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Mein Freund, der Medizin Student – er ist aus Preußen – nahm mich öfter ins Kolleg mit. Einmal hatte der Professor – der berühmte Kräpelin in München war es – die Verblödung zu behandeln. Er führte einen Fall vor und bemerkte lächelnd, daß er nicht geklärt sei – ganz geklärte Fälle gäbe es nur für die Dummen. Wer ehrlich wäre, müsse sich begnügen, eine Oberfläche etwas tiefer anzuritzen als es üblich wäre. Zu diesem Zwecke habe er den Fall gleich mitgebracht.
Eine alte Dienstmagd war es. Sie saß still auf einem Stuhl und blickte in das Leere. Der Professor suchte ihren Blick auf uns zu lenken. Ob sie wisse, wer wir seien.
Sie schaute über uns hinweg. Sie schüttelte den grauen Kopf.
Ob sie wisse, welchem Staat sie angehöre?
»Naa,« sagte sie.
Ob wir einen König hätten oder eine Republik?
»Naa,« sagte sie zusammenfassend.
So, nun möchten die Studenten selbst noch Fragen an sie stellen.
Die Studenten taten es, erst zögernd, wie man mit der fürsichtig ausgestreckten Stiefelspitze einer toten Katze auf den Leib rückt, immer in der Angst, sie könnte nicht tot sein und am Ende einem unversehens noch ins Gesicht springen.
Die Furcht war unbegründet, die alte Dienstmagd sprang nicht mehr. Da wurden die Studenten mutig. Ganze Fragenschauer – Schauerfragen, meinte der Professor halblaut – prasselten auf das erloschene Wesen.
»Nun noch eine Frage, meine Herren, die Sie für die allgemeinste halten, bitte.«
Die Fragenschauer hörten auf. »Dachte mir's,« lächelte Kräpelin, »das Allgemeinste ist das Schwerste – nun, Sie vielleicht?«
»Leben Sie,« sagte mein Freund, »oder sind Sie tot?«
Die Dienstmagd sah ihn an, regungslos.
»Und das halten Sie für eine allgemeine Frage?« sagte der Professor, »ich halte das für die persönlichste Frage der Welt.«
»Also gut, welche Jahreszahl schreiben wir?«
»Naa,« sagte die Dienstmagd.
»Kommen wir zum Schlusse,« sagte der Professor, »Ihr Urteil, meine Herren, ist sie hoffnungslos verblödet, oder ist da noch ein kleiner Rest von – von, sagen wir, Scheinvernunft?«
»Scheinvernunft,« dachte ich mechanisch, »Scheinvernunft?« und hob den Finger.
»Fragen Sie!«
Ich faßte die alte Dienstmagd fest ins Auge, riß mich selber in Gebärde und im Tonfall so zusammen, wie es unser alter Lehrer tat, wenn er die Geographie Bayerns zum letzten Male vor der Prüfung drohend durchging – »Cheneralrepetition« nannte er das: »Aufgepaßt, wo entspringt die Isar?«
Die Dienstmagd vor uns setzte schon zum »N–naa« an, hielt plötzlich ein mit einem Ruck, in ihrem Auge glomm in weiter Ferne – so ferne etwa als sie selber alt war – ein winziges Lichtchen auf, das größer ward und größer, bis es mit einem Funken aus ihr schoß, bis sie aufsprang, ihre alten Hände vor sich auf eine unsichtbare Schulbank legte und mit einem gehorsamen Singsang, auf und ab, sagte: »Die – I–sar – entspringt – im – Kar–wen–del–ge–bir–ge – und – eilt in – ra–schem – Lau–fe – der – Donau – zu.« Und setzte sich und starrte wieder in die Ferne.
Stille im Saal. Dann ein dröhnendes Gelächter. Nicht alle lachten. Mein Freund zum Beispiel lachte nicht.
Auf dem Heimweg sagte er empört: »Was ist da zum Lachen, bitte.«
»Geistbeck,« sagte ich und lachte.
»Du solltest dich schämen, über diese arme Magd zu lachen!«
»Ich – ich lache nicht über die Magd.«
»Über was denn?«
»Geistbeck,« prustete ich, »der gelbe Geistbeck!«
Er sah mich von der Seite an. Ich kannte diesen Blick. Wir hatten eben jene Magd damit beehrt.
Da mußte ich noch mehr lachen. Ich fühlte mich von meinem Freund in den Vortragssaal geführt, den Studenten vorgewiesen: »Hoffnungsloser Fall, meine Herren – immerhin, ich will noch eine letzte Frage an ihn stellen: Wer ist Geistbeck, bitte?«
Da blieb ich mitten auf der Straße stehen, legte die Hände wagrecht vor mich in die Luft auf eine unsichtbare Schulbank, vor der Cheneralrepetition: »Geistbeck, Leitfaden der Geographie Bayerns für Mittelschulen, Ausgabe B, gelb, Seite 37, links oben, dritte Zeile: ›Die Isar entspringt im Karwendelgebirge und eilt in raschem Laufe der Donau zu.‹«