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Seien wir einmal ehrlich: Was haben wir von unserer Sommerreise erlebt, wirklich erlebt?
Etwa das, was in den mitgenommenen Reiseführern steht: »Wohl eine der idyllisch gelegensten Städte am Rhein ist das in 250 Meter Meereshöhe am Fuße eines lieblichen bewaldeten Vorberges gelegene, trotz seiner pietätvoll bewahrten historischen Erinnerungen des modernen Komforts nicht entbehrende – entbehrende – entbehrende –«
Gelesen hast du das, ich weiß es. Auch deine Gattin hat es lesen müssen. Und deinem mitgefahrenen Sohn hast du es belehrend eingebläut. Alles das, bevor ihr ausstiegt.
Und wie ihr wieder einstiegt, was davon habt ihr behalten? Sieh mir in die Augen: Nichts!
Und heimgekehrt, befragt: »Wie war es also in der Stadt am Rhein, erzählt?« wird deine Gattin schwärmerisch berichten: »Herrlich! Gottvoll! Unvergleichlich – Sie gestatten, daß ich inzwischen den Tee aufsetze ...«
Derweilen du verstohlnen Griffs den Reiseführer hinten im Bücherschrank aufgeblättert hast und jetzt dozierend vortrittst:
»Wie es war? Hm, liebe Frau Professor, ich kann nur sagen: Wohl eine der idyllisch gelegensten –«
»Sie meinen ›idyllischst gelegenen‹?« verbessert dich der Herr Professor, »die Steigerungsform haftet am Eigenschaftswort, nicht am Zeitwort, lieber Herr Kollege.«
»Dieser Meinung bin ich nicht. In meinem Reiseführer heißt's auf Seite 93 ...«
Und während der Teekessel summt, unterhaltet ihr euch ausgezeichnet –
Von der Stadt am Rhein? Bewahre. Nein, von falsch gesetzten Superlativen in Reiseführern!
Und am Ende der üblichen Besuchsstunde lassen sich Professors so vernehmen: »Wir sind uns noch nicht schlüssig, ob wir auch dieselbe Stadt besuchen sollen. Aber da ihr sie uns so sehr verführerisch geschildert habt – was meintet ihr doch gleich, daß dort am schönsten wäre?«
»Hm,« sagst du, »es ist so vieles Schöne dort –«
»Darf ich nochmals Tee nachgießen?« lenkt deine Gattin ab.
»Den Hauptvorzug, meinen wir,« beharren der Herr Professor, »den Sie vorhin so lebendig – mein Gedächtnis, wissen Sie, für Einzelheiten –«
»Ja, sein Gedächtnis läßt seit kurzem so zu wünschen übrig,« sagte die Frau Professor, »drei Sachen sind es, nicht wahr, Konrad, die du nicht behalten kannst?«
»Ja, das erste sind Namen, das zweite sind Zahlen, und das dritte – das dritte, das hab ich jetzt schon wieder vergessen.«
»Ich weiß es,« läßt sich auf einmal euer naseweiser Sohn vernehmen, »das dritte, was der Herr Professor vergißt, sind Sachen, die gar nicht gesagt worden sind. Ihr habts von der Stadt überhaupts gar nix verzählt, weil – weil –«
»Weils ihr gar nix von ihr wißt.«
»Das ist denn doch –«
»Also nacha sag's!« fordert die respektlose kommende Generation.
»Dummer Junge: Wohl eine der idyllisch gelegensten Städte ist das in 250 Meter Meereshöhe am Fuße eines lieblich bewaldeten –«
»Ui jeegerl, als ob des net auf alle Städt passen tät!«
Du nimmst dich zusammen. Du sagst beherrscht: »Gut, mein Sohn, und was hast du dir von der Stadt gemerkt?«
»I – i sag's net.«
»Weil du auch nichts – weil du nichts weißt.«
»Ui, grad gnug, aber ihr lachts mich doch bloß aus.«
»Wir lachen dich nicht aus.«
»Also, dadrin steht's.«
Er legt ein zerledertes Notizbuch auf den Tisch, lacht und verschwindet.
Vier Köpfe beugen sich über das Notizbuch. Vier Köpfe lesen: »Rehbraten, den 22. Juni.«
Vier Köpfe sehen sich fragend an: »Rehbraten?«
»Ach,« sagst du, »das war in der idyllisch gelegenen Stadt am Fuße des lieblich bewaldeten –«
»Ja,« unterbricht dich deine Gattin, »wo man diesen ganz wundervoll zubereiteten Rehbraten zu bekommen pflegt – weiterlesen!« Und sie lesen weiter:
»Da gibt's einen saugroben Stationsvorstand. Und dabei hat er ein Loch in seiner roten Kappen. Der schwarze Adler hat kein Schild am Bahnhof. Aber da ist's am besten und gar nicht teuer, hat der Dienstmann mit der roten Nase gesagt. Der weiß mehr wie die Bücher. Und eine Gschicht von die alten Meerweiber weiß er, die ist zum Kugeln. Und wenn man in einem Laden nach dem Preis fragt, hat er gesagt, muß man sagen, mein Vetter ist hier am Magistrat, sonst muß man als Fremder doppelt zahlen. Um den Bahnhof rum ist es furchtbar fad. Und die Denkmäler sind auch wie alle. Aber gleich hinter der großen Kirche ist ein großes Tor. Durch das darf man nicht durchgehen, weil es privat ist. Ich bin aber doch durch. Ui, da ist ein Garten! Igel gibt's auch drin. Und ganz hinten ist ein Herr gesessen, der hat sich von einem Diener einen Rehbraten auf den Tisch stellen lassen. Der Diener hat gesagt: »Mach, daß du hinauskommst, Schlingel!« Aber der feine Herr hat mich eingeladen. Das hat geschmeckt! Und dann hat er mich in seine Fabrik hinterm Garten geführt. Da macht man lauter Gummibälle. Ich habe alles gesehen. Ich weiß jetzt ganz genau, wie man Gummibälle macht. Wenn unser Professor doch einen solchen Aufsatz gäb nach den Ferien. Aber ich weiß schon, wenn die Schul wieder angeht, müssen wir dasselbe schreiben, was mich mein Vater auswendig lernen hat lassen: Wohl eine der idyllisch gelegensten Städte am Rhein ist das in 250 Meter Meereshöhe am Fuße eines lieblich bewaldeten Vorberges gelegene ... Das ist stinklangweilig. An der Stationswand ist eine Tafel. Da steht's noch genauer. Da steht: Meereshöhe über Normalnull 250,3578 m. Das hat sicher unser Rechenprofessor ausdividiert. Die vierte Dezimalstelle ist also ein Zehntelsmillimeter. Ein Zehntelsmillimeter ist dreimal dicker als ein Fliegenschiß. Das ist doch zum Lachen. Wenn da ein Zug hereindonnert oder wenn der saugrobe Stationsvorstand niest, dann stimmt die vierte Dezimalstelle schon nicht mehr. Und vor der Stadt ist eine alte Linde, da hat der Kaiser Otto immer Gericht gehalten, hat mir der Schäferbartl mit dem weißen Bart erzählt. Und wenn sich dann herausgestellt hat, daß er danebengehauen hat mit seinem Richtspruch, dann hat er ein Goldstück in der Nähe der Linde vergraben. Und er soll oft daneben gehauen haben. Und ich habe über zwei Stunden dort herumgegraben. Aber gefunden habe ich nichts. Aber da ist eine alte Frau gekommen mit Brennholz auf einem Karren. Das hat sie aus dem Wald drüben, aber ohne Erlaubnis, weil sie den Schein nicht bezahlen kann. Das sieht man, daß es ihr schlecht geht. Und sie ist eine Wittfrau und hat sechs Kinder. Aber ich habe kein Geld gehabt. Da bin ich wieder durch das große Tor zu dem feinen Herrn gegangen. Aber der Diener hat gesagt, er hat im zweiten Stock eine Aufsichtsratssitzung. Da habe ich gesagt, das weiß ich schon und ich muß hinein. Aber da ist der feine Herr gerade herausgekommen und hat furchtbar gegähnt, wahrscheinlich, weil er sich drinnen so gemopst hat. Und da habe ich ihm das von der Wittfrau erzählt. Und er hat sich die Adresse aufgeschrieben und mir auf die Schulter geklopft. Und am Abend hat mich meine Mutter gefragt, wo ich mich so lange herumgetrieben hätte. Und mein Vater hat gesagt, in einer fremden Stadt ist das ein Unfug und ich soll im Reiseführer nochmals alles über die Stadt nachlesen, damit ich mich nicht blamiere, wenn ich zu Hause danach gefragt werde. Aber ich weiß schon, was ich tu. Ich pfeif auf alle Reiseführer. Ich mache mir jetzt einen eigenen Reiseführer von allen Städten, wo wir hinkommen, und ich freue mich schon, was ich da alles hineinschreiben kann, und ich weiß gewiß, das vergeß ich nicht und wenn ich steinalt werde ...«
Vier Köpfe, vier erwachsne Köpfe sehen aus dem zerlederten Jungennotizbuch auf. Auf vier Gesichtern steht ein Wunsch: Ach, hätten wir uns in der eignen Jugend auch so einen Reiseführer selbst geschrieben!