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Sonne, stehe still ...

Der große evangelische Kongreß tagte in der Hauptstadt. Die Kirchenfürsten wohnten im ersten Hotel. Vor den Beratungen saßen sie beim Frühstück. Eine angeregte Unterhaltung kam in Fluß.

Einer von den Kirchenräten belegte seine Ansicht mittels einer Bibelstelle: »Sonne, stehe still zu Gibeon –«

»Ajalon,« verbesserte sein Gegner.

»Im Tale Ajalon,« mischte sich ein dritter ein, »wo der Herr die Amalekiter aufs Haupt geschlagen hatte.«

Der Streit war da. Das Kirchenschisma zerriß den Silbersaal des Adlon.

»Ajalon heißt es, Ajalon!«

»Verzeihung: Adlon, Herr Oberkirchenrat, Adlon!« verbeugte sich verbindlich der Hoteldirektor, »halten zu Gnaden, Sie verwechseln das.«

Man lächelte: »Ihr Name, Herr Direktor?«

»Goldschmidt.«

»Hm, damit sollten Sie im Alten Testament schon besseren Bescheid –«

»Gibeon? Ajalon?« wiegte einer die harten, eckigen Predigerschläfen, »heißt es nicht ›im Tale Josaphat‹?«

»Meine Herren,« sagte der älteste der Kirchenräte, »warum streiten, wenn ein Bibelgriff die Klärung bringen könnte – Herr Ober, eine Bibel, bitte.«

Einen Augenblick stand der sonst so weltgewandte Kellner erstarrt. Dann erblickte er den Empfangsdirektor: »Eine Bibel, Herr Direktor, bitte.«

Einen Augenblick stand der Empfangsdirektor – er verstand sonst mit Königen und Präsidenten wie mit seinesgleichen umzugehen – stand er wie erstarrt. Dann stürzte er zum Portier hinaus: »Eine Bibel, bitte,« herrschte er ihn an.

Ein Portier des Hotels Adlon hat alles zu wissen. Er wußte das. Er war mit der Bedingung angestellt. Er verlor die Fassung nicht. Er musterte das Brett, an dem die Zimmerschlüssel hingen. Er durchflog mit Feldherrnblick die Fächer mit den Briefen für die Gäste. Er riß dickleibige Adreßbücher herum.

»Sie haben mich verstanden!« fuhr ihn der Direktor schneidend an, »es wäre das erstemal, daß einem Gast des Adlon nicht in spätestens einer Viertelstunde das Verlangte zur Stelle beschafft worden wäre – dafür sind Sie engagiert – wir haben acht Uhr zwanzig – acht Uhr fünfunddreißig bitte ich, mir zu berichten – ich habe im Büro zu tun.«

Da stand er nun, der Mann für alles: Spätestens einer Viertelstunde? ... eine Bibel? ... ausgerechnet eine Bibel ... im Berliner Zentrum eine Bibel! ... Buchhandlungen in der Nähe? ... Im Westen nichts Neues, jawohl, hundert Stück in fünf Minuten zu beschaffen ... der letzte französische Romanschlager, jawohl, zehn Stück in zehn Minuten ... sogar des ollen Schillers älteste Gedichte getraute er sich in einem Stück in fünfzehn Minuten zu beschaffen ... aber eine Bibel ... noch dazu am Sonntag morgen, wo die Buchhandlungen geschlossen hatten ... Und wenn man die ganze Straße entlang liefe, in alle Häuser, in alle Stockwerke, an allen Wohnungen des ganzen Viertels klingeln würde: Entschuldigung, haben Sie nicht zufällig eine Bibel im Hause – jawohl, eine Bibel – nein, nicht verrückt – es handelt sich um unsern Ruf – jawohl, europäischen Ruf – wie sagen Sie? Pfarrer? – schon nachgeschlagen, der nächste ist einen Kilometer entfernt – wie, telephonieren? – hab' ich, hab' ich, ist am Sonntag in der Kirche – ich kann doch nicht in eine volle Kirche rennen, eine Kanzel stürmen, ihm die Bibel aus den Händen reißen – und wenn ich's täte, das erfordert eine halbe Stunde, die Verhaftung gar nicht eingerechnet, die ich dabei noch riskiere – grauenhaft, noch immer keine Bibel da – das überleb ich nicht – wenigstens nicht als Portier des Adlon – man wird mich entlassen – entlassen einer Bibel wegen, einer nicht herbeigeschafften Bibel ...

Diese Dinge schossen durch sein Hirn. Er wußte keinen Rat. Die meisten Leute, wenn sie keinen Rat wissen, wüten. Wüten gegen Untergebne. Untergeben war ihm das Dienstpersonal. Er durfte es zusammenschimpfen. Er durfte es herumhetzen. Er durfte es, die untern Angestellten, auch entlassen. Jawohl, entlassen, wie er selbst entlassen werden konnte vom Direktor, wenn er keine Bibel schaffte. Ent–las–sen! was das bedeutet, hatte er erst gestern abend sehen können, als ihm die Kathrine, das kleine Aufwaschmädel übern Weg lief, die vergessen hatte, ihn zu grüßen, die er angeschrien hatte, daß sie nicht zu wissen scheine, wer hier Herr im Hause wäre, und die in ihrer Erstarrung auch dann noch keinen Knix vor ihm machte, die er dann in einem Wutanfall an der magren Schulter packte: »Sie können morgen vormittag den Koffer packen – haben Sie ver–stan–den!« Die ihn nicht verstand, die ihm nachsah, geisterblaß und zitternd. Die vielleicht für eine alte Mutter sorgen mußte –

Ach was, Mutter! Eine Bibel her! Her mit einer Bibel!

Sinnlos vor Erregung war er in die Telephonkabine gestürzt, hatte auf alle Knöpfe gedrückt, war im Nu verbunden mit allen Angestellten, hatte ihnen in die Ohren gebrüllt: »Eine Bibel, bitte! ... unterlassen Sie es bitte, auf den Rücken zu fallen ... ich weiß selbst, daß es nicht leicht ist, eine Bibel zu beschaffen ... suchen Sie ... kehren Sie alles unterste zu oberst, eine Bibel muß her ... sofort ... unverzüglich ... nein, Einwände interessieren mich nicht ... Schluß!«

In den Gängen, im Keller, unterm Dache rannten die kleinen Angestellten durcheinander. Einer flitzte an einer Dachkammer vorüber, warf einen Blick hinein, sah einen armseligen Dienstmädchenkoffer, der gepackt wurde, sah davor ein verweintes Aufwaschmädel knien, sah sie ein dickes Buch in Händen halten, ein vergilbtes, entriß es ihr, schoß mit dem Lift hinunter, übergab es triumphierend mit den schlichten Worten: »Hier, die gewünschte Bibel, bitte.«

»Acht Uhr fünfunddreißig,« sagte der Hoteldirektor, in der Hand die Uhr, »Herr Portier, Sie haben –«

»– die gewünschte Bibel, bitte.«

»Ist gut.« Der Direktor trug sie feierlich in den Silbersaal, wo die Kirchenfürsten immer noch im Streiten waren, wie es hieße: Sonne, stehe still in Gibeon und Mond im Tale Ajalon – oder: Sonne, stehe still in Ajalon – oder: Sonne, stehe still im Tale Josaphat – oder – oder – oder ...

Mit diskretem Nachdruck wurde das vergilbte Buch zwischen die Gottesstreiter gelegt: »Hier, meine Herren, unsre Bibel.«

Indessen hatte der Portier draußen den Bringer angeherrscht: »Woher? Ihr Eigentum?«

»N–nein.«

»Von wem? Schaffen Sie mir den Besitzer her – sofort – ich warte – hören Sie, ich warte!«

Und dann stand das kleine Aufwaschmädchen vor dem Gewaltigen. Sie zitterte nicht mehr. Mehr als entlassen konnte sie nicht werden. Sie sah ihn nur müde aus verweinten Augen an: »Der Herr Portier wünschten von mir –?«

»– einen Kuß!« umarmte sie der Mächtige, »Sie haben mir geholfen, die Ehre des Adlon zu retten – Sie sind – Sie sind mit – mit Ihrem alten Lohn entlassen und mit fünfzig Prozent Zuschlag wieder angestellt –«

»Sonne, stehe still ...« dachte verwundert das kleine Mädchen, »Sonne, stehe still ...«

»– in Gibeon!« erscholl es triumphierend aus dem offnen Silbersaale, »und Mond im Tale Ajalon – Nun, Herr Amtsbruder, wer hat recht gehabt, wem hat der Herr geholfen?!«

»Mir,« sagte leise das kleine Abwaschmädel und schaute furchtlos an dem Amalekiter hinauf, den sie besiegt hatte.

Bild: Fritz Eggers


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