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Falsch verbunden

In dem Saal der zwanzigtausend matten Lämpchen, die erglühten und verloschen, öffnete sich mit knappem Kreischen eine Vorgesetztentüre: »Fräulein Agnes Hohmann, bitte.«

Eine von den Graubeblusten flitzte in das Vorgesetztenzimmer: »Wollen Sie sich setzen, Fräulein Hohmann?«

Sie stutzte leicht. Während sieben Jahren hatte nie ein Vorgesetzter eingeladen sich zu setzen.

»Wir hätten gern gewußt, ob Sie von nächstem Ostern ab ein weitres Jahr im Postdienst –«

»Ich dachte, daß die Kündigung erst zu Neujahr erfolgen müsse?«

»Stimmt. Indessen, da so viele andre warten und sich die Verhältnisse bei Ihnen, wie ich höre, durch die Erbschaft wesentlich, wie soll ich sagen, na: verschoben haben dürften –«

»Muß man deshalb den Beruf gleich über Bord – ?«

»Man muß nicht, Fräulein Hohmann, wenn man seine Arbeit liebgewonnen – hätte.«

»Hätte? Und Sie meinen also, daß der Telephondienst für uns Frauen –?«

Der Vorgesetzte gab sich einen Ruck: »Seien wir doch offen, Fräulein Hohmann: Ist's ein Lebensinhalt für ein junges Mädchen, siebentausendmal am Tage, wenn ein Lämpchen aufflammt, ›Hier Amt‹ zu sagen?«

»Das – das ist nicht alles, Herr Inspektor. Wir sind doch auch nützlich, wir verbinden siebentausendmal am Tage viele Menschen, die –«

»Die, wenn Sie einmal unter diesen siebentausendmalen irrten oder sie nach ihrer Meinung ungebührlich warten ließen, Ihnen alle Schande durch den Draht an Ihren – wie man Ihnen jetzt ja sagen darf – sehr hübschen Lockenkopf geworfen haben – ist's nicht so?«

Sie lächelte: »Es ist auch so, daß uns die Vorgesetzten drauf verpflichtet haben, immer ruhig, immer freundlich, immer dienstbereit zu bleiben und sogar Beleidigungen, ja Demütigungen und Schmähungen, statt mit einem rechtschaffenen Donnerwetter, mit der stereotypen Formel einer dienstbereiten Antwort zu quittieren.«

»Hm, Sie können sich's jetzt leisten, Vorgesetzte gar ironisch zu behandeln.«

»Nicht ironisch, Herr Inspektor, aber ehrlich – und die vorerst ungewisse Kündigung für Ostern darf ich bis Neujahr verschieben.«

»Sie dürfen, Fräulein Hohmann. Sie dürfen außerdem um sieben statt um neun Uhr heute Dienstschluß machen.«

»Wie, wo am Weihnachtsabend auf das Telephonamt erfahrungsgemäß ein Verkehrsansturm zu prasseln pflegt?«

»Nun, am Weihnachtsabend pflegen auch erfahrungsgemäß Verlobungen auf Mädchen, die soeben erbten, anzuprasseln.«

»Auf so verursachte Verlobungen lege ich keinen Wert.«

»Bravo, Fräulein Hohmann.«

»Und die letzten beiden Stunden der Kollegin aufzuhalsen –«

»Hm.«

»– würde ich mich nicht entschließen können, nichts für ungut, Herr Inspektor.«

»Ungut? Alle Achtung, Fräulein Hohmann. Sie sind tapfer. Ich wollte, alle Graubeblusten draußen wären so wie Sie.«

»Sie sind es, Herr Inspektor, wenn sie – wenn sie auch, wie ich jetzt, eine Erbschaft hinterm Rücken hätten.«

Sie ging in den Saal der zwanzigtausend Lämpchen zurück, die erglühten und verloschen. Sie nahm ihren Platz ein. Nicht ohne der Kollegin zuzunicken. Das Nicken hieß: Verzeihe, daß du meine Arbeit mitzumachen hattest. Die Kollegin nickte wieder. Das Nicken hieß: Nicht der Rede wert, der Ansturm steht uns noch bevor.

Eine Viertelstunde später kam er.

Was bis jetzt war, war Geplänkel. Da flammt ein Lämpchen auf – liebenswürdig wird sein Angriff abgeschlagen, die Verbindung hergestellt. Am gleichen Arbeitstische flammt ein zweites auf, ein drittes – zwei, drei Flüsterworte, sie erlöschen. Ein viertes, fünftes, sechstes – spielend überwindet sie der Lockenkopf auf einer grauen Bluse. Nebenher berichtet er auf kleinen Blättchen, wie die Truppenführer damals: Gebührenanrechnung. Auch die Schlußzeichen werden nebenbei erledigt. Die Graubeblusten wissen es seit Jahren: Mit dem Amte hatten sie zu wachsen.

Und sie wuchsen. Agnes Hohmann dachte nach: Immer rascher hatte sie gelernt zu wachsen. Wenn sie an die ersten Tage dachte, da sie eintrat: wie zerfahren und wie ängstlich waren ihre Hände da geflogen. Nicht lange und es wurde ihr bewußt: Dein Schaltbrett ist ein Stück des Stadthirns, dir ist's zuzuschreiben, ob darin das Blut kreist oder nicht. Nichtige Gespräche? Aber was ist nichtig? Können Nichtigkeiten nicht im Handumdrehen Schicksal werden? Siehe da, mit einem Male wurde ihr dies Binden und dies Lösen, das ihr nichtig vorgekommen war, Geschick des eignen Lebens, und sie liebte ihre Arbeit. Damit war's gewonnen. Denn wer liebt, der leistet. Sie wurde, wie's der Vorgesetzte, wenn ein Amtsbesuch zu führen war, benannte: Unsre tüchtigste Beamtin.

Sie erhielt den »schwersten« Tisch. Das war nicht jener mit den meisten, sondern den unruhigsten, den empfindlichsten Lämpchen, den Lämpchen, deren Leuchten aus den Banken und Behörden oft Gespräche überglühte, die ins Leben Tausender entscheidend übergriffen.

Was nicht alles hatte sie mitangehört an Törichtem und Schwerem, und – das nächste Lämpchen leuchtet – in der Brust begraben. Wie hatte sie, wenn andre Tische mit der Arbeit ins Gedränge kamen, gerne ausgeholfen. Spielend, wie zum Beispiel jetzt.

Sie schaute nach der Saaluhr: War's nicht jetzt die Zeit, da in der Stadt das Christkind klingelt?

Klingelt? Sie mußte an die Zeiten denken, da im Telephonamt auch ein jeder Anruf noch begleitet war von einem Klingeln. Jetzt gab's kein Klingeln mehr, jetzt gab es nur ein Glühen oder Leuchten.

War's nicht jetzt die Zeit, da in der Stadt die Weihnachtsbäume aufzuflammen pflegten? Wie auf Kommando glühten überall im Saale viele Lämpchen auf, die tagelang im Dunkeln lagen: Die Familien in der Stadt begannen, sich die frohe Weihnacht anzuwünschen.

Im Saale hub ein fieberhaftes Dienen an, ein unbeirrtes, graubeblustes Dienen. Neue Lämpchenreihen glühten auf und wieder neue. Ein Gefunkel war, ein dichtes milchiges Gefunkel – war die Milchstraße vom Himmel in den Saal gefallen? Und so langsam hinkten die Schlußzeichen hinterher. Weihnachtsgespräche pflegen lang zu sein. Immer häufiger hatten die grauen Milchstraßenengel den ungeduldig aufblitzenden neuen Sternchen ihr geduldiges »Besetzt ... besetzt« zu sagen, immer häufiger, bescheiden bittend, ein Gespräch zu unterbrechen: »Sie werden von auswärts verlangt.«

Jetzt war's kein Dienen mehr, jetzt war's ein Toben, war's ein Tosen, war's ein Wüten: Zur Stunde da im stillen Bethlehem das Knäblein auf die Welt kam, wälzte sich durch diesen Saal die Weihnachtsschlacht.

Aus dem Vorgesetztenzimmer trat der General. Er übersah das Schlachtfeld. Jetzt war der Höhepunkt. Der Saal erzitterte von Verbindungen, von Lösungen, von Gesprächen, von aufgezogenen Schleusen der Dienstbereitschaft, von der Flut des Dienens. Er nickte befriedigt: Die Weihnachtsschlacht war siegreich; nicht eine Schlappe würde zu verzeichnen sein. Halt, was war mit seiner Besten? Sie bezwang sich mühsam, biß sich auf die Lippen, schien zu kämpfen, ob sie sich den Hörerbogen aus dem Lockenhaare reißen sollte, ihre Stirne wurde weiß und rot –

»Fräulein Hohmann,« neigte er sich im Vorbeigehn leicht auf ihren Arbeitstisch, »Sie wissen, daß das Amt Sie deckt, wenn irgend einer dieser Rüpel eine Flegelei –«

Sie lächelte schon wieder: »Nicht der Rede wert.«

»Was schreiben Sie da auf?«

»Nur Statistik – hier Amt, Sie wünschen?« tauchte sie in ihre Arbeit. Auf der Stirne standen Perlen: Überwindung.

Neun Uhr. Der Kampf war abgeflaut. Nur vereinzelt glühten Lämpchen und erloschen. Bis Silvester würde man es etwas leichter haben. Dann kam der Neujahrssturm. Alle würden allen mitzuteilen haben, es sei zwölf Uhr und man wünsche sich –

Was nicht alles, dachte sie auf ihrem Heimweg durch die winterstillen Gassen, diese Menschen sich zu wünschen haben. Schien es nicht, die Menschen mußten sich was wünschen, wollten sie am Leben bleiben?

Wünschte sie sich etwas?

Nein, sie hatte alles, was sie brauchte: Statt der frühverstorbenen Eltern eine gute Tante, deren Heim sie teilte. Die es ihr behaglich machte. Sie besaß Gesundheit, hatte ihre stete Arbeit, jetzt sogar die schöne Erbschaft – was war weiter noch zu wünschen?

Liebe? War das Liebe, was die beiden Männer meinten, die sich neuerdings um sie bewarben? Ja, wenn sie ganz gewiß gewesen wäre, daß Herr Günther nichts von ihrer Erbschaft wußte, als er erstmals bei der Tante vorsprach, als sie dienstfrei hatte. Zufall?

Sie mußte daran denken, was ihr vorhin die Empörung ins Gesicht getrieben hatte. Man war doch einsam, man war schutzlos, und ein eignes Heim mit diesem schönen Manne, der sich um sie mühte, wäre wohl ein Ziel gewesen ... nein, der andre war zu ungelenk und schüchtern; wenn schon, dann nur einen, den man wirklich lieben können würde ...

»Agnes,« nahm die Tante sie im Vorflur auf die Seite, »sie sind beide drinnen – ja, Herr Günther und Herr Schröder – beide hatten sich am Telephon besprochen, beide wollten sich's nicht nehmen lassen, dich zum Weihnachtsabend, wenn du heimkommst – na, du weißt schon – komm, sei fröhlich, Herzchen, und dann – nun, du weißt auch das, mein tapfres Mädchen: einmal muß ein jeder wählen – so, nun mach dich noch ein wenig nett auf deinem Zimmer, und dann laß geschehen, was die Stimme dir dann eingibt.«

»Welche Stimme, Tante?«

»Es gibt viele Stimmen – nun, du wirst das wohl vom Amt her wissen – sie rinnen an uns abwärts wie das Wasser an der Ente – aber eine Stimme gibt's, die spricht aus einem selber, wenn es Zeit ist –«

»Glaubst du, es sei Zeit?« sagte sie ernst.

Dann saßen sie zusammen unterm Lichterbaume. Die Herren überboten sich in Freundlichkeiten. Sie hatten ihr Geschenke mitgebracht. Es wurde langsam recht gemütlich. Zwischen den Gesprächen überkam sie es mit einem leisen Schauer, wenn sie Günther von der Seite ansah: Sprach für ihn die Stimme aus dem Innern?

In sich selber horchte sie hinunter, daß sie nicht bemerkte, wie die Tante sich zurückzog und die beiden Männer das Gespräch allein fortsetzten.

»Sie sind sachverständig, Fräulein Hohmann,« lachte jetzt Herr Günther, »welche von den beiden Nummern läßt sich mnemotechnisch leichter merken?«

»Welche Nummern?«

»Wir sprechen doch die ganze Zeit davon. Ich habe Nummer siebzehntausendachtundsechzig –«

»Siebzehntausendachtundsechzig,« wiederholte sie wie traumhaft, während ihre Rechte nach dem Täschchen langte.

»Und Herrn Schröders Telephon hat Nummer dreizehntausendfünfundzwanzig.«

»Dreizehntausendfünfundzwanzig,« sagte sie mechanisch, während sich in ihren Fingern ein Papierstück aufschlug.

»Und nun sollen Sie uns sagen, liebes Fräulein Hohmann, welcher Nummer Sie – zunächst gedächtnismäßig – Ihre Stimme gäben.«

»Stimme?« wiederholte sie, »ja, jetzt erkenne ich die Stimmen wieder.«

»Welche Stimmen?« lachte Günther.

»Die eine, welche sagte: ›Dumme Gans, beeilen Sie sich, bitte!‹«

»Aber, liebes Fräulein Hohmann –«

»Und die andre, welche sagte: ›Nicht so schroff, Freund Günther, zu dem armen Fräulein‹ und die Nummern hier sind Ihre Nummern, nicht wahr?«

Betreten sahn die beiden Männer auf den Zettel. Mühsam lustig meinte Günther: »Sie also waren – waren –«

»– eine dumme Gans, die sich beeilen sollte,« sagte Fräulein Agnes langsam.

»Ich bin außer mir, verehrtes Fräulein, hätte ich gewußt –«

»Ich weiß jetzt, wessen ich mich zu versehen hätte.«

»Ich versteh' nicht, was Sie meinen –«

»Ich meine, eine Ehe ähnle einer Telephonzentrale. Zwanzigtausend Stimmen kreuzen sich in ihr. Sie sind nicht alle wichtig. Immerhin, man hört auf sie, verbindet sie und löst sie, dient und tut sein bestes, bis man eine Stimme hört, auf die es ankommt, und wenn diese einen anbrüllt: ›Dumme Gans, beeilen Sie sich bitte!‹ – meinen Sie nicht auch, Herr Günther, daß man dann am besten sage, noch beizeiten sage: ›Falsch verbunden‹?«

»Mit mir auch?« klang's zaghaft.

»Von der einen Stimme sprach ich, auf die es ankommt – seien Sie nicht bös, Herr Schröder.«

Sie hatte sich abgewendet. Ihre Finger knüllten das Papier zusammen. Als sie wieder umsah, waren beide Herren lautlos fortgegangen.

Nach einer langen Weile hörte sie die Türe gehen. Ihre Tante stand im Rahmen, nachtgewandet: »Nun, mein Täubchen, hast du dich entschieden – ah, du schreibst ihm –«

»Ja, Tante, daß ich ihm gehören wolle.«

»Siehst du, hab ich's nicht gesagt, mein Kindchen –«

»– von Ostern ab zunächst mal auf die üblichen zwei Jahre.«

»›Üblichen zwei Jahre!‹ nein, diese jungen Mädchen heutzutage – aber Kind, du schriebst ja ›Postamt‹ auf den Umschlag aus Versehen!«

»Es ist kein Versehen, Tante: Mein Geliebter heißt so, bis ich – bis ich einen beßren finde.«


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