Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Achtzehnter Brief

London, den 7. Sept. 1827

Teure Freundin!

Ich bin zwar, wie Du weißt, nicht stark in Erinnerungen von anniversaires etc., weiß aber diesmal doch, daß morgen derjenige Tag wiederkehrt, an dem ich meine arme Julie in B... allein zurücklassen mußte! Ein Jahr rollte seitdem über die Welt, und wir Insekten kriechen noch in dem alten Geleise – wir haben uns aber auch noch ebenso lieb, und das ist die Hauptsache! Endlich werden wir doch durch den großen Haufen glücklich hindurchkommen, durch den wir uns jetzt so mühsam arbeiten müssen, und dann vielleicht frisches Gras mit schönen Blümchen erreichen, auf denen eben der Morgentau seine Diamanten abgesetzt hat, und bunte Sonnenstrahlen sich in dem feuchten Kristall blitzend umhertummeln. Soyez tranquille, nous doublerons encore un jour le cap de bonne espérance!'

Ich habe Dir die letzten Tage nichts über mein Tun und Treiben geschrieben, weil es sich bloß darauf reduzierte, daß ich täglich mit B... arbeitete und schrieb, mit L... im Traveller's Club aß, und endlich allein zu Bett ging. Gestern war jedoch bei unserm dinner noch ein anderer Deutscher, Graf ... zugegen, der Pferde zu kaufen hierher gekommen ist. Er scheint reich und ist jung genug, um es lange zu genießen; übrigens das echte Bild eines gutartigen Landjunkers, gewiß eine höchst glückliche Art Menschen. Wünschte wohl, ich wäre ein solcher!

Dein Gutachten über den Park betreffend, bemerke ich, daß die Ausdehnung desselben, besonders mit gehöriger Arrondierung verbunden, nie groß genug sein kann. Windsor Park ist der einzige, der mich hier, als ein Ganzes, völlig befriedigt hat, und der Grund liegt wesentlich in seiner Größe. Er idealisiert, was ich haben will. Eine anmutige Gegend, in deren Bezirke man ohne Entbehrung leben und weben kann, jagen, reiten, fahren, ohne sich je zu enge zu fühlen, und die, außer eben den Ausgangspforten, nirgends einen Punkt zeigt, wo man bemerkt: hier sei sie begrenzt; worin aber dennoch alles, was die Umgegend Gutes besitzt, ein feiner Sinn sich bis in die weiteste Ferne zu eigen zu machen wußte. Übrigens hast Du recht, man muß das Kind nicht mit dem Bade verschütten, und viele Mängel und Beschränkungen des Terrains lassen sich durch klug berechnete Wege und Pflanzungen lieber verbergen, als daß man unverhältnismäßige Opfer für ihre Hinwegschaffung oder neue Akquisitionen brächte.

Meine Pferde sind heute glücklich abgesegelt, wiewohl sich der schöne Hyperion wie wahnsinnig dabei anstellte und den Kasten, in den er gesperrt war, nebst den eisernen Schienen, den Halftern und Riemen, alles wie Glas zersprengte. Er wäre bei einem Haar ins Meer gefallen, und wird unterwegs wahrscheinlich noch manche Not machen, obschon wir ihn wie ein wildes Tier gebunden haben. Man kann es übrigens den armen Geschöpfen nicht verdenken, daß ihnen angst wird, wenn der große Kran sie wie ein Riesenarm ergreift und im weiten Bogen in der Luft vom Quai über's Wasser in das Schiff versetzt. Manche leiden es indes mit der größten Ruhe, denn auch unter den Pferden gibt es Stoiker.

Es hielte mich nun eigentlich nichts mehr in London auf, aber Lady R... ist hier, und allein, und so anziehend! Einer solchen Freundin aus dem Wege zu gehen, wäre Unrecht, um so mehr, da ich nicht daran denke, in sie verliebt zu sein. Aber ist nicht auch die wirkliche, bloße Freundschaft einer schönen Frau etwas sehr Süßes? Ich habe gefunden, daß sich viele Männer alle Verhältnisse verderben, weil sie sich im nähern Verkehr mit Weibern immer sogleich verbunden glauben, die Verliebten spielen und dadurch die Frau, mit der sie zu tun haben, von Hause aus sur le qui-vive setzen, und die allmähliche rücksichtslose Vertraulichkeit und Unbefangenheit verhindern, auf welchem Boden am besten später alles aufblüht, was man hinsäen will. Ich begnüge mich daher sehr gern ganz allein mit einer zärtlichen Freundschaft, besonders wenn ich sie, so wie hier, im Blicke sanfter, schmachtender, blauer Augen lesen kann, ein purpurroter Perlenmund sie ausspricht und eine samtne Hand vom schönsten Ebenmaß sie durch ihren warmen Druck bekräftigt. Zu diesem Portrait brauchst Du nur noch den Unschulds-Ausdruck einer Taube, langes, dunkelbraun gelocktes Haar, eine schlanke mittlere Taille, und den schönsten englischen Teint hinzuzufügen – so hast Du Lady R... vor Dir, ganz wie sie leibt und lebt.


Doncaster, den 16ten

Ich hätte bald von London datiert, so schnell habe ich die 180 Meilen bis hier in 20 Stunden zurückgelegt, und dennoch Zeit genug übrig behalten, um zwei berühmte Schlösser und Parks aus Elisabeths Zeit, wenn auch nur flüchtig, zu besehen.

Das eine, Hatfield, welches ihr selbst zugehörte, und was sie oft bewohnte, ist weniger prachtvoll, als das zweite, Burleigh House, welches ihr berühmter Minister Cecil sich erbaute. Hatfield ist von Ziegeln aufgeführt, nur die Fenstereinfassungen, Mauerkanten und créneaux von Sandstein. Die Verhältnisse sind gut und großartig. Park und Gärten bieten nichts Interessantes dar, als sehr hohe Eichenalleen, die angeblich von der Königin selbst gepflanzt sein sollen.

Burleigh House konnte ich nur von außen sehen, da die alte Castellanin, obgleich die Herrschaft abwesend war, durch nichts sich bewegen ließ, den Sonntag durch Herumführen eines Fremden zu entheiligen, was ich um so mehr bedauerte, da sich hier eine sehr bedeutende Gemäldesammlung befindet. Im Hof des Schlosses, der mit vergoldeten Eisengittern eingefaßt ist, bewunderte ich einen ungeheuren Kastanienbaum, dessen Äste sich so weit ausdehnten, daß man unter ihnen Platz genug gehabt hätte, ein Pferd zuzureiten. Der altertümliche Park ist ebenfalls voll der schönsten Bäume, das Wasser aber auch hier, wie in Hatfield, nur stehend und sumpfig. Der Palast selbst ist in einem verwirrten Stil aus Quadern aufgeführt, unten gotisch, oben mit Feueressen, die korinthische Säulen-Capitäle darstellen. Der große Staatsmann muß einen korrupten Kunstgeschmack gehabt haben.


Den 17ten

Doncasters Pferderennen sind die besuchtesten in England, und der hiesige Rennplatz auch allen andern im Lande für Schmuck, Zweckmäßigkeit und leichter Übersicht vorzuziehen. Die Ansicht des Wettrennens gibt mehr Vergnügen und auch ein weniger kurzes Schauspiel, da man von den hohen turmartigen, höchst eleganten stands den ganzen Lauf von Anfang bis zu Ende deutlich überblickt. Die Pferde rennen in der Runde und derselbe Punkt dient zum Auslauf und Ziel. Die Menge des Volks, schöner Frauen und fashionabler Gesellschaft war außerordentlich. Alle benachbarte große Edelleute kamen in Gala hergefahren, was mich sehr interessierte, weil ich dadurch eine Art des hier üblichen Staates auf dem Lande kennenlernte, welcher von dem in der Stadt sehr verschieden ist. Die Equipage des Herzogs von Devonshire war die ausgezeichnetste, und als Notiz für M... beschreibe ich Dir den Zug:

Die Gesellschaft des Herzogs saß in einem viersitzigen Glaswagen mit 6 Pferden bespannt, die Geschirre und Bockdecke nur mittelreich und der Kutscher in Interims-livrée, blonder Perücke und Stiefeln. 12 Reiter eskortierten den Wagen, nämlich 4 Reitknechte, welche verschiedenfarbige Reitpferde mit leichten Sätteln und Zäumen ritten, 4 outriders auf Kutschpferden, denen gleich, die den Wagen zogen, mit Geschirrzäumen und Postillon-Sätteln, endlich 4 Bediente in Morgenjacken, ledernen Beinkleidern und Stolpenstiefeln, mit gestickten Schabracken und Pistolenhalftern, auf beiden das Wappen des Herzogs in Messing. Die Ordnung des Zugs war folgende. Vorn zwei Reitknechte, dann zwei outriders, hierauf der Wagen mit seinen schönen sechs Pferden, die der Kutscher vom Bock fuhr, auf dem vordern Sattelpferde ein Postillon. Links von diesem ritt ein Bedienter, ein anderer etwas weiter zurück rechts, hinter dem Wagen wieder 2 outriders, dann 2 Reitknechte, und am Schluß die letzten zwei Bedienten. Der kleine Vorreiter war allein in vollständiger Staats-livrée, gelb, blau, schwarz und silber, nebst gepuderter Perücke, etwas theatralisch gekleidet, mit dem buntgestickten Wappen auf dem linken Arm.

Das heute stattfindende St.-Leger-Rennen mag manchem eine schlaflose Nacht kosten, denn es sind ungeheure Summen verloren worden, da eine kleine Stute, der man so wenig zutraute, daß die Wetten gegen sie 15 gegen 1 standen, unter allen 26 Pferden, welche eingeschrieben waren, die erste blieb. Ein Bekannter von mir gewann 9000 L. St., und hätte im Fall des Verlustes kaum so viel hundert verloren. Ein andrer soll fast um sein ganzes Vermögen gekommen sein, und zwar, wie man allgemein sagt, durch die Betrügerei des Besitzers eines Hauptpferdes, auf das er selbst öffentlich sehr hoch, im geheimen aber noch weit höher dagegen gewettet und es dann absichtlich habe verlieren lassen.

Gleich nach dem Rennen, das mit seinem trouble und Tausenden von Equipagen mir ein höchst auffallendes Bild englischen Reichtums zurückließ, fuhr ich weiter nach Norden, einem bis jetzt mir noch unbekanntem Ziele zu, und kam um 1 Uhr in der Nacht hier in York, der zweiten Hauptstadt Englands, an. Die ganze Tour über las ich bei meiner Laterne im Wagen in den Frau von Maintenon-Briefen an die Princesse des Ursins, ein Buch, das mich sehr unterhielt. Viele Stellen sind für die Schilderung jener Zeit und Sitten höchst merkwürdig. Übrigens versteht die Inkognito-Königin natürlich das Hofleben aus dem Grunde, und erinnert in ihrem Benehmen oft auffallend an einen Deiner guten Freunde, besonders in der Art, wie sie stets Unwissenheit alles dessen, was vorgeht, affektiert, und mit Geringschätzung von ihrem eignen Einfluß spricht. Dabei zeigt sie aber auch viel Milde und Klugheit, und so ungemeinen Anstand in allem, daß man sie lieber gewinnen muß, als die Geschichte sie uns eigentlich schildert. Es ist zwar immer schlimm, ein altes Weib regieren zu lassen, es mag nun einen jupon oder Hosen anhaben, aber zu jener Zeit ging es doch noch eher wie heutzutage, denn im ganzen waren die Leute doch offenbar damals, weit mehr wie jetzt, naive große Kinder und führten sogar den Krieg auf diese Weise, ja selbst den lieben Gott sahen sie nur wie einen höher potenzierten Ludwig den Vierzehnten an, und, wie echte Höflinge, verließen sie in articulo mortis augenblicklich den irdischen König, keine Notiz weiter von ihm nehmend, um sich von nun bis zum Ende nur reuig dem, als zu entfernt bis jetzt vernachlässigten, mächtigeren Herrscher allein zu weihen. Man kann auch in den alten Memoiren sehr wohl bemerken, daß diejenigen, welche bei Hofe immer gut oder leidlich durchzukommen wußten, gleichfalls mit mehr Vertrauen auf ihr savoir-faire, im Himmel sterben, diejenigen aber, welche sich zu der Zeit in völliger Ungnade befanden, einen weit schwerern Tod und größere Gewissensbisse erleiden mußten. Man kann sich eine solche Zeit, einen solchen Hof und solches Leben gewiß nicht mehr recht treu vorstellen, aber grade für unsern Stand mag es allerdings nicht so übel gewesen sein. Ich machte viele Betrachtungen über diesen ewigen Wechsel in der Welt und rief zuletzt, angeweht vom unsichtbaren Geisterhauch, der fortwährend durch das All strömt, Liebender Sehnsucht Gruß dem herrlich funkelnden Abendsterne zu, der seit äonen Jahren sich all dies Treiben mit so vieler Toleranz und ungetrübter Ruhe ansieht.


Den 19ten

Es gibt wirklich einige Talente in mir, um die es Schade ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles das geht nun verloren, (denn sich selbst dient man immer schlecht) grade wie etwas noch viel Besseres, z.B. ein wunderherrlich schöner Baum in Amerikas Wildnissen sich vergebens jedes neue Frühjahr mit dem prächtigsten Laube, mit den süßduftendsten Blüten schmückt, ohne daß je auch nur eine arme Menschenseele ihre Augen und ihr Gemüt daran ergötzen mag. Eine solche Existenz nennen wir Menschen nun unnütz! Welcher aimable Egoismus – dessen ungerechte Verdammung ich auch mit leiden muß, denn meine erwähnten schönen Tugenden bleiben ebenfalls unnütz, und meine ganze Person wäre es vielleicht, wenn ich nicht glücklicherweise wenigstens meinen Leuten, nebst verschiedenen Gastwirten und Posthaltern, indem ich sie täglich bezahle, noch immer von reellem Nutzen, und Dir, gute Julie (je men flatte au moins) aus andern Gründen gar unentbehrlich wäre.

Also ganz um nichts und wieder nichts lebe ich nicht auf der Welt, und da ich auf der andern Seite niemanden schade, gleichsam Einnahme ohne Ausgabe, so stellt sich meine Rechnung noch immer leidlich genug.

Diesen ganzen Tag bin ich in der Stadt umhergewandert. Ich begann mit dem Dome, der rücksichtlich des Reichtums seiner Zieraten, wie auch seiner Größe, mit dem Mailänder einige Ähnlichkeit hat. Der Erbauer, d. h. der ihn zu bauen anfing, war Erzbischof Scroope, eine Shakespear'sche Person, den Heinrich IV. 1405 als Rebell köpfen ließ. Er liegt in der Kirche begraben, und im Kapitelhause daneben ist noch ein Tisch mit einem ihm früher zugehörigen, also vierhundert Jahre alten, Teppich bedeckt, auf dem sein Wappen vielfach eingewirkt ist. Der Teppich ist immer noch in leidlichen Umständen. Die Fenster im Dome sind größtenteils von altem, buntem Glase (eine große Seltenheit in England), nur hie und da durch neues ersetzt. Die Steinarbeit überall vortrefflich, auf das feinste und niedlichste wie geschnitztes Holz gearbeitet, alle Arten von Blättern, Tieren, Engeln und Potentaten darstellend. Von den zwei Hauptfenstern an den beiden Enden der Kirche ist das eine nicht weniger als fünfundsiebenzig Fuß hoch und zweiunddreißig Fuß breit. Das entgegengesetzte stellt in seinen seltsamen Steinverzweigungen die Adern des menschlichen Herzens dar und gibt mit dem blutroten Glase einen wunderbaren Anblick. Ein andres großes Seitenfenster ist dadurch merkwürdig, daß das Glas in Nachahmung von Stickerei und Nadelarbeit gemalt ist, so daß es nur einer feinen bunten Tapete gleicht, ohne irgend ein andres Bild zu enthalten. Im Chor steht ein alter Stuhl, auf dem mehrere Könige Englands gekrönt worden sind. Ich setzte mich neugierig auch darauf und fand ihn für einen Steinstuhl sehr bequem. Noch angenehmer mag es sich allerdings darauf sitzen, wenn man im Begriff ist, die königliche Krone zu empfangen.

Neben der Kirche ist eine sehr hübsche, gotisch verzierte Bibliothek, deren Einrichtung mir sehr zweckmäßig schien. Die Schränke und Fächer sind numeriert, die ersten mit römischen Zahlen, die zweiten mit Buchstaben. Jedes Buch hat drei Nummern aufgeklebt, oben die des Schranks, dann des Fachs und unten seine eigne Zahl, so daß man es im Augenblick finden kann. Die Nummern verstellen auch die Bücher gar nicht, da es Papierchen in Form goldner Sonnen sind, in deren Mitte der Buchstabe oder die Nummer steht. In der Ecke des Saals ist eine äußerst leichte und bequeme Wendeltreppe angebracht, um zur Galerie zu gelangen, die etwas über der Mitte der Schränke umherläuft.

Über allen Büchern (ein exzellentes Mittel, um sie vor dem Staube zu bewahren) sind leichte Pappdeckel mit umgeschlagenen Enden an dem Repositorio befestigt, die beim Herausnehmen der Bücher nur ein wenig aufgehoben zu werden brauchen. Sie sind mit violettem Papier überzogen und liegen nur ganz lose auf.

Der Buchstaben-Katalog ist folgendermaßen eingerichtet:

pagina 20
Format Buchstabe C Edition Schrank Fach Nummer
8 Cosmus etc. Verona 1591 II 7 180-192
4 Cavendish London 1802 I 5 52-55
Folio Colly London 1760 XI 3 1080-1082
12 Corneille Paris 1820 X 6 920-930

Dies wird genügen, ihn Dir deutlich zu machen, und da ich aus Erfahrung weiß, welch' schwieriges Geschäft das Ordnen einer Bibliothek ist, und wie viel verschiedene Manieren es dafür gibt, so habe ich diese, als sehr passend für eine kleinere Büchersammlung, aufzeichnen wollen.

Eine andere gute Einrichtung besteht in der Aufstellung von Bücherbehältnissen, um das einzelne Herumliegen derjenigen Bücher zu verhindern, die in öfterem oder gewöhnlichem Gebrauch sind. Sie haben die Form einer doppelten Schaufel, mit einem Unterschied in der Mitte, und emporstehenden Seitenrändern. Auf beiden Seiten werden die Bücher hineingestellt. Die gotischen Fenster sind hier zwar modern, aber denen in der Kirche sehr gut nachgeahmt. Auch die Art, wie sie in Blei gefaßt, ist sehr gefällig, mit sich fortwährend durchschneidenden Zirkeln. Der Kamin war mit samt der Einfassung ebenfalls in der Form eines gotischen Fensters gehalten, eine originelle Idee aus alter Zeit. Von den seltnen Büchern und Manuskripten, die hier aufbewahrt werden, konnte ich nichts zu sehen bekommen, da der Bibliothekar abwesend war. In einem Winkel fand ich jedoch eine sehr kuriose Abbildung der großen Prozession bei des Herzogs von Marlboroughs Begräbnis. Es ist fast unglaublich, wie sich seitdem die Trachten und Gebräuche schon so vollständig verändert haben. Der steinalte Küster, welcher mich herumführte, wollte sich noch als Knabe erinnern, dergleichen Soldaten mit langen Haarbeuteln gesehen zu haben.

Eine Viertelstunde vom Dom liegen auf einem Hügel, angrenzend der Stadt, die romantischen, mit Bäumen reich überwachsenen und mit Efeu bedeckten Ruinen der Abtei von St. Mary. Man hat die nicht lobenswerte Absicht, auf demselben Hügel dicht daneben, ein öffentliches Gebäude aufzurichten, und ist eben jetzt beschäftigt, den Grund dazu zu graben, wobei man auf die schönsten verschütteten Überreste der alten Abtei gestoßen ist, die kunstreiche Arbeit noch so wohl erhalten, als wenn sie erst gestern fertig geworden wäre. Ich sah mehrere herrliche Capitäle noch in der Erde, und in einem Hause daneben vorzügliche Basreliefs, die man während der Arbeit dahin gebracht hatte. Wir passierten hierauf den Fluß (die Ouse) in einem Kahn, und setzten unsere Promenade auf der Höhe der alten Stadtmauer fort, ein pittoresker, aber fast unzugänglicher Weg. Die umliegende Gegend ist äußerst frisch und grün, und die vielen gotischen Türme und Kirchen geben ihr viel Abwechslung und bieten herrliche Prospekte dar. Nach einer Viertelstunde Wegs erreichten wir das sogenannte Mickle-Tor, von dem der alte Barbakane (Seitenwerk) soeben abgerissen worden ist, welches aber im übrigen noch seine ursprüngliche Form ganz beibehalten hat. Die bunten und vergoldeten Wappen von York und England glänzten ritterlich darüber in der Sonne. Auf einem nahe Felde hat man vor fünfzehn Jahren ein römisches Grab entdeckt, und der Hausbesitzer, der es gefunden hat, zeigt es jetzt Fremden für Geld in seinem Keller. Das Gewölbe, von römischen Ziegeln, ist so frisch wie möglich, und das Gerippe im Steinsarge darunter, welches die Zeit dunkelbraun gefärbt, ist nach Aussage der Anatomen eine junge Frau und, was nach zweitausend Jahren viel sagen will, sie hat noch einige beaux restes – nämlich herrliche Zähne, und dazu einen der schönsten phrenologischen Schädel. Ich untersuchte ihre Organe sorgfältig und fand die wünschenswertesten Eigenschaften, ja in solchem Maße, daß ich es sehr bedauerte, sie zweitausend Jahre zu spät kennengelernt zu haben, sonst hätte ich sie geheiratet. Einen besser organisierten Schädel finde ich gewiß nie. Reich scheint sie indessen nicht gewesen zu sein, denn es haben sich nur zwei Glas-Flacons in ihrem steinernen Sarge gefunden – an sich jedoch höchst merkwürdige Gegenstände, derengleichen man, so vollkommen erhalten und unserm Glase so ähnlich, so viel ich weiß, außer Pompeji noch nirgends angetroffen. Das Glas unterscheidet sich von unserm nur durch einen silberartigen Schein, und hat, was am meisten auffällt, nirgends eine Marke, die anzeigt, daß es geblasen sei, welche Marke man bei allen unsern ungeschliffenen Gläsern nicht verbergen kann. Die Direktion des Londoner Museums hat dem Besitzer schon große Summen für diese Gläser geboten. Er findet es aber vorteilhafter, für einen Taler unseres Geldes die Merkwürdigkeit Fremden zu zeigen.

Nachdem wir zum Mickle-Tor zurückgekehrt waren, ging es nun noch mühsamer auf der zerbröckelten Stadtmauer weiter, bis wir nach halbstündigem Klettern eine schöne Ruine, ›Clifford's Turm‹ genannt, erreichten. Dieser alte feste Turm spielt eine Rolle in der englischen Geschichte. Einmal unter andern wurden tausend Juden, bis auf einen, darin verbrannt, die heutzutage Rothschild wohl gerettet haben würde. Zuletzt flog Clifford's Tower als Pulverturm vor hundert Jahren in die Luft, und ist seitdem dem Saturn, der alten fressenden Zeit, gänzlich verfallen. Doch die Zeit reißt ein, baut aber auch auf, daher stürzten die Trümmer zwar zusammen, aber Efeu umschloß sie wieder wie dichter Haarwuchs, in dem Tausende von Sperlingen nisten, und in der Mitte des hohen Turmes ist sogar ein stolzer Nußbaum emporgewachsen, dessen Krone bereits viele Fuß über die dachlosen Mauern hervorragt. Der Hügel, auf dem die Ruine steht, soll von den Römern aufgefahren worden sein, und ein Mann, der kürzlich um Schätze zu suchen einen Schacht durcharbeitete, fand den Fuß des Berges fast ganz aus Menschen- und Pferde-Knochen bestehend. So ist die Erde, überall ein großes Grab und eine große Wiege!

Von Ruinen und Toten begab ich mich zu den lebendig Toten, die zu den Füßen des Turmes schmachten; den armen Gefangenen in den Grafschafts-Gefängnissen. Äußerlich scheint ihre Wohnung zwar ein Palast. Innerlich sieht es aber anders aus, und die armen Teufel dauerten mich herzlich, die in zwar reinlichen aber doch schauerlichen und naßkalten Zellen hier den ganzen Winter hindurch, bis Monat März, bloß Verdachts wegen, sitzen müssen, mit der angenehmen Perspektive, dann vielleicht gehangen zu werden. Keine Entschädigung erwartet sie, wenn sie freigesprochen werden sollten! Im Hofe, wo die Schuldner herumgehen dürfen, weideten zugleich in ihrer Gesellschaft zwei Jagdpferde, eine Hirschkuh und ein Esel. In allen Räumen und Zellen, die ich besuchte, fand ich Ordnung und Reinlichkeit gleich lobenswert. Die merkwürdigste Eigentümlichkeit dieser Gefängnisse aber ist eine Art Diebes-Garderobe, mit wahrer Eleganz, wie eine Theater-Garderobe aufgestellt. Ein stark mit Wein überladener Gefangenenwärter stammelte folgende Erklärungen her:

»Hier sehen Sie die Perücke des berühmten Granby, die ihn so verstellte, daß er zehn Jahre lang nicht attrapiert werden konnte. Wurde hier gehangen 1786. – Hier der Zaunpfahl, mit dem Georg Nayler vor zwei Jahren auf dem Wege nach Doncaster erschlagen wurde. Deliquent wurde letztes Frühjahr hier gehangen. – Der knockdown (Schlagnieder) von Steffens, womit er sechs Leute auf einmal umgebracht. Wurde vor zwei Jahren ebenfalls hier gehangen. – Die ungeheuren eisernen Schienen, mit denen Kirkpatrick allein festgehalten werden konnte. Siebenmal entwischte er vorher aus den festesten Gefängnissen. Aber diese Schienen, die ich ihm selber noch angelegt, die waren ihm doch ein bißchen zu gewichtig. (Es waren komplette eiserne Balken, die ein Pferd kaum hätte fortschleppen können.) Er trug sie nicht lange, denn zwei Monate darauf wurde er, gerade am ersten Mai, an einem herrlichen Tage, gen Himmel expediert. – Hier die Maschine, mit der Cork falsche Guineen gestempelt. War ein sehr anständiger gentleman. Gehangen 1810.« – »Bitte«, unterbrach ich ihn hier, »was für eine Waffe war dieser riesengroße hölzerne Schlegel?« – »O«, schmunzelte der alte Kerl schwankend, »die ist unschuldig, he, he, das ist nur mein Zuckerschlegel, wenn ich negus mache, he, he, den habe ich mir hier nur so parat gestellt.« Die Garderobe befand sich auch immediat neben seiner Wohnstube und schien eine Liebhabersammlung, die seinem eigenen Eifer allein ihr Entstehen verdankte. Wie verschieden sind doch die Steckenpferde der Menschen! Ich fürchte, Du bist bereits müde von der langen Promenade, liebe Julie, mußt mir aber doch noch ein wenig weiter folgen, ja aus der Tiefe geht es sogar wieder mühsam bis zur höchsten Höhe hinauf. Ich wünschte nämlich das ganze Amphitheater meiner bisherigen Tour, nebst dem prächtigen Münster, auf einen Blick zu übersehen, und wählte mir dazu einen gotischen Turm von den schönsten Proportionen aus. Er ist von oben bis unten von kunstreicher durchbrochener Arbeit, und hinter dem transparenten Gewebe hatte ich mit meinem Operngucker schon von fern Leitern bis oben hinauf entdeckt, die mich sehr reizten, sie zu besteigen. Nach einem derben Marsch, auf dem wir ein altes Stadttor berührten, das Adels-Tor genannt, welches seit fünfzig Jahren vermauert war, und nun wieder geöffnet worden ist, um zur Passage für den neuen – Viehmarkt zu dienen, der sehr elegant und zweckmäßig mit drei Reihen Bogen für Schafe, Rindvieh und Pferde versehen ist, gelangten wir endlich zu besagtem Turme, eine Zierde der ältesten Kirche in York. Es machte einige Mühe, den Küster zu finden, einen schwarzen Mann, der mehr einem schmutzigen Köhler, als einem geistlichen Offizianten ähnlich sah, sich aber dabei doch voller guten Willens zeigte. Ich frug, ob man auf die mit herrlichen Galerien gezierte Spitze des Turmes gelangen könne? »Das weiß ich nicht«, war die Antwort, »denn ich bin selbst nie oben gewesen, obgleich ich schon zehn Jahre Küster bin. Es sind bloß alte Leitern da, und oben fehlt ein Stück daran, es wird also wohl nicht gehen.« Dies beteuerte meinen abenteuerlichen Tick, und ich eilte ohne Zögern turmaufwärts auf der schlechtesten, dunkelsten, engsten und verwittertsten Wendeltreppe, die man sich denken kann. In kurzem erreichten wir die Leitern. Wir bestiegen sie ohne Aufenthalt, und kamen auf die erste Plattform. Hier aber bedankte sich schon Küster und Lohnbedienter weiter zu klettern. Eine hohe und allerdings sehr schwankende Leiter mit vielen fehlenden Sprossen führte zur Spitze, wo oben, ungefähr sechs Fuß weit, die Sprossen ganz fehlten, bis zu einem viereckigen Loch, durch welches man auf das platte Dach hinaus gelangte. Ich mochte nun nicht mehr unverrichteter Sache zurückgehen, kletterte fort, war bald oben, erreicht mit den Händen den Rand der obern Öffnung und schwang mich, mit einiger Mühe, glücklich hinauf. Die Aussicht war in der Tat prächtig, und ganz nach Wunsch erreichte ich besonders meinen Hauptzweck, den unten so sehr von Häusern encombrierten Dom nun völlig frei, in aller seiner kolossalen Majestät gleich einem Kriegsschiff unter Kähnen vor mir zu sehen. Der Wind sauste aber fürchterlich in der Höhe, und alles war hier so sehr im Absterben begriffen, daß die steinernen Spitzen der candelabres in den Ecken der Galerie, wie diese selbst, bereits zum Teil eingestürzt waren, die noch stehenden aber sich wie Schiefer abblätterten, auch die Eisen, welche sie zusammenhielten, so locker und verrostet waren, daß im Winde die ganze Plattform zu schwanken schien. Nach und nach wurde mir in dem fortwährenden Sturme unheimlich zumute. Ich begann also den Rückzug, fand aber das Hinunterkommen weit schwerer als das Heraufklimmen, wie es immer bei solchen Gelegenheiten der Fall ist. Nur muß man sich den entmutigenden Gedanken keinen Augenblick überlassen, das beste und einzige Mittel, wenn man, wie die Engländer sagen ›nervous‹ zu werden anfängt. Indem ich mich also rückwärts nach der Leiter gewendet, fest an die Balken anklammerte, ließ ich mich in die Tiefe unter mir hinab und suchte, an den Armen hängend und meine Beine wie Fühlhörner ausstreckend, emsig die oberste Stufe – sehr froh, als ich endlich festen Fuß faßte. Unten angekommen erschien ich ebenso schwarz als der Küster.

Unterdessen war es Zeit zum Abend-Gottesdienst im Dom geworden, wo die größte Orgel Englands und eine ausgewählte Musik mir in dem herrlichen Lokal einen schönen Ausruhepunkt verhieß. Ich eilte schnell dahin und verträumte bald eine süße halbe Stunde unter der Töne Gewalt und Zartheit, denn als ›Tyrann der Musik‹, wie Heinze sie nennt, rollte die Orgel dröhnend durch die unermeßlichen Hallen, und sanft wie Frühlingshauch beruhigten wieder die Stimmen lieblicher Kinder das aufgeschreckte Gemüt.

Halb schon in der Dämmerung besuchte ich nachher noch die goldne Stadthalle, das Rathaus, wo der Lord Mayor (nur London und York haben Lord Mayors) dreimal die Woche Gericht hält, und auch die dreimonatlichen Assisen stattfinden. Es ist ein altes und schönes gotisches Gebäude. Daneben sind, neu aufgeführt, zwei Säle für die obern und untern Advokaten. In dem der obern sind in modernem bunten Glas die Wappen aller Lord Mayors in den Fenstern angebracht, denn jeder Handwerksmann hat hier ein Wappen. Gewöhnlich sieht man auch schon aus dem Inhalt desselben, wes' Geistes Kind der Besitzer ist; der Kaufmann hat ein Schiff, der Holzhändler einen Balken, der Schuster einen Leisten etc. Die Devisen dazu fand ich aber zu vornehm gewählt. Am besten hätten sie für die drei angeführten ohne Zweifel gepaßt: für die ersten das Lieblingslied der Berliner Straßenjugend: ›O fliege mein Schifflein, o fliege!‹ beim Zweiten: ›Sieh nicht den Splitter in des Fremden Auge, indem Du den Balken in Deinem eignen übersiehst.‹ Beim Dritten endlich: ›Schuster bleib bei Deinem Leisten!‹ Das letzte aber wäre freilich zu schwierig für einen Lord Mayor!

Ich habe nun das gehörige Gleichgewicht hergestellt, d. h. meine Hände sind ebenso müde vom Schreiben, als meine Beine vom Gehen. Es ist Zeit, dem Magen auch einige Arbeit zu gönnen. Wäre ich Walter Scott, so gäbe ich Dir den Küchenzettel, so aber wage ich es nicht; statt dessen lieber noch ein Wort über die Nachtisch-Lektüre, zu der mir wiederum die berühmte Maintenon gedient.

Es rührte mich, wie die arme Frau das traurige Einerlei, die bittere gêne ihrer Lage so treu schildert, und sich so oft und herzlich, mit unverkennbarer Wahrheit, nach dem Abtreten von diesem Theater sehnt, das, wie sie sagt, schlimmer wie jedes andere, von Morgen bis Abend dauert! Unter aller Pracht und Macht scheint ihr doch der Tod das Wünschenswerteste, und man kann sich nach so unendlich langer Leere, nach dem Aufopfern aller Eigentümlichkeit so viele, viele Jahre hindurch, die tödliche Ermüdung des Geistes wohl denken, die nach Erlösung schmachtet. Der religiöse Wahn, dem sie sich hingegeben, ist auch daraus erklärlicher, und lag überdem in der Zeit, die in dieser Hinsicht völlig kindisch war. Hätte ein Geist wie Frau von Maintenon später gelebt, so würden Molinisten und Jansenisten ihr kaum ein Lächeln der Verachtung abgewonnen haben, in der ihrigen war es anders. Sie bleibt in ihrer Art eine große Frau, wie Ludwig der IV. ein großer König, in einer kleinen Zeit, die eben, weil sie klein war, die kleinen Dinge, Hof, Gesellschaft etc., weit vollkommner ausbildete als die unsrige, und daher dem dichterischen Gemüt, das überall das Vollkommene, es sei klein oder groß, mit Vergnügen gewahr wird, ein immer neu anziehendes Bild darstellt.


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