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Mein erster Berg war ein Bild, mein erstes Meer ein Theatermeer. Die Alpen und das Weltmeer hatten später Mühe, mit dem Jugendeindruck Schritt zu halten. Das ist aber wohl mit allen Wirklichkeiten des Erhabenen so. Gegen Jugendphantasien kommen sie nicht auf.
Wobei es nichts verschlägt, daß da vom Erhabenen zum Gelächter nicht einmal ein Schritt ist, sondern oft nichts weiter als ein dünner Vorhang.
Man hatte mich in eine Oper mitgenommen. Ich verstand kein Wort davon. Ich verstand nur, daß der Onkel aus Amerika dabei war. Der hatte ein todtrauriges Dollargesicht. Und er war eigens zu dem Zwecke übern Ozean hergekommen, um einmal in seinem Leben ordentlich zu lachen.
Was hatten wir zu Hause nicht schon alles aufgeboten, daß er lache! Die ältesten und jüngsten Witze wurden aufgetischt. Und der Onkel?
»Is that so?« fragte er so höflich und gemessen, daß uns fror.
Vergebens, daß wir Kinder extra Purzelbäume machten, daß die Eltern ihn in einen Zirkus, in ein Lustspiel schleppten, daß ein Dutzend Finger prustend auf die Stelle wiesen, wo ein Lachen vom Direktor oder Autor direkt vorgeschrieben war –
»Is that so?« sagte sein steinernes Gesicht, nichts weiter.
»Dann wollen wir's mal hinten rum versuchen,« sagte mein Vater und verschaffte uns eine Familienloge in der Oper. Ich weiß heute nicht mehr, wie das Stück hieß. Ich weiß nur, daß die Mutter sagte: »Aber Vater, diese Oper ist ja mehr fürs Weinen.«
»Ebendrum. Was nicht vornrum geht, geht hintenrum.«
»Das ist ja zum Lachen,« sagte meine Mutter.
»Siehst du?«
»Ach was, um mein Gelächter geht es nicht. Um Onkel seines geht es. Weißt du nicht, daß, wenn wir ihn zum Lachen bringen ...« Dann sah er, daß wir Kinder wie die Luchse horchten. Aus dem Flüstern fing ich nur zweimal ein und dieselbe Silbe auf: »...ment, ...ment ...«
Die Mutter schien auf einmal rot zu werden. Peinvoll ging ein Schweigen durch das Zimmer. Vater schnitt es ab mit einem Klatsch aufs eigene Knie: »Na, Kinder, wollt ihr nicht hinübergehen und dem Onkel sagen, daß er heute abend noch zum Lachen käme?«
Wir stürmten in Onkels Zimmer. Aber als wir ihn auf einmal tiefernst vor dem Schreibtisch sitzen sahen, überkam uns alle dunkel ein Gefühl, daß diese holzgeschnitzte Traurigkeit in einem schweren Leben irgendwie begründet sei, so daß es uns die Rede verschlug und nur unserem Jüngsten eine konzentrierte Ansprache herausrutschte mit: »Lach!«
Und als er keine Antwort kriegte, mit verstärktem Nachdruck: »Lacha sollst!«
Onkel nickte langsam: »Is that so?«
Da schlichen wir hinaus. Auch in die Oper schlichen wir noch unter einem unverstandenen Druck. Musik ertönte. Ein Vorhang rauschte auf. Leute sangen, Leute weinten. Ich hatte keine Ahnung, was da droben für ein Schicksal über die Bretter ging. Nur daß es schwer war, fühlte ich.
Dann kam das Meer. Zuerst wußte ich nicht, daß es das Meer war. Nicht einmal der meerbefahrene Onkel schien's zu wissen. Denn er fragte leise meinen Vater:
»What's that, was ist das?«
Mein Vater mit verhaltener Erwartung feierlich betonend: »Das – ist – das Meer.«
»Is that so?« sagte Onkel ernst.
Zum Verständnis für die Heutigen: Es war das damalige Münchener Theatermeer. Die Illusion der Technik lag noch in den Windeln. Meere machte man vermittels eines riesenhaften grünen Tuches, unter dem ein paar Dutzend Menschen Kniebeugen machten, auf und niederhüpften, sich kugelten und wälzten. Diese Menschen gehörten nicht zum Königlichen Hoftheaterverband. Noch nicht einmal organisiert waren sie. Man hatte damals offenbar noch kein Verständnis für organisierten Meereswellenbetrieb. Jede Welle mochte hüpfen, wie sie wollte, unter oder über Tarif. Nicht einmal gegen Wellenbrecher hätte man was einzuwenden gehabt. Die Wellen wurden meistens knapp vor ihrer Verwendung rudelweise aus dem nahen Hofbräuhaus geholt und hüpften unterm grünen Tuch höchst vergnügt einen Liter Bier lang oder zwei, bis der Vorhang fiel.
Heute kann ich auch vergnüglich mit den Augen zwinkern über dieses Meer. Damals war ich hingerissen. Offenen Mundes soll ich dagesessen haben und voll tiefsten Ernstes: Das also ist das Meer? Womit ich mich im Grund von Onkels »Is that so?« nicht unterschied.
Die Musik verebbte. Der Meerakt ging zu Ende. Der Vorhang fiel.
Da geschah etwas Merkwürdiges. Eine von den Wellen mußte wohl zum erstenmal engagiert gewesen sein. Sie schien, wie alle erstmaligen Träger kleiner Rollen, von dem unbezähmbaren Drang besessen zu sein, sich auszuzeichnen, sich vielleicht mit einem Schlage an die Spitze aller Meereswellen zu schwingen. Daher kam es, daß sich diese Welle in ihrem Übereifer zu weit gegen die Rampe vorgehüpft hatte, um noch, wie sich dies für eine brave Welle ziemte, hinterm niedergehenden Vorhang abzuebben. Das in der Münchener Hoftheatergeschichte noch niemals dagewesene trat ein: Vor dem Vorhang hüpfte, unbekümmert um alle Aktschlüsse dieser Welt, eine Welle. Eine einsame grüne Welle. Eine individuelle Sonderwelle. Eine Welle, der es völlig gleich war, daß sie ihre ein, zwei Liter Bier bereits abgehüpft hatte. Eine idealistische Welle, die frisch und fröhlich in den dritten Liter Bier hineinhüpfte, ohne jede Aussicht, diesen Extraliter je einmal bezahlt zu kriegen. Vielmehr mit der Anwartschaft, angesichts eines immer drohender werdenden Intendantengesichts den bereits erhüpften zweiten Liter Bier abgezogen zu kriegen von ihrem Wellenhonorar.
Und das Publikum? Je nun, es war das Publikum von damals. Das verhielt sich ruhig. Das überlegte, daß die Separatwelle vor dem Vorhang doch vielleicht zur Oper mit dazu gehörte. Als Separateffekt laut Autor, Komponisten oder Intendanten. Das hatte keine Lust, sich mit einem voreiligen Gelächter zu blamieren.
Nur der Kapellmeister wurde ungeduldig. Der Kapellmeister, vor dessen Taktstock diese Welle ihre ungerufenen Künste machte. Der Kapellmeister, der mit der Ouvertüre zum nächsten Akt einsetzen wollte und der immer wieder nervös den Taktstock sinken ließ, weil ihn die unprogrammatische Welle dicht vor seinen Augen störte.
Ha, jetzt endlich schien sich diese Welle zu erschöpfen. Man konnte deutlich sehen, wie sie nur noch matt die grüne Meeresdecke hob. Nein, sie hatte nur verschnauft. Sie setzte wieder ein. Sie steigerte sich zur Sturmwelle, zur Orkanwelle. Man stelle sich mitten in einem friedlichen, unbewegten Ozean ausgerechnet eine Welle Windstärke 11 vor. Es war mit diesem Wind wie bei meinem alten Religionsprofessor, der einmal über jene Bibelworte »Und es erhob sich ein großer Wind« predigte und diese Predigt so einteilte: »Wir wollen erstens darüber sprechen, von wannen der große Wind kommt; zweitens, wohin er geht; drittens, wir wissen es nicht.«
Es wußte auch an jenem Opernabend niemand im Theater, was man mit der außer Rand und Band geratenen Welle nun beginnen sollte. Wie nun, wenn die Welle unaufhaltsam weiterwogte? Durch den nächsten Akt hindurch, wo eine Wiese ohne jede Welle vorgeschrieben war? Wie, wenn sie auch im übernächsten Akte durch den vorschriftsmäßigen Kerker unvorschriftsmäßig wallte? Wenn der Theaterdirektor gezwungen wäre, mitten im Stück vor sie hinzutreten und eine Ansprache über die sittlichen Pflichten einer verlorenen Welle zu halten? Nein, das ginge nicht. Eher schon, einer der Mitspielenden sänge sie entsprechend an. Das wäre auch nicht weiter aufgefallen, weil man ohnehin vom Singen nichts versteht. Aber wenn die Welle dann – es war ihr zuzutrauen – gar nicht darauf achtete, wenn sie auf Grund irgend eines ungeschriebenen göttlichen Wellenrechts darauf bestand, in alle Ewigkeit weiter zu wogen und zu wallen?
Und da geschah das zweite Merkwürdige an diesem Abend. Der Kapellmeister hatte geklopft. Mit seinem Stab natürlich. Aber nicht auf das Notenpult, sondern auf die Welle. Der unbotmäßigen Welle auf den Kopf geklopft. Die Welle hielt an mit Wogen. Die Zuschauer hielten an mit Atmen. Jetzt mußte die Entscheidung fallen.
Sie fiel. Drei Sekunden lang verharrte die Welle, dem Schwergesetz aller Wellen zum Trotz wie erstarrt auf ihrem Hochstand hängend, dann schlüpfte sie beschämt und rasch, aber nicht ohne Eleganz, unter den Vorhang zurück.
Zum Zeichen seines Sieges aber über die Naturgewalten klopfte der Kapellmeister jetzt dreimal scharf auf das Pult. Und diese drei Klopfer waren, ebenso rhythmisch und deutlich für das ganze Haus hörbar, begleitet von einem dreimaligen »Ha – ha – ha« aus unserer Loge.
Mein Onkel hatte gelacht. Der Mann mit dem vereisten Dollargesicht hatte gelacht. Es war unbestreitbar.
»Gewonnen,« hörte ich meinen Vater sagen. Und wieder kam aus seinem Flüstern nach der Mutter jene Silbe: »...ment ...ment« an mein Trommelfell geschlagen.
Dieses Trommelfell war damals elf Jahre alt.
Elf Jahre ist die Zeit, wo sich's für einen Jungen in München damals entschied – und heute noch entscheidet, – ob er die allgemeine Volksschule weiter m. M. durchmachen muß – m. M. heißt mangels Mittel, oder ob er auf die höhere Schule übertreten darf.
Ich durfte übertreten.
Warum, erfuhr ich erst nach Jahren. Der Onkel hatte uns ins Testament gesetzt. Jetzt wußte ich die Silbe »ment« zu deuten.
Genau genommen habe ich also meine »bessere Bildung« dem Meere zu verdanken. Noch genauer einer Welle.