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Zwei Eltern und ein Kind – das Zittern weicht nicht aus dem Haus, in welchem auf zwei Kinderaugen steht und schwankt: das Glück.
Zwei Kinder – wird das Zittern schwinden? Frag den Mann auf hohem Seile, der des Abends, wenn die Fackeln und die Dorfschaft unter seinen Füßen loh'n und rußen, die Musik auf einmal schweigt, das Leben mittels ausgereckter zweier Arme durch die Nacht trägt: Er zittert nicht, das Seil, um das sich seine Zehen gleitend krampfen, zittert.
Drei Kinder – hörst du sie im Garten tollen, jauchzen? Sechs der Hände haben sich gefaßt und wirbeln ringelreihend um ein Bäumchen. Du lächelst und du gehst an deine Arbeit, aber nächtens schreckst du auf im Traume: Wenn die Kette risse, wenn das Bäumchen knickte?
Der Kinder viere und der Kinder fünfe ...?
Da ist der Doktor Seliger, der Kinderarzt. Wir wohnten lang mit ihm auf gleichem Flur. Wenn ich den Namen heute höre, seh' ich eine Türe offenstehn, und ich hab mich schon als Kind gewundert: Nie war bei Seligers die Wohnungstür verschlossen. Links der Türe rankte sich aus einem klingellosen dunklen Loch ein Rosenzweig. So wunderbar war dieser Zweig gemalt, daß wir Kinder immer wieder nach ihm griffen.
Doktor Seliger, der nicht haben wollte, daß zwischen ihm und die ihn brauchten, sich das Schrillen einer Klingel schalte, sah's und lachte: »Greift nur, Kinder, greifet, und vergeßt mir nicht: Das Ungreifbare ist das beste.«
Ich verstand das nicht. Die meisten seiner Sprüche – ach, er hatte viele – waren Kindern unverständlich. Und gerade darum prägten sie sich ein mit wunderbarer Schärfe.
Ich war oft dabei, wenn er gerufen wurde. Hastig pflegte so ein Bote seine Botschaft herzustottern. Kaum daß der Doktor hinzuhören schien, wo die Familie war, aus der zwei Fieberärmchen nach ihm langten: »Hilf, Doktor, hilf!«
Und jetzt unterbrach er gar des Boten lange Rede. Kurz und schneidend, wie ein Messer, fuhr die Frage in den Wortschwall: »Wieviel Kinder sind dort, bitte?«
Der Bote starrt ihn an. Der Bote ist gebildet. Der Bote denkt sich: »Solch geschickter Arzt und solche ungeschickte Frage!« Und vergißt ganz auf die Antwort.
»Können Sie nicht hören: Wieviel Kinder – ja, im ganzen?«
»Eins, Herr Doktor, eben das erkrankte – darf ich etwas tragen?«
»Wie kann ich das jetzt wissen!« fährt der alte Kinderarzt ihn an, »bevor ich noch das Kind gesehen habe?«
Wir Kinder auf der Treppe wissen plötzlich, was der Bote denkt: »Der Doktor ist verrückt – nun, gleichviel, auch Verrückte können manchmal helfen.«
Und schon sehen wir ihn demütig hinterm Arzt und seinem Instrumentenkasten gehen.
Drei Tage später starb das Kind. Wir standen scheu vor einer Kirchhofstür. Dort kam der schlichte Zug. Ganz vorne eine Schulter, die sich hintern Kindersarg geschoben hatte. War das nicht der Bote? Ja, jetzt wußte er, was er zu tragen hatte. Einen Sarg.
Und dann spielen wir am großen Hausflur wieder eines unsrer Kinderspiele, halten plötzlich ein und schauen auf ein hastendes Elternpaar, das nach der Doktorklingel sucht und sucht. Da steht der Arzt schon in der Türe: »Ich soll kommen?«
Zwei fiebernde Wortschwalle stürzen über ihn. Er schneidet sie mitten entzwei: »Schon gut, schon gut – wieviel?«
Die Eltern sehn sich an. Ratlos.
»Kinder mein' ich – was denn sonst – ich bin doch Kinderarzt.«
»Fünf, Herr Doktor,« sagt der Mann.
»Im ganzen?«
»Im ganzen sind es sechs,« berichtigt ihn die Frau, »eins ist angenommen.«
»Also eine Schar?«
»Ja, eine Schar – das erkrankte ist das jüngste – sieben Wochen.«
»Hat das Kind die Schar gesehen?«
Dem Vater steigt die Röte ins Gesicht. Wieder können wir es deutlich sehen, was er über diesen dummen Doktor denkt.
Doch die Mutter hat begriffen. Ein leises Lächeln kommt über ihren schweren Kummer leichtbeschwingt dahergewandert: »Herr Doktor meinen, ob der Kleine die Geschwister mit Bewußtsein wahrnahm – freilich, freilich, gestern hat er sie zum ersten Male angelächelt.«
Der Doktor sagt nichts. Er nickt nur ganz vergnügt. Er bedeutet ihnen, daß sie etwas warten sollen. Er verschwindet in der Wohnung. Die Eltern warten, wir Kinder warten, unser unterbrochnes Flurspiel wartet.
Ei, läßt sich der Doktor Zeit. Soviel Zeit nahm er sich neulich bei dem einen Kinde nicht. Da war er da im Hui. Aber jetzt – wahrhaftig, in der Wohnung pfeift es. Darf ein Arzt denn, wenn er von den Eltern selbst geholt wird, pfeifen?
Wenn er fragte – sicher nicht. Aber dieser Doktor fragt nicht. Er steht gemächlich in der Türe. Er legt der Mutter zuversichtlich seine Rechte auf die Schulter: »Keine Angst, er hat die Schar gesehn – er geht nicht mehr davon.«
Und dann gehen sie zu dritt. Unser Flurspiel kommt nicht mehr in Gang. Wir verlieren uns im Hause: »Die Schar gesehn ... die Schar gesehn ... nicht mehr davon ... nicht mehr davon ...?«
Jenes Kind kam durch. Es lebt heute noch. Es ist mein Flurnachbar. Seine Flurtür ist geschlossen. Hinter der Tür ist ein Sicherheitsschloß und eine Sperrkette. Vor seiner Türe wächst kein Rosenzweig aus einer fortgenommenen Klingel. Auf seiner Türe unter seinem Namen steht ein Amtsrang. Er ist verheiratet. Sie haben ein Kind. Es ist sieben Jahre.
Ein zweites können sie sich jetzt nicht leisten, hat er mir im Treppenabstieg vorgerechnet. Mit einem Schwall von Zahlen. Ob ich das denn nicht verstünde?
Ich blieb stehn. Ich sah ihn an: »Und Sie haben einmal die Schar gesehn?«
» Ihre Schar. Den Anblick dieser Schar. Sie gaben ihn nicht weiter an ihr Kind? – Arme Eltern, armes Kind.«
Da ging er rasch weiter. Einmal sah er sich noch um nach mir. Nein, nicht besorgt. Daß Dichter manchmal überschnappen, wissen Regierungsräte ohne umzusehen.
Auch ich sah ihm nach. Die Treppe geht in unserm Haus gewunden. Ich sah ihn tiefer steigen, immer tiefer. Er wurde kleiner, immer kleiner. Jetzt verschwand er in der Tiefe.
Was vor meinen Augen tiefer stieg, stieg mir im Herzen in die Höhe. Es bedrängte mich. Es will haben, daß ich es bekenne: »Liebes Vaterland, ich bitte dich, steig nicht herab. Liebes Vaterland, ich bitte dich, laß dir deine Schar nicht rauben, sieh die Schar – du wärest sonst – der alte Doktor hat es mich gelehrt – verloren.«