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Ich habe einen blinden Freund. Wir gingen miteinander in die Schule. Zwölf Jahre war er damals, als uns der Französischlehrer » naître« aufgab. Naître heißt geboren werden.
Es ist ein unregelmäßiges Zeitwort. Eins der schwierigsten sogar. Das ist ganz in Ordnung. Ist's nicht schwierig, auf die Welt zu kommen? Und von Regelmäßigkeit ist keine Spur.
Nur fänd' ich, ist man einmal auf die Welt gekommen, sollt' es dabei sein Bewenden haben und man sollte, wenn man zwölf ist, nicht mehr vom Französischlehrer drangsaliert zu werden brauchen mit: Je nais, ich werde geboren; tu nais, du wirst geboren; il naît, er wird geboren; nous naissons, wir werden geboren; vous naissez, ihr werdet geboren; ils naissent, sie werden geboren. Von der Vergangenheit ganz zu schweigen: Je naquis, ich wurde geboren. Oder je suis né, ich bin geboren worden. Ist es nicht ein Unfug, von sich selbst zu sagen: Je naquis? Gibt es auch nur einen Menschen, der sich dran erinnern könnte?
Wir haben freilich damals diese Dinge nicht erwogen. Zwölf Jahre wenn man ist, erwägt man nicht. Da kriegt man auf und lernt man.
Wir lernten immer in dem Garten hinter unsrem Hause. Es war vier Uhr nachmittags. »Hans,« sagte ich, »soll ich dich abfragen?«
»Frag nur, bei mir sitzt es.«
»Was heißt: Du wurdest geboren?«
» Tu naquis.«
»Und: Ich werde geboren werden?«
» Je naîtrai – aber lassen wir's jetzt gut sein, es wird dunkel.«
»Dunkel?« lachte ich, »du spinnst wohl, he?«
»Ich spinne nicht. Du siehst doch selber, wie es dunkel wird, ganz dunkel – sonderbar, so schnell ist's niemals Nacht geworden, wie auf einen Schlag, gelt?«
»Hans!« schrei' ich auf und starr' ihm in die plötzlich stumpf gewordnen Augen, »sei so gut, mach' keine Witz'!«
Er hatte keinen Witz gemacht. Ein eiserner Vorhang war herabgegangen. Hans war blind geworden.
Während er geboren werden abwandelte, war er begraben worden.
Ach, wieviele Doktorschaufeln haben damals losgeschaufelt, um ihn wieder auszugraben. Da und dort vermochten sie an einer Ecke einen Vorhangzipfel, eine Handvoll Erde aufzuheben und zu rufen: »Wir gewinnen's!« – aber noch im Rufen ist der Vorhang wieder umgeschlagen, ist die Schaufel Erde wieder dumpf hinabgekollert.
Hans blieb blind. Hans ist blind geblieben.
Er hat es damals ruhig hingenommen. Wenn man zwölf ist, macht man kein Geschrei und Wesen, geht einmal ein Vorhang nieder. Wird ein andrer dafür aufgehn, denkt man sich im Reichtumsüberschwang der Jugend. Sagen tut man's freilich nicht, man plagt sich nicht mit schönen Sätzen, wenn man zwölf ist. Das Gefühl genügt.
Wenn man zwölf ist, trügt auch das Gefühl nicht: Für verblühte Farben wuchs dem Hans das Wunderreich der Töne zu. Er trieb Musik. Die Musik trieb ihn. Er überschritt die Dilettantenschwelle. Man horchte beim Klavierspiel dieses Blinden auf: Der kann was, der holt helle Töne aus den dunklen Tälern.
»Ich bin glücklich,« lag's auf seinem Antlitz.
»Aber hören ist halt doch nicht sehen,« sagten jene, die's nicht lassen können, mit ihrem ungebetnen Mitleid hausieren zu gehen.
Hans stimmte auf dem Instrumente a an. » A,« sang er leise mit, verzückt: »Könnt ihr's sehen: a ist braun – wie herrlich braun!«
Die Mitleidsvollen zuckten mit den Achseln: »Er macht sich etwas vor, er schafft sich Surrogate.«
Er hat uns oft gebeten, ihn auf Touren mitzunehmen. Die Robusten schoben fest und schwer den Arm in seinen. »Leicht,« bat er, »bitte, leicht.« Kaum, daß man ihn spürte. Er aber spürte alles. Wenn's den Gehsteig abwärtsging, wenn aufwärts – Hans spürte es vorher. Wenn ein Stein in Sicht kam, Hans spürte ihn. Auf Sichtweite, dachten wir. Auf Spürweite, dachte er.
»Ach, der Arme,« sagten, die nicht leben können, ohne sich in Mitleid auszugeben.
Wir waren mit Hans auf einem Bergkamm angekommen. Die Sonne ging zur Rüste. Ungeheuer wallten Farbenmeere übern Himmel. Ich vergaß mich. Seine Schulter hatte ich gefaßt: »Schau doch, Hans, o schau!«
Plötzlich ward es mir bewußt, ich biß auf meine Zunge. Er aber sagte ruhig: »Komm, beschreib mir's.«
Ich beschrieb's ihm. Er hörte zu mit einer Andacht, daß es, ohne daß er's wußte, ihm die Hände faltete. Ich sah ihm ins Gesicht: Was sind Blinde doch für wunderbare Zuhörer, wir Sehende sind Stümper gegen sie.
Den ewig Mitleidsvollen verzog es das Gesicht: »Er hat es doch nur aus der zweiten Hand, der Arme.«
Er fuhr in der Straßenbahn allein. Am Donnern wußte er: Jetzt kommt die Unterführung, an der übernächsten Haltestelle steig' ich um.
Da stand er auf der Insel. Eine Tram kommt angeklingelt. Jemand hört er sprechen. Er geht sicher auf ihn zu: »Ist das die Sieben, bitte?«
Er besuchte mich in meiner neuen Junggesellenbude. Lautlos sah ich seine Lippen meine Treppenstufen zählen. Eine Tür ging auf. »So,« sagte er, »das ist dein neues Zimmer, zeig mir, wie du's eingerichtet hast.« Ich nahm die Mitte seiner Rechten. Mit den Fingerspitzen fühlte er sachte die Umrisse eines jeden Möbels ab: »Aha, der Waschtisch. Den würde ich ein wenig mehr nach rechts hinüberrücken. Hier zieht es ja, wenn du dich wäschst. Du, paß mal auf, das Bett steht unsymmetrisch hier im Raume, und das Licht kannst du im Liegen auch nicht knipsen. Darf ich dir's ein wenig anders legen – weißt, ich habe mich geübt zu Hause, wie man Schnüre legt.«
Beim dritten Male kannte er mein Zimmer besser als ich selber. »Hat dir die Hausfrau diese beiden Bilder umgehängt, oder bist es du gewesen?« – »Ich – ich wußte gar nicht, daß sie anders hängen.«
»Gott, welcher grauenhafte Kräfteaufwand für den Armen!« sagten die Mitleidsvollen, denen ich's erzählte.
Als ich umzog und die Umzugsmänner meine Koffer auf den Schultern die Wendeltreppe hinabtrugen, stand er abseits. Er hörte es tappen, schnaufen, schweben und jetzt knistern. »Diese Hammel,« sagte er, »das dort war ein Mauerbrocken, auch die Ecke deines Koffers hat dran glauben müssen, scheint es – komm, den nächsten trage ich dir runter.«
Er tat es ohne anzustoßen.
Einmal steht in meinem Zimmer eine Plastik. Jemand hat sie mir geschenkt: Zwei ausdrucksvolle Männer, welche miteinander reden. »Wie, laß mal sehen,« sagt mein Freund und beginnt die Gruppe langsam abzutasten; plötzlich hält er ein und nickt vergnügt: »Ha, wie der eine lacht!«
Wieder laß ich mich verleiten, es dem Mitleidsvollen zu erzählen. »Schrecklich,« sagt er, »Lachen zu ertasten statt zu sehen!«
Manchmal werde ich gefragt: »Wie kommt es, daß Ihr blinder Freund solch ruhevolle Züge hat?«
»Mir scheint, fast alle Blinde sind so. Sie sehn so vieles nicht, was häßlich ist. Sie werden von dem Bombardement der hunderttausend Dinge, das uns andre auf der Straße und zu Hause anfällt, nicht berührt. Sie sind gezwungen, ihren Blick ins eigne Herz zu lenken. In sich selber ruhend, sind sie schwer nur aus dem Gleichgewicht zu bringen. Blinde haben's schön. Man möchte selber manchmal blind sein.«
»Pfui, wie gottlos!« rief der Mitleidsvolle, mit der Hand am Ohre, weil er nicht gut hörte.
Als wir schwiegen, sah er mißtrauisch im Kreis herum. Taube Ohren werden leicht so. Warum werden taube Augen anders? Ich werde meines blinden Freundes Frau mal fragen.
Ja, er hat jetzt eine Frau.
Ich war auf seiner Hochzeit eingeladen. Ich kann's nicht beschreiben. Was hülf' es auch, ich sagte, die und jene schöne Rede sei gehalten worden. Was sind Reden auf der Blindenhochzeit. Nicht viel mehr denn Augenzwinkern auf der Hochzeit eines Stummen.
Eine Stunde hat der Redekrampf gedauert. Während dieser ganzen Stunde saßen er und sie da, Hand in Hand. Schönres schaute ich auf keiner Hochzeit.
Einmal hab' ich ihn in einer stillen Stunde fragen dürfen: »Hans, wie hast du diese Frau mit dieser Sicherheit gefunden?«
»An den Händen ihrer Stimme.«
Wissen wirklich Blinde nur um einer Stimme Seele?
»Wenn das nur gut wird,« unkte der Mitleidsvolle, »denkt einmal, es gäbe blinde Kinder – schrecklich, schrecklich!«
Jetzt sind Kinder da. Sie sind gesund und froh und haben helle Augen.
Ob der Mitleidsvolle jetzt geschwiegen habe? Ach, kennt ihr die Mitleidsvollen schlecht. »Ich habe jetzt in einem Buch gelesen,« meinte er, »daß die Blindheit in den Kindern schläft und in den Enkeln wieder aufwacht – schrecklich, schrecklich!«
»Und wenn's so wäre!« hat der Blinde plötzlich neben ihm gestanden. Wie ich ihn so ansah, mußte ich erleben, daß auch blinde Augen blitzen können. »Und wenn's so wäre!« blitzten sie, »sollen frohe Kinder ungeboren bleiben, weil die Enkel anders werden könnten!«
»Anders, sagt er, anders!« hat er sich bekreuzt.
»Was sagst du denn?« hat mein Freund gelächelt.
»Un–glück–e–lich!« sagt er ölig-feierlich.
»Hm, wie man's nimmt,« hat mein Freund den alten Blindenhumor wiedergefunden, »etwas hab' ich doch voraus vor dir, Verehrter: ich muß dich nicht sehen.«
»Wenn das alles sein soll –«
»Nein, nicht alles. Hast du nicht gesagt, du schliefest manchmal gar nicht gut?«
»Du doch auch zuweilen?«
»Allerdings, dann lese ich.«
»Ich doch auch.«
»Ja, aber wenn es kalt wie jetzt ist, frierst du an den Armen über deiner Decke.«
»Du doch auch?«
»Eben nicht: In meinen Blindenbüchern kann ich unterhalb der Decke mit den Fingerspitzen lesen – ätschebätsch!«
Freundlich lächelnd rieb er, wie es Kinder tun, die beiden Zeigefinger aneinander.
In diesem Augenblicke war's uns allen – auch dem Mitleidsvollen: Wir sind blind und jener wäre sehend. Und das Geheimnis seiner Lebensfreude wurde sichtbar: Ihm versank die Welt, da sie am schönsten aussah – mit zwölf Jahren; in sein großes Dunkel hat er diesen größren Eindruck mitgenommen.