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Er ging nicht oft in seinen Garten.
In seiner Jugend hatte er sich als das Höchste vorgestellt: Besitzer eines Gartens, eines kleinen Gärtchens nur zu sein.
Jetzt hatte er, der Herr Konsul, den größten Garten weit und breit. Und ging nie hinein. Er war ihm zu groß.
Einmal aber hatte er's im Hause nicht mehr ausgehalten. Vor Erwartung.
Was ein Mann, wie er, dem Reichtum, Ehren und Erfolge nur so zugeflogen waren, wohl noch zu erwarten hätte?
Liebe, Freunde, Liebe.
Eine Jugendfreundin hatte sich für heute abend angemeldet. Eine, die er einst umworben hatte. Die ihn nicht beachtet hatte. Die er damals noch beschworen hatte: »Einmal wenn Sie mir zwei Zeilen schreiben wollten, teure Klara, einmal wenn Sie ›Lieber Karl‹ sagen würden ...!«
»Mein Herr!« hatte sie ihn angeherrscht und war davongerauscht.
Und jetzt?
Jetzt hatte sie geschrieben. Nein, nicht »Lieber Karl«, sondern »Liebster Karl«. Und was folgte, waren nicht zwei Zeilen, sondern sieben wohlgezählte Seiten.
Und um acht Uhr würde sie erscheinen. Jetzt war's sieben und noch völlig hell im Juni. Diese Helligkeit verstärkte seine Ungeduld, trieb ihn aus den allzureich beladnen Räumen in den Garten.
Er durchschritt ihn schnell. Dann langsamer. Dann noch langsamer. Jetzt blieb er stehen.
Vor ihm lag ein Tannennadelhaufen. Es krabbelte und kribbelte darin. Aha, Ameisen.
Er wollte weitergehen. Etwas hielt ihn. Was, war ihm nicht bewußt. Ein Befehl war's: Bleib und schau!
Da blieb er denn und schaute. Wie das durcheinanderrannte. Scheinbar sinnlos. Für ein Auge, das von obenher in einen Menschenhaufen, Stadt genannt, herabsieht, mochte es wohl ähnlich sinnlos durcheinanderwimmeln. Und hatte dennoch Zweck und Ziel.
Dann war's wohl auch nicht zwecklos, daß da unter ihm Insekten ihre Straße zogen? Daß ein Teil sich mühte, Tannennadeln abzuschleppen. Und ein andrer Teil, dieselben Tannennadeln zuzuschleppen. Andre wieder, welche weiße Eier trugen. Nochmals andre, die am Wege standen und die jeder dritten, die vorüberzog, mit einem Fühler irgend einen Marschbefehl in ihren Kopf zu hämmern schienen.
Und wieder andre – ha, er mußte hellauf lachen: Liefen die nicht grad so wichtigtuerisch herum wie manche Menschen, die am hellen Tag mit leeren Aktentaschen durch die Straßen rennen?
Und jene dort – er lachte stärker – waren das nicht solche, welche würdevoll in einer Sitzung saßen, einer ordnungsmäßig im Reichsanzeiger drei Wochen vorher angekündigten Ameisengeneralversammlung?
Auf einmal kam ihn eine Lust an, Schicksalsmacht zu spielen. Ameisenschicksal.
Aber wie? Sollte er mit seinem Stock dazwischenschlagen? Nein, das war kein Schicksal, das war eine Roheit. Schicksal ist nie sinnlos, wenn es den von ihm Ereilten manchmal auch so scheinen mochte.
Nein, er wollte schonend in das wundervolle Kunstgefüge greifen. Wollte nur ein kleines Rädchen anders laufen lassen. Wollte mit seiner höheren Vernunft in ein winziges Schicksal, ein Ameisenschicksal so eingreifen, daß die eine Ameise es ihm hätte danken müssen, wenn – ja wenn sie Zusammenhänge über ihr ein wenig hätte ahnen können.
Aber da ergab sich, daß das gar nicht einfach war. Was er sich auch noch so schonend vornahm – mußte er nicht fürchten, daß er Kreise störte? Ameisenkreise, nicht Menschenkreise.
In Menschenkreise hatte er mit seinem Reichtum, seiner Macht nicht selten eingegriffen. Da brauchte ihm nicht bang zu sein. Da vermochte er die Dinge und die Menschen zu berechnen, wenn es auch nicht immer leicht war. Aber hier, wo er im Dunkel tappte, er, der Mensch, im Ameisendunkel ...
Sein Blick glitt abseits. Er erblickte zwei Ameisen. Sie waren ein gutes Stück voneinander entfernt. Von Zeit zu Zeit hoben sie ihre Fühlerantennen senkrecht in die Luft. Sie schienen sich zu wittern. Sie kamen Stück um Stück einander zu.
Er mußte lächeln: Waren's Liebesleute?
Plötzlich lächelte er nicht mehr. Er erblickte zwischen beiden in der Mitte, wo sie sich wohl treffen würden, einen Trichter. Der Trichter war aus Sand. Merkwürdig ebenmäßig war der Trichter ausgebaut.
Ein Spiel des Zufalls? Nein, der Zufall war lebendig. Unten auf dem Trichter saß er. Ein libellenartiges Insekt war es, ein Ameisenlöwe. Ameisenlöwen warten in solchen Sandfallen, bis Ameisen an den Trichterrand gelangen, schleudern Sand heraus, wodurch die Opfer in die Tiefe kollern, wo der Räuber sie vernichtet.
Als er alles das begriffen hatte, wurde er erregt. Er schaute auf die Uhr. Wenn der Sekundenzeiger noch einmal herumgegangen war, so riß es beide Liebesleute unbarmherzig in den Trichter.
Sachte schob er seinen Stock vor die eine Ameise. Die stutzte, schien die Richtung zu verlieren, rannte einen andren Weg, hob die Fühler, ohne daß ihr durch den Stock hindurch noch eine Witterung gekommen wäre – gab es auf ...
Auch die andre Ameise hob vergeblich die Antennen. Sie beruhigte sich nicht so leicht. Ob ihr durch den Kopf ging: Treulos? Ärgerlich genug schien sie zu sein. Es sah aus, als schüttelte sie den Kopf. Wie sie die Füße setzte, hätte man behaupten können, daß sie stampfe. So einer ihre Sprache hätte übersetzen können, möglich, daß ein Groll und Zorn dabei herausgekommen wäre. Etwa auch ein Hadern mit den Mächten, die bei ihnen Gott sind.
Aber da das Hadern ihr nicht helfen konnte, kehrte sie am Ende um. Und das Schicksal in der Sandfallgrube wartete vergebens auf die Doppelbeute.
Der Mann darüber nickte. Er fühlte sich befriedigt in der Schicksalsrolle.
»Herr Konsul – Herr Konsul – ein Telegramm!«
Er riß es auf. Er las: »Zug verwechselt. Auch kamen Bedenken. Schicksal will's nicht. Gott befohlen. Klara.«
Er starrte einen Augenblick ins Leere. Dann schüttelte er den Kopf. Vor Enttäuschung wurden seine Schläfen rot. Er stampfte mit dem Fuße. Groll und Zorn stieg auf. Er war dabei, die Faust zu ballen in der Richtung nach dem überflammten Abendhimmel. Dabei stolperte er über seinen Stock am Boden, erhaschte mit dem Blick die beiden Ameisen, die jetzt auseinanderstrebten, richtete sich auf und war auf einmal sonderbar gefaßt.
Er blickte in die Ferne: Rollte nicht ein Zug da draußen, den ein Hindernis nach einer andern Richtung lenkte? Und dazwischen war wohl eine Grube, ihm nicht sichtbar, wo's auf ihn gelauert hätte. Und auf sie.
»Herr Konsul wünschen dieses Formular für eine Rückdepesche selber zu beschreiben?« fragte der Sekretär.
»Schreiben Sie, ich wäre einverstanden und ich gratuliere, daß der Ameisenlöwe nun vergebens warte.«
Der Sekretär blickte unsicher: »Ob man das verstehen wird, Herr Konsul?«
»Wir verstehen selten unser Schicksal.«
»Schicksal, Herr Konsul?«
»Ja, unser Ameisenschicksal – wir alle sind Ameisen – Sie auch, Herr Graßmann.«
»Na, ich weiß nicht, Herr Konsul –«
»Ganz richtig, wir wissen's nicht – vielleicht ist's gut so –, es entfielen sonst die letzten Gründe, uns auf uns selber etwas einzubilden.«