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Der alte Reifflingen malte eine Zahl aufs Löschblatt seines Arbeitstisches.
»Das da wird im Monat reichen, Thomas?« sagte er. Es sollte eine Frage sein, war aber ein Befehl.
»Freilich, Vater.«
»Das – das hab ich auch einmal gesagt, und dann – und dann –«
»Hat's nicht gereicht,« lachte der Sohn.
»Es reicht nie – das heißt, beim Militär war's so – wie's bei dir sein wird, bei jungen Ingenieuren –«
»Ingenieure pflegen es im Rechnen denen bei der Reiterei zuvorzutun –«
»Ach was, ums junge Leben geht es draußen bei euch jungen Dachsen, nicht ums Rechnen, darin seid ihr alle gleich.«
»Du also auch, Papa?«
»Ich war es, weil mein Vater auch so dumm war, eine Zahl auf diesen Tisch zu malen, statt –«
»Statt, Vater?«
»Komm mal dichter her, mein Sohn. So, jetzt schau mir fest ins Auge: Dein Vater hat als Leutnant alles durchgebracht, versteh mich: alles!«
»Aber, Vater,« sagte der Sohn unsicher und schaute durch das hohe Fenster auf die weiten Fluren, »mir kommt es vor, als hättest du genug –«
»– gehabt, mein Sohn, gehabt. Was du da siehst: ein unverdient von einer Seitenlinie in den Schoß gefallnes Erbe, als wir in das Hohle unsrer Jagdgewehre schielten: ich und deines Vaters Vater, Thomas.«
Er schwieg. Es schwieg der Sohn. In solcher Totenstille ziehen Heere von Gedanken auf das Schlachtfeld der Entscheidung.
Noch immer konnte sich der Sohn nicht fassen: »Alles, Vater?«
»Na ja, ein Stück blieb über beim Versteigern. Du kennst ihn ja, den Gnadenwald – hast als Junge drin gespielt – hast drin gelernt, wenn eine harte Nuß des Lehrers sich nicht knacken lassen wollte – hast, vermut' ich, auch schon Kümmernisse da hinaufgetragen – du weißt selbst, es ist kein allzugroßer Wald – aber immerhin, die je sechs Bretter für den Vater und für mich, die hätte er geliefert, wie er sie geliefert hat für alle, die auf dieser Scholle saßen – wie er auch für dich sie liefern würde, wenn – wenn –«
»Wenn ich alt genug bin, um zu sterben, meinst du?«
»Verstell dich nicht, du weißt es gut, was hinter meinem Wenn steht und dich anstarrt!«
»Wenn ich alles, was wir haben, auch verbrausen und verschäumen ließe, meinst du?«
»Ja,« sagte der Alte knapp.
»Keine Angst, ich reiche mit dem Wechsel.« Er zeigte auf das Löschpapier.
»Hab ich auch gesagt!« schrie ihn der Alte an, »sagt jeder – muß es sagen – was er dann tut, das steht auf einem andern Blatt – das eben ist es, daß die Väter niemals so gescheit sind, beides auf dasselbe Blatt zu schreiben für den Filius –«
»Beides, Vater?«
»Ja, den Monatswechsel und die Selbstverantwortlichkeit. Siehst du, wenn mein Vater damals, als ich auszog, mir den Gnadenwald verschrieben hätte –«
»Wie, während er noch lebte?«
»Mensch, meinst du, daß es einen Wert hat, wenn du über Särge stolpern müßtest, um zu deinem Gnadenwald zu kommen! Also kurz und gut: Reicht dieser Wechsel nicht, so kannst du über diesen Wald verfügen –«
Er hob das Löschblatt: »Hier der notarielle Akt, der Wald ist dein – nichts da mit dem Dreingerede – wenn vorher gedacht wird, sind die Redereien nachher überflüssig – außerdem, in einer halben Stunde geht dein Zug, mein Sohn – soeben ist der Wagen vorgefahren – die Begleiterei zum Bahnhof ist bei uns nicht üblich – gehab dich wohl!«
Der Sohn wandte sich.
»Halt, die Notariatsurkunde hast du mitzunehmen, und eins noch, Thomas: Ich wünsche nie vom Gnadenwalde wieder was zu hören.«
*
Dem jungen Reifflingen ging's in der Stadt, wie's allem Jungvolk geht: die neue Freiheit ging ihm ein wie junger Wein.
Junger Wein ist unberechenbar. Berechenbar allein ist das Gebinde, draus er kommt und drein er geht. Das Gebinde, so sich Reifflingen benannte, war von altersher kein schlechtes Holz: Thomas schäumte über, aber bersten, daß es hemmungslos aus allen Fugen wallte, tat er nicht. Die Beschaffenheit der Fugen gibt die Fügung.
Wohl fügte es sich, daß es ihn in schlechte Kameradschaft schwemmte. Aber ob man darin sauber bleibt, hängt nur von einem selber ab und nie von einer Kameradschaft.
Thomas blieb es.
Die Monatswechsel freilich wurden immer rascher von dem heißen Pflaster aufgesogen. Sie verdunsteten wie Morgennebel. Keine stillen Abendblumen, wie sie aus dem Reich der schönen Künste und der schönen Wissenschaften sich erheben und drauf warten, daß sie, leise angerufen, sich mit stummen Geistergrüßen zu dir neigen – konnten sie mehr tränken.
Da trank er selbst. Der schnelle Trunk ergab das schnelle Spiel. Aus den feuchten Zechertischen blühten brandbunt, wie bemalte Schöne, starre Kartenfächer, die der jungerhitzten Stirne alles andere denn Kühlung fächelten.
Der Morgen graute. In der Stube hing der abgestandne Dunst des Weins und schwellten glitschigkaltgewordne Raucherwolken. Die Putzfrau setzte mit verachtendem Getöse ihren Zuber frischen Wassers auf die Diele, stemmte ihre festen Arme in die Hüften: »Hätt' mir nicht 'denkt, daß es gar so übernächtig mache, meine Herren, das Studieren.«
Da sprangen sie auf. Da schmissen sie die Karten hin. Da zeterten brüchige Dämchenstimmen: »Nichtgefallenlassen!«
Aber wehr' sich einer, dem es im Genick sitzt von versäumtem Schlafe, gegen eine frische Morgenputzfrau!
Fluchend stolperten sie hinaus in die erwachte Stadt, wo das morgenfrohe Leben sie umklatschte, daß es klang, als landeten wohlgezielte Ohrfeigen auf schlaffen Wangen.
Da verkrochen sie sich flüchtend in die unberührten Betten ihrer Buden. Nur aus dem jungen Reifflingen langten unversehens nichtentnervte Vorfahrsarme, richteten ihn grade, stießen ihn zum Polytechnikum: »Mach dein Sach!«
Kann aber einer seine Sache machen, wenn die Sache nichts aus ihm macht?
Da steht die Spannungsformel für Kondensdampf an der Tafel. Der Professor hat sie hingeschrieben. Nein, hingeschmissen hat er sie: »Die Praxis folgt der Formel nicht!« wetterte er, »da ist ein Haken irgendwo verborgen – sucht ihn – zum Donnerwetter, macht nicht so erstaunte Augen – krallt die Finger, packt den Kerl – was sagt ihr, es sei noch eine gute Weile, bis ihr ausstudiert habt – wer, zum Teufel, sagt euch denn, daß ihr so lange warten müßtet mit der Praxis – hier saß einer, der sich in den Ferien ein Patent geholt, um das sich die Fabriken heute reißen – selber müßt ihr euch zuerst zusammenreißen, ehe sich die andren um euch reißen – na, wer von euch hat Schneid, die Formel von der Tafel wegzuwischen – eine neue draufzuschreiben – eine bess're, bitte ich mir aus – Herrgott, Kinder, kann ein alter Lehrer sich was Bessres wünschen, als daß aus euren Bänken immer wieder einer auftaucht, der berufen wäre, mir die Kreide aus der Hand zu schlagen und die neue Formel zu erhärten? – Na, Reifflingen, wie wär's – Ihre Augen glühen wie aus einer fernen Höhle – so was mag ich, wenn's nicht etwa so was wie ein Kater ist ... merkwürdig, meine Herren, wie das größte und das kleinste oft aus gleichen Höhlen herkommt – freilich, wer sich drauf verlassen wollte und gerade deshalb schwiemeln wollte, Freunde, der rutscht aus – der große Fortschritt hat sein eigenes Gesetz, nur der kleine ist in unsre Hand gegeben – ob ein Fortschritt klein ist oder groß, das ist vorher unerforschlich – die erste Dampfmaschine zeugte sich aus einem Teetopf, dessen Deckel unterm entweichenden Dampfe sich hob und senkte – allerdings, die Augen eines Watt sind über dieses Alltagsschauspiel hingegangen ... was, es läutet schon? Da ist mir wieder mal der Philosophengaul in eine Formel eingebrochen – na, das nächstemal reit' ich Kandare ...«
*
Thomas Reifflingen ging aus dieser Vorlesung wie im Traume nach Hause. War der Professor wirklich nur ein Schrullkopf, wie die Leute sagten?
Warum hatte er gerade ihn beim Namen aufgerufen? Ihn, auf dessen Zügen sich doch die Verwüstung eingegraben haben mußte. Die Verwüstungen des Spiels, des Weines, des verschoßnen Blutes.
Oder hatte die Verwüstung doppelte Gesichter? Konnte solch ein Einbruch wirken wie ein Schuttwegräumen, unter dem ein Neues anfing aufzusprossen? Wo blieben da die Angeln, in denen sich die Flügeltüre Schuld und Sühne zwangshaft drehte?
Und wenn er nun die Türe aus den Angeln höbe? Wenn er durch die ausgehob'ne Türe in die Höhe stürmte? In ein neues Leben.
Wer hatte doch gesungen, Jugend sei Trunkenheit ohne Wein, vor ihrer brausenden Schlittenfahrt zerstöbe Kartenspiel und angemalte Liebe?
Thomas überrannte auf der Treppe seine Freunde und ein girrendes Geflöte: »Keine Zeit, zu bummeln, ich muß an die Arbeit, Kinder!«
Da lachten sie ihn aus. Durch das Durcheinander stapfte der bemühte Kassenbote einer Bank: »Wohnt hier ein Herr v. Reifflingen?«
»Der bin ich – Sie wünschen?«
Eine Mappe klappte zögernd auf und wieder zu: »Wär's nicht besser in der Wohnung –?«
Thomas sperrte auf. Ein Wechsel lag vor ihm. Er hatte nicht mehr dran gedacht. Verlegen sagte er: »Wenn Sie in einem Monat wiederkommen wollten –«
»Herr v. Reifflingen scheinen in der Wechsellehre nicht Bescheid zu wissen – bis morgen mittag dürfen wir es liegen lassen, dann geht's zu Protest.«
Gleichmütig stapfte er hinaus. Zu wie vielen hatte er das schon gesagt?
Für Thomas aber war's das erstemal mit allen seinen Schrecken. Protest, wie drohend die zwei Silben klangen. Protest, wenn Vater es erführe. Protest, wenn Vater dies Papier in seinen alten Händen drehte: »So weit also bist du schon, mein Sohn, den Monatswechsel schon am fünften durchgebracht, den Gnadenwald da droben vor die Hunde gehen lassen –«
»Den Gnadenwald, da muß ich bitten, Vater –!«
»Nichts zu bitten. Hast du den Vertrag vergessen? Der Gnadenwald hat zwischen mir und diesem Langpapier zu stehen. Erst kommt er daran, dann ich –«
»Aber Vater, du wirst doch nicht glauben, daß ich fähig wäre –«
»Wozu du fähig bist im Guten und im Bösen, das ist deine Sache, Junge. Meine Sache ist: Ich kann erst bluten, wenn der Wald geblutet hat. Der ist dein Schild und ist mein Schild – nur daß ich vor dem Schilde stehe und du hinter ihm – mich kann er erst erdrücken, wenn es keinen Gnadenwald mehr gibt, mein Sohn.«
»Noch gibt es einen!« schrie der Sohn jetzt laut den Zettel an, der vor ihm lag: »... welche Summe zur Vermeidung des Protestes spätestens bis Freitag 1 Uhr bei der Handelsbank erlegt zu werden hat ...«
Bis morgen 1 Uhr war's ein voller Tag.
Er ging zum Geldverleiher. Der hörte ihn geduldig an. Verbindlich lächelnd nickte er: »Die Zeiten sind vorüber, da man noch auf einen Namen auslieh. Was sind heute Namen – ja, wenn Ihr Papa als Bürge –«
»Es handelt sich um mich,« sagte Thomas schroff.
»Dann bedaure ich. Kann ich sonstwie dienen?«
»Nein.«
Er war schon an der Türe, als es hinter ihm erscholl: »Sie verlieren etwas – sagt ich's nicht, da liegt es schon am Boden – hm, eine Notariatsurkunde – aber bester Herr Baron, wer wird denn solche Dinge lose in die Tasche stecken – ich vermute, daß es etwas ist, was Sie zu zeigen nur vergessen hatten – Sie gestatten doch, daß ich mich selbst bediene ...«
Thomas stand wie angewurzelt. Er konnte keinen Schritt tun. Ihm war's, als ginge durch die Eichenkronen seines Jugendwalds ein Brausen: »Halte deinem Schicksal still, du kannst ihm nicht entgehen, ob du Füße hättest oder Wurzeln ...«
Da hielt er still. Da hörte er es weiterrieseln: »Hm, der Hochwald, ungeschlagen – Ihnen selbst verschrieben ohne alle Vorbehalte – aber Menschenskind, das hätten Sie doch gleich gestehen sollen – auf dieser Unterlage läßt sich freilich reden – tja, das heißt, die Summe, die Sie nannten, ist nicht grade unbeträchtlich – aber auch der Wald ist's nicht, so wie er da beschrieben steht – hm, ich mache Ihnen einen Vorschlag –«
Prüfend überflog er die Gestalt, die sich noch immer nicht bewegte.
»Mein Vorschlag also wäre der: Sie verkaufen mir den Wald, ich löse morgen Ihren Wechsel ein –«
Die Erstarrung löste sich. Ruhig griff er nach dem Dokument, rollte es und schob es ein.
»Aber lieber Herr, Sie sollten mich den Satz doch wenigstens vollenden lassen: Ich löse also morgen Ihren Wechsel ein und schreibe Ihnen eine Summe gut, die ... was ist doch Jugend ungeduldig – wie unsereiner jung war, hat man alte Leute einen angefang'nen Satz beenden lassen, Herr Baron.«
»Beenden Sie.«
»– und schreibe Ihnen eine Summe gut, die es erlauben würde, daß Sie einen Wechsel in derselben Höhe sechsmal – nicht doch, siebenmal – warten Sie, ich muß genauer kalkulieren – also achtmal, neunmal – aber lieber Freund, mein Satz ist nicht zu Ende – also setzen wir's auf einen knappen Bruchstrich: Zehnmal könnten Sie die gleiche Summe jeden Tag bei mir erheben – versteht sich, samt den aufgelauf'nen Zinsen – was sagen Sie zu solchem Angebot?«
Er sagte nichts. Er hörte kaum, wie ihm der andre auseinandersetzte, daß sein Angebot natürlich nur mit Rücksicht auf die augenblicklich gute Lage auf dem Rundholzmarkt gemacht sei, daß die Preise aber über Nacht die umgekehrte Richtung nehmen könnten – o, er habe das erlebt – und dann würde er, der junge Herr Baron, vergeblich einen Dummen suchen, der ihm auch nur siebenmal das Geld von morgen mittag gäbe ...
Das alles war ihm nur ein fernes Rauschen, welches leis und immer leiser wurde. Laut und immer lauter wuchs in ihm die andre Stimme: »Mit solcher Sicherheit im Rücken, kann dein Studium nie mehr, wenn dein Monatswechsel wieder nicht ganz langt, gefährdet werden, und da Vater von dem Walde nichts mehr wissen will –«
»Ich komme morgen wieder.«
»Wenn das bedeuten soll, daß Sie verzichten –«
»Eben nicht. Ich will mich nur besprechen.«
»Mit Ihrem Vater?«
»Das steht dahin. Daß es mir ernst ist mit dem Wiederkommen, soll das Dokument beweisen. Ich laß es Ihnen hier zu treuen Händen.«
Er erreichte grade noch den Schnellzug, der ihn, als es dunkel wurde, in die Heimat brachte. An der Haltestelle vorher stieg er aus. Der Bahnbeamte sah dem Manne mit dem hochgeschlagnen Mantelkragen nach: »Ich laß mich hängen, Josef, wenn das nicht der junge Reifflingen –«
»Der steigt doch hier nicht aus.«
»Und wenn er's täte?«
»– wären Wagen da und Pferde.«
Als ihm der erste Höhenzug im Rücken lag, besann er sich, hielt an und schaute auf. Der Mond war aufgegangen. Auf der nächsten Höhenwelle glänzte etwas Dunkles auf: der Gnadenwald.
In einer knappen Stunde war er droben. Schweigend nahm der Wald ihn auf.
Er setzte sich am Rand auf einen Baumstumpf: »Kennst du mich nicht mehr?«
Silber floß von allen Stämmen, lautlos.
»Du mußt dich doch erinnern, wie ein Knabe durch dich tollte?«
Ein Gelächter aus den dunklen Gründen: »Hunderte von Knaben sind durch mich getollt.«
»Ich meine einen Reifflingen.«
»Dutzende von Reifflingen in ihren Knabenjahren kenn ich.«
»Mich auch?« schlug er den Mantelkragen nieder.
»Dich auch. Du willst mich verkaufen.«
»Woher weißt du –?«
»Kennst du Wälder schlecht! Haben wir nicht hunderttausend Wurzeln in der Mutter? Sollten wir nicht miterleben können, was Milliarden Teilchen ihres Blutumlaufes, Mensch genannt, erleben?«
»Ich bin zu dir gekommen, dich zu fragen, ob du zürntest, wenn ich mich entschlösse –«
»Du bist längst entschlossen.«
»Ich kann mich wieder andersrum entschließen. Willst du mich beraten, meiner Knabenjahre Gnadenwald?«
»Als du ein Kind warst, hattest du nicht nötig, mich um Rat zu fragen. All das, was ich wußte, hast du auch gewußt. Ist es anders heute?«
»Ich glaube, an der Scheidegrenze unsrer Kindheit wird das Herrschaftstor gesperrt, auf einem langen Umweg über Schulen, Hinterhöfe, Hinterhältigkeiten müssen wir den andren Aufgang für die Dienerschaft gewinnen.«
»Wenn ihr als Kinder herrschtet, wer hat euch gezwungen, euch als Mann zu winden?«
»Wie soll ich das wissen, wenn es du nicht weißt?«
»Ich weiß es und ich wollte dich nur prüfen.«
»Und ich habe schlecht bestanden?«
»Wer gut besteht, fragt nicht.«
»Ach, Gnadenwald, ich wollt', ich wäre wieder Kind.«
»Werd' es.«
»Wechselunterschreiber haben es verwirkt. Ich wollte nur, ich wüßte, ob ich dich verkaufen soll ...«
Er sann lange nach. Der Kopf sank ihm zur Brust. Waldschlaf hob die linke Mooshand, wie sie Mütter heben, wenn sie Kinder schläfern wollen ...
Mit einem Schlage setzte ein Gebrause ein. In den Lüften war ein Pfeifen. Huii, bogen sich die alten Eichenkronen. Gellend fuhren Schreie durch die Stämme. Aus der Wurzelerde gab es grollend Antwort. Über allem stand in Totenstille eine brandrot angelaufne Scheibe: Unbeteiligt sah der Mond herab.
Thomas war im Schrecken aufgefahren. In die Höhlung einer Eiche zwängte sich sein Körper. Angstvoll krallten sich die Hände in die Risse.
Plötzlich war die wilde Jagd verschwunden. Hatte sie die Erde eingeschluckt? Spähend bog sich Thomas aus der alten Eiche: Wenn er jetzt die Flucht ergriffe?
Hohn rebellte da in seinem Innern, der alte Landsknechtsvorfahr schüttelte den Speer: »Die Flucht wovor, mein Muttersöhnchen, he!«
Er schämte sich. Er sprang heraus. Er stampfte auf, wie Kinder stampfen, wenn sie trotzen: »Was geht mich der Wald an!«
Hohngelächter klatschte von den Wipfeln. Wieder brach das Dröhnen in der Runde los. Waffen klirrten. Unsichtbare ritten durch den Wald. Grausig klangen ihre Rufe: »Her mit ihm – wo ist er – wer ihn fängt, soll unser Hauptmann werden – hussa ho!«
Thomas hob mit einem Ruck die Stirn: »Wen sucht ihr?« schrie er in das Unsichtbare.
»Den, der uns verkaufen wollte!« brüllte es durch die Stämme.
»Wer seid denn ihr?«
»Die Geister dieses Waldes – hast du ihn gesehen, Menschlein – er muß sich verkrochen haben – er ist feige – hilf uns suchen – du sollst deinen Lohn bekommen –«
»Welchen Lohn?«
»Du magst ihn selbst bestimmen – ein Gnadenwald läßt sich nicht lumpen – keine Rederei jetzt mehr – laufe, spähe, greife, suche – hussa ho!«
Da ging er mitten durch die wilde Jagd und suchte – sich.
Und schämte sich zum andern Male des Versteckspiels, gab sich wieder einen Ruck, stand plötzlich mit gekrätschten Beinen still und warf die Arme in die Höhe: »Hallo, ich habe ihn!«
Hui, stürzte sich das wilde Heer herbei, dicht und dichter, bis es eine Mauer um ihn ward, aus der es kein Entrinnen gab. Aus der jetzt eine Stimme scholl, eine erz'ne, welche alle andren niederrang: »Wo hast du ihn, ich sah' ihn nicht!«
Eine grauenvolle, kurze Stille folgte. Dann brach es los.
Unsichtbare Arme griffen ihn. Unsichtbare Fäuste trommelten in seinem Nacken. Unsichtbare Füße stießen ihn in seine Lenden. Um ihn flogen wirbelnd abgebrochne Äste. Unter seinen Füßen brach der Boden auseinander: Der andre Wald lag bloß, der unterirdische, das Gewirr der Wurzeln bäumte sich nach oben und züngelte nach ihm. Molche krochen auf ihn zu und Salamander. Aufgescheuchte Hirsche senkten wütend die Geweihe, um ihn aufzuspießen. Aus den Bäumen flatterte und schatterte Gevögel und Gekralle auf ihn nieder.
»Halt!« schrie wieder jene eine Stimme, die den Lärm der andern niederzwang, »ihr wißt, was dem Verräter zukommt – los!«
Brausendes Gelächter. Es hob ihn hoch, es schüttelte ihn, es gab ihm einen Schwung – an den Eichenkronen sauste er vorbei, hoch, höher, den Mond streifte er, wieder abwärts ging der grausige Fall – wieder schüttelte es ihn, wieder gab's ihm einen Schwung ...
Die Eichen warfen sich das Menschlein zu mit Hussa und Hallo, Fangball spielt der verkaufte Wald.
»Noch hab ich dich ja nicht verkauft!« schrie Thomas.
»Gespielt hast du mit uns – jetzt spielen wir mit dir – werft ihn weiter!«
Die Sinne schwanden ihm ...
Er schlug die Augen auf. Friedlich saß er auf dem alten Baumstumpf. Silbern schuppte sich das Mondlicht von den Stämmen. Eine unnennbare Ruhe wob und goß sich über alle Kreatur.
»Du hast geträumt, Thomas,« sagte der Wald freundlich.
Er konnte nichts erwidern. Noch lag ihm all das Grauen in den Gliedern.
»Du verkennst mich,« lächelte der Wald, »ich bin nicht die Gewalt, ich bin das stille Werden. Stürme, Kriege, das ist euer schlecht' Gewissen. Wir sind im Grunde – einer von den Euren hat's empfunden: ew'ge Ruh vor Gott dem Herrn.«
»Und – und die Rache?« stammelte Thomas.
»Ist nicht unser – unser ist die Liebe,« sagte mütterlich der Wald der Gnaden, nickte ihm durchs Mondlicht zu, nahm ihn behutsam auf das Moosknie und erzählte ihm aus jenen Tagen, als der kleine Thomas in ihm spielte, in ihm lernte, in ihn hineintrug all die großen Freuden und die kleinen Kümmernisse der Jugend ...
*
Wieder übernächtig stand er, mit dem ersten Zug zurückgekommen, in der eben erst erwachten Stadt. Aber keine Übernächtigkeit erloschner Augen war es. Über Nacht war neues Wissen über ihn gekommen und ein neues Wollen.
Er läutete den Geldverleiher aus den Federn. Auf dem Schreibtisch lag das braune Dokument des Gnadenwalds.
Der Geldverleiher wollte ihm die Hand entgegenstrecken, wollte sagen: »Nun, mein junger Freund, ich darf den Wechsel also für Sie ausbezahlen?«
Aber als er vorher einen Blick in dies Gesicht geworfen hatte, sagte er nichts. Er war kein Freund verlor'ner Liebesmühe. Wortlos übergab er ihm das braune Dokument, verbeugte sich ein wenig spöttisch: »Wie Sie wollen, junger Mann, und – guten Morgen.«
Fast hätte er gewohntermaßen ein »Vielleicht ein andermal« hinzugesetzt. Aber das Gesicht da vor ihm hatte keinerlei Vielleicht mehr in den Zügen.
So erschien es auch dem Bankdirektor, wo er Mühe hatte anzukommen: »Sagen Sie, ich hätte keine Zeit für nichtbezahlte Wechsel –«
»Es handelt sich um mich,« stand er uneingeladen vor dem Direktor.
Der maß ihn, ließ ihn nähertreten, winkte dann dem Dritten ab und sagte: »Weiß schon, was Sie haben wollen – was sie alle wollen: Schulden soll man für euch zahlen –«
»Nein.«
»Schön, was also sonst?«
»Es wäre mir arg, wenn der protestierte Wechsel meinem Vater präsentiert –«
»Steht sein Name drauf?«
»Sein Name ist der meine.«
»Aha, Extramoral für Adelsnamen – ist nicht mehr modern, Verehrter – außerdem fürs Wechselrecht ganz unerheblich – der Wechsel geht zurück – dem, der ihn ausgestellt hat, bleibt es überlassen, pfändend gegen Sie –«
»Ich – ich habe nichts.«
»Soso, Sie haben nichts? Und unterschreiben trotzdem einen Wechsel? Gehört das auch zum alten Adelsvorrecht?«
»Es ist mir leid. Ich will es abbezahlen.«
»Womit? Mit neuen Wechseln?«
»Mit dem, was ich erspare. Ich bekomme monatlich zuviel. Die Hälfte reicht. Ich will arbeiten.«
»Taten Sie das nicht bisher? Drittes Semester, schätze ich? Man hat anderes zu tun, nicht wahr? Ein bißchen schludern und ein wenig ludern –«
Thomas richtete sich auf: »Ich habe kein Kolleg versäumt!«
Der Direktor wippte mit der Stiefelspitze: »Wenn ich Ihren Herrn Professor fragte –?«
»Fragen Sie.«
»Sie gefallen mir. Herr Rinkelmann hat keinen Blick –«
»Wie, Sie wissen?«
»Geldverleiher pflegen Rückendeckung bei der Bank zu nehmen. Sie haben Ihren Wald bei mir nicht ausgespielt. So was lieb ich. Wir lösen Ihren Wechsel ein. Sie können abbezahlen, wann und was Sie wollen.«
»Ich will bezahlen, was ich sagte.«
»Hm, die Ferien stehen vor der Tür. Die pflegen bei euch mehr zu brauchen als das Studium.«
»Pflegten, bitte – die Vergangenheit. Die Gegenwart ist anders, Herr Direktor.« – – –
Eine Stunde später ließ sich Thomas beim Professor melden. Der sah zerstreut vom Schreibtisch auf: »Geben Sie –«
»Was soll ich geben?«
»Na, das übliche, wenn einer zwei, drei Wochen vor Semesterschluß mit dem erlogenen Testate im Kollegienbuche in vergnügte Ferien abrutscht –«
»Ich will nicht rutschen. Ich will bleiben.«
Dem Professor schob's die Brille auf die Stirne: »Weshalb sind Sie dann zu mir gekommen?«
»Ich möchte auf die Jagd gehn, Herr Professor.«
Die Brille rutschte wieder tiefer: »Auf die Jagd? Hab ich's nicht gesagt – jagen will das Herrchen, statt studieren!«
»Glauben Herr Professor nicht, man könne beides?«
»Nicht zu gleicher Zeit, Verehrter, es sei denn – aber dazu sind Studenten, welche Monatswechsel kriegen, nicht zu haben.«
»Es sei denn, Herr Professor?«
»Lassen wir's – das sind Dinge, die den Werkstudenten angehn.«
»Ich will einer werden. In die Liste will ich eingetragen werden. Verdienen will ich in den Ferien –!«
»Nanu, Sie sprachen doch von Jagen?«
»– und eine neue Formel jagen, welche Sie auf eine neue Tafel für uns schreiben sollen, Herr Professor!«
Der Professor hatte sich erhoben. Seine Brille legte er zusammen. Die beiden Hände legte er dem jungen Manne auf die Schultern: »Und welche Gnade hat bei Ihnen das vollbracht?«
»Die des Waldes, Herr Professor.«