebhaft zu nehmen imstande sein. Auch Ihr eignes Unrecht gestehen Sie gerne ein, und verbessern es bereitwillig. Unangenehme Wahrheit, die Sie betrifft, kann Sie wohl verdrießen, Sie werden aber dem, der sie aus keiner feindlichen Absicht Ihnen sagt, doch eher geneigt sein, und jedenfalls deshalb wahre Achtung für ihn fühlen. Aus demselben Grunde werden Sie Geburtsdistinktionen eigentlich nicht zu hoch anschlagen, wenn Ihre Eitelkeit auch nicht ganz unempfindlich dagegen ist.«

 

»Sie lassen sich leicht hinreißen, es fehlt Ihnen aber dennoch an leichtem Sinn. Im Gegenteile haben Sie cautiousnessIst schwer zu übersetzen, denn ›Vorsichtssinn‹ drückt es nicht hinlänglich aus, vielmehr ist es das Vermögen, sich augenblicklich alles zu denken, was infolge einer Handlung geschehen könnte, und sie so, fast unwillkürlich, von allen Seiten beleuchten und sich ausmalen zu müssen, welches oft die Tatkraft lähmt. in zu hohem Grade, welche Ihrem Leben als Wermut beigemischt ist, den Sie werden über alles viel zu viel reflektieren, sich abwechselnd die seltsamsten Grillen machen, und gerade bei Kleinigkeiten, ohne Not in Kummer und Sorge, Mißtrauen in sich selbst und Argwohn gegen andere, oder auch in Apathie verfallen, sich im Ganzen fast immer mit der Zukunft, wenig mit der Vergangenheit und noch weniger mit der Gegenwart beschäftigen.«

 

»Sie streben beständig, sind begierig nach Auszeichnungen, und sehr empfindlich für Vernachlässigung, haben überhaupt sehr viele Ambition und von allen Arten, die Sie zugleich schnell wechseln, auch gleich damit am Ziele sein wollen, da Ihre Imagination stärker ist, als Ihre Geduld, weshalb Sie besonders günstige Umstände finden müssen, um zu reüssieren.«

 

»Sie haben jedoch Eigenschaften, die Sie fähig machen, nicht Gemeines zu leisten, und selbst das Organ der Ausdauer und Festigkeit ist stark bei Ihnen ausgedrückt, aber von so vielen widerstrebenden Organen gehindert, daß Sie einer großen Aufregung (excitement) bedürfen, um Spielraum dafür zu gewinnen. Dann treten die edlern Kräfte hervor, und die geringern sinken.«

 

»Sie schätzen Geld und Vermögen sehr hoch, wie alle, die viel tun wollen, aber nur als Mittel, nicht als Zweck. Geld an sich ist Ihnen gleichgültig, und es ist wohl möglich, daß Sie nicht immer sehr haushälterisch damit umgehen.«

 

»Sie wollen in allen Dingen schnell und augenblicklich befriedigt sein, wie mit dem Zauberstab; oft stirbt der Wunsch eher, als die Erfüllung möglich ist. Die Sinnlichkeit und das Wohlgefallen am Schönen hat einen zu mächtigen Einfluß auf Sie, und da Sie sich zum Gebieterischen, Herrschsüchtigen und Eitlen allerdings neigen, so findet sich hier ein foyer von Eigenschaften, die Sie sehr zu hüten haben, um nicht in große Fehler zu verfallen, denn alle Eigenschaften an sich sind gut, nur ihr Mißbrauch bringt Unheil hervor. Selbst die so unrichtig von dem Vater unserer Wissenschaft bezeichneten Organe des Mord- und Diebssinnes (jetzt richtiger Destruktionssinn und Erlangungssinn benannt) sind nur Anzeichen von Tatkraft und Begehrlichkeit, die, mit Gutmütigkeit, Gewissens- und Vorsichtssinn verbunden, einen wohlbegabten Schädel formieren, ohne diese intellektuellen Eigenschaften aber leicht zu Verbrechen führen mögen.«

 

Er sagte daher auch, daß bei Beurteilung eines Schädels es gar nicht auf die einzelnen Organe, sondern auf ihren Komplex ankomme, indem sie sich gar mannigfaltig gegenseitig modifizierten, ja zum Teil völlig neutralisierten, also nur die Proportion des Ganzen den eigentlichen Schlüssel zu dem Charakter des Menschen geben könne.

Als allgemeine Regel stellte er auf: daß Menschen, bei deren Schädel – wenn man sich eine gerade Linie von oben bis unten, durch die Mitte des Ohres gezogen denkt – der vordere Teil eine größere Masse, als der hintere darbiete, empfehlenswerter seien, weil der vordere Teil mehr die intellektuellen Eigenschaften, der hintere die tierischen enthalte.

Alle Schädel der Hingerichteten z. B., die er besaß, zeugten für diese Lehre, und bei einem der Grausamsten nahm der Hinterkopf 2/3 des ganzen Schädels ein. Auch bei den Büsten von Nero und Caracalla bemerkt man ein ähnliches Verhältnis.

Ist dieses jedoch im entgegengesetzten Extrem vorhanden, so fehlt es den zu intellektuellen Individuen wiederum an Tatkraft, und auch hier, wie in allen Dingen, ist ein billiges Gleichgewicht das Wünschenswerteste.

Herr Deville behauptet, daß man nicht nur hervorstechende günstige Organe durch Übung der von ihnen bedingten Eigenschaften sehr vergrößern könne, sondern auch dadurch andere nachteilige vermindern, und versichert, daß kein Lebensalter hiervon ganz ausgeschlossen sei. Er zeigte mir den Schädel eines Freundes, der sich noch im sechzigsten Jahre einem sehr anhaltenden Studium der Mathematik widmete, und in wenigen Jahren dadurch die betreffende bosse so merklich hervortreten machte, daß sie alle übrigen überragte.

Zuletzt gab er mir noch, gleichsam als Beleg zu seiner Charakterschilderung, eine Liste der bei mir hauptsächlich hervorstehenden und gemeinschaftlich wirkenden Organe meines Schädels, die mir sein Urteil sehr wohl erklärten, die ich aber nicht ganz mitteilen mag, da man über sich selbst immer weislich noch etwas zurückbehalten muß, wie die vertrauteste Dame doch auch nicht alle Toilettengeheimnisse enthüllt. Ohnedies kennst Du mich in mancher Hinsicht wahrscheinlich noch besser als Deville, da Dir ein mächtigerer Talisman dazu zu Gebote steht, als die Kraniologie – echte und wahre Liebe. Nur so viel muß ich des Scherzes wegen anführen.

Organ des Wunderbaren, schwach – weshalb ein Gläubiger an mir verdorben ist, ohne deshalb ein Schuldner werden zu müssen.

Idealität, sehr stark – weshalb ich nie mit der Gegenwart zufrieden bin.

Zahlensinn, schwach – weshalb ich sehr viel Mühe habe, Einnahme und Ausgabe stets im richtigen Verhältnis zu erhalten, und überhaupt Adam Rieses Rechenbuch nie geschrieben haben würde.

Zeitsinn ist auch schwach – weswegen ich gewöhnlich überall zu spät komme, als eine personifizierte moutarde après dinner.

Eminentes Vergleichungsorgan – wieder unglücklich für gläubigen und blinden Gehorsam.

Über so viele Fehler tröstet mich schlecht die große bosse des Kausalitäts-Organs, welches uns unter andern zwingt, die Unzulänglichkeit der menschlichen Existenz immer recht bitter vor Augen zu behalten, indem es das Vermögen ausübt, sich selbst und den eignen Geist als ein Fremdes zu betrachten und zu analysieren, sich zugleich mit den andern Menschen als ein Objekt zu beurteilen, und dabei willkürlich von allem zu abstrahieren, was durch Erziehung, Schicksal u.s.w. auf diese Wesen Einfluß gehabt hat und noch hat – oder um schulgerechter zu sprechen: welches von allem die Ursache ergründen will, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung genau erforscht, und bei allem den Menschen zu fragen zwingt: Warum? Eine... lästige Eigenschaft, die man auch im gewöhnlichen Leben ›Vernunft‹ zu nennen pflegt.

Leider ist Eventualität bei mir weit schwächer, als jenes Organ. Dieses, welches man das Realitätsvermögen nennen könnte, ist ebenfalls ziemlich schwer zu definieren, und sein geringes Volumen bei mir verurteilt mich, wie ich fürchte, zu einer Art Poeten, der nur im Traume sehen und leben darf, was er in der Welt selbst nicht erreichen kann.

Eventualität ist nicht Tatkraft, obgleich ihr Mangel eine auf denselben Zweck fortwährend gerichtete Tatkraft verhindert, denn wo sie nicht ist, entsteht eine Abwesenheit des Interesses und der Aufmerksamkeit auf das was geschieht, ein Mangel des praktischen Gesellschaftssinnes. Man hat bemerkt, daß alle großen Staatsmänner das Organ der Eventualität im hohen Grade besitzen, welches zugleich eine große Begierde in sich begreift, alles zu wissen, was im Getreibe der Welt vorgeht, sich nur wohl im Geschäftsstrudel zu befinden, der daraus hervorgeht, stets bereit zu sein, darin handelnd einzugreifen, keine Mühe dabei scheuend und alle ihre Impulse nur von der äußern Wirklichkeit, nie von der innern Phantasie, zu erhalten. An Cannings und noch mehr an Napoleons Gips-Schädel zeigte Herr Deville Eventualität gigantisch vorherrschend, bei beiden waren aber auch die andern intellektuellen Eigenschaften sehr ausgebildet, bei Napoleon die animalischen ebenso kräftig, bei Canning mehr Phantasie und KausalitätDarum starb auch der eine als Gefangener Europas in Helena, der andere vor Kumme über die Intrigen seiner Feinde im trauernden Vaterlande. A. d. H. .


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