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Mir kann keener ...

Eine Oberammergauer Erinnerung

Man weiß bei diesem Stück der Ewigkeit nicht recht, welche Plätze in der Riesenhalle besser sind, die vorne oder jene hinten. Würde mir die Gnade, die Passion von neunzehnhundertdreißig anzusehn, ich säße ganz weit hinten, man sieht so besser über neunzehnhundertdreißig Jahre weg aus dem maschinendurchtosten Europa in die stille Jesuszeit der Berge Palästinas.

Diesmal saß ich vorne, wohl auf einem Vorzugsplatz; denn neben mir erblickte ich den gefürchteten Kritiker eines Weltblattes. Es hieß von ihm, daß er am liebsten das verrisse, was andere am höchsten stellten.

Die Passion begann. Die gekrönten Chöre zogen auf. Getragene Rhythmen rauschten fremd daher. Sie bettelten bei Herz und Ohren nicht um Einlaß. Sie hatten Zeit. Sie wußten, ihre Stunde kam.

Der kleinwüchsige Kritiker neben mir tat blasiert. Er war mit einem festen Urteil hergekommen: Humbug. Seine überscharfen Züge sagten: Mir kann keener ... Er gähnte. Er nahm eine Nagelfeile aus der Tasche. Darnach kam der Nagelglätter. Er massierte seine Ohren. Jetzt arbeitete die Nagelschere.

Ich hielt es nicht mehr aus. Mit scharfem Rucke wollte ich ihn an der Schulter packen, seinen Kopf zurückdrehen zu dreitausend andachtsvollen Köpfen: »Sehn Sie nicht, mein Herr, wir sind in einer Kirche.«

In diesem Augenblicke schlug dort oben auf der Bühne Jerusalem den Herrgottsmantel auseinander: Ein zog Christus, auf dem Esel reitend. Palmen und Gesänge wölbten um ihn einen Dom, gewaltiger als in Rom St. Peter.

Da vergaß ich meinen Nachbarn. Da verrannen Stunden wie Minuten. Der Vogel Zeitlos rauschte durch die Halle. Auf seinen Riesenschwingen trug er uns ins bessere Land, aus dem man wiederkehrt mit großen Kinderaugen: Wo war ich und was ist geschehen?

Ich schaute auf die Uhr: Vier volle Stunden waren durch das Land gegangen. Mein Nachbar schoß mir durch den Sinn. Um Gottes willen, nur nicht hinsehn, jetzt nicht aus den Himmeln stürzen!

Aber wie das immer ist, die Augen drehn sich zwangshaft dem zu, was man fürchtet, von unten langsam in die Höhe kletternd: Auf dem Boden lagen eine Nagelfeile, ein Nagelglätter, eine Nagelschere, lag die abgestreifte Weltblasiertheit. Und darüber sah ich – sah ich in ein von Tränen einer längst versunknen Kindheit überströmtes Antlitz.

In jener Stunde hab ich mir geschworen: Rede keinen Nachbar hart an. Laß ihm Zeit. Seine Stunde kommt.


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