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Der Index

In jenem Nachkriegsdeutschland, wo der Hunger umging, gingen auch die Quäker um. Hunderttausende von ausgedörrten Kindern haben sie gerettet. Vor zehn Jahren war das. Weiß das einer noch?

I wo, wir haben anderes zu tun. Wir haben neue Steuern auszudenken, haben in Ägypten alte Vasen auszugraben, haben den Geburtstag der Roswitha mitzufeiern, die in Gandersheim sechs Dramen auf lateinisch drechselte. Vor tausend Jahren. Was sind dagegen deutsche Hungerkinder vor zehn Jahren und das Quäkerwerk der Güte?

Das zerschlagene Deutschland hat es damals gar nicht fassen können, daß man seine Kinder unentgeltlich speisen wollte. Was dahintersteckte, frug man, ob's nicht wieder abgesehen sei auf einen neuen Fetzen Deutschland, welchen man auf einem Umweg uns entreißen wolle?

Schließlich aber, als man es begriffen hatte, als die Schiffe mit Kondensmilch, Haferflocken, Weißbrot ihren Segen über Hamburg in die deutschen Schulen gossen, wo in abgewetzten Bänken heiße Kinderaugen fiebrig glänzten, wo auf magren Beinchen ausgelaugte Körperchen sich hoben und die dünnen Ärmchen sich verlangend nach der Fülle streckten – ja, was glaubt ihr wohl, was da geschah?

Da erscholl ein donnernd Halt! von den Ministerstühlen, da besann man sich in allem Elend, daß man Haltung zu bewahren habe, daß man gründlich wissenschaftlich vorzugehen hätte, daß man – um's mit einem Wort zu sagen – deutsch war.

Eine Denkschrift wurde abgefaßt, nach welcher Ordnung all der Segen zu verteilen wäre nach Gerechtigkeit und Überlegung ... derweilen ward das Weißbrot hart.

Ein Konsilium wurde abgehalten, ob der Rohrsche oder Kauppsche Index anzuwenden wäre, um die Maximalbedürftigkeit der Kinder festzustellen ... die Haferflocken sind derweilen grau geworden.

Und die Kondensmilch hatte glücklich einen Stich ins Saure abbekommen, als nach hartem Kampf der Fakultäten sich die Mehrheit unterm Banner und Triumphgeschrei des Kauppschen Index siegreich scharte.

Was hartes Brot und saure Milch und graue Flocken, wenn es um den Index geht – man konnte ja in einer Zwischendenkschrift mitbeweisen, daß die saure Milch gesünder sei als süße!

Was ein Index sei? Wenn man eines Menschen frohe Stunden dividiert durch seine dunkle Zeit, so gibt das einen Index. Wenn man eines Menschen Tage, da er Geld hat, durch die bargeldlosen Tage teilt, so gibt das wieder einen Index.

Wenn man eines Kindes Länge mit der Anzahl seiner Jahre multipliziert, darnach dividiert durch das Gewicht des Kindes und die Quadratwurzel seines Leibesumfangs abzieht, so ergibt das einen dritten Index.

Ich weiß nicht mehr, ist es der Rohrsche oder Kauppsche. Jedenfalls ist er der einfachere. Bei dem andern Index spielt noch die dritte Wurzel aus den roten Blutkörperchen in je einem Kubikzentimeter eine schwere Rolle.

Der bei jedem Kinde festgestellte Index wird verglichen mit dem Normalindex. Sagen wir, der wäre sieben Komma dreiundzwanzig.

»Rohrbach Anna – aufstehn – sieben Komma vierundzwanzig – du hast keinen Anteil an der Quäkerspeisung – Röhrl Anton – aufstehn – sieben Komma neunzehn – hol dir jeden Dienstag um halb vier Uhr deine Haferflocken – Kraglfinger Robert –«

»Fräulein Lehrer, klopft hat's.«

»Herein – ah, Herr Offiziant – Sie wünschen?«

»Telephoniert hat's – vom Gesundheitsamt – a neier Index – in die alten Indexer is a Fehler – der Rohrsche Index is falsch multipliziert und der Kauppsche is verkehrt dividiert – der Schädelumfang von jedem Kind muß auch noch hineinvertrallimanschiert werdn – da ham S' den neien Index – ausrechnen solln Sie's selber ...«

Die Lehrerin rechnete, die Lehrerin maß die Schädelumfänge, die Lehrerin rechnete von neuem, die Lehrerin seufzte.

Es läutete. Pause. Im Schulhof gab's erregte Reden der Lehrerschaft: Vor lauter Indexrechnen käme man zu keinem Unterricht ... Ja, und nach dem alten Index hätten vollgestopfte Bäckerkinder die Kondensmilch gekriegt ... Mag sein, noch schlimmer aber sei es, daß nach dem neuen Index ausgemergelte Kinder nichts erhalten würden ... Man komme aus den Zweifeln nicht heraus –

Es läutete. Die Pause war zu Ende. Der Schulhof leerte sich. Fräulein Krauß ging bekümmert als die letzte übern Hausgang. Sie schüttelte den Kopf.

»Gelln S', Freiln Krauß, kennen S' Ihnen nimmer aus?« stand die Putzfrau vor ihr.

»Allerdings, Frau Schratt, Sie würden auch verzweifeln, wenn –«

»I net, i kenn mi aus.«

»Wie, Sie?«

»Freili, hab ja selber Kinder.«

»Ach, wenn das genügte, liebe Schratt –«

»Was brauchet's denn no – nix braucht's – da san d' Haferflocken, da san d' Kinder – eins, zwei, drei –«

»Und der Index?« jammerte die Lehrerin und klopfte auf ein Bündel vollgerechneter Blätter, »was soll man mit dem Index machen?«

»I wißt's scho, wenn i 's Ihnen sagn derf?«

»Sagen Sie's.«

»Und wenn i 's machen derf wie i mag.«

»Sie dürfen.«

Die Putzfrau schaute links und schaute rechts, schaute abwärts nach der Ofentür, durch die vom Gang des Klassenzimmers geheizt wurde, stieß mit dem rechten Fuß das Türchen auf, griff nach dem Blätterbündel und – schon flammte es im Ofen.

»Frau Schratt, um Gottes willen, was soll ich jetzt tun?«

»Pfeifen S' auf die Dexer, schaun S' Ihnen d' Kinder an mit Ihre gsunden Augn!«

Drei Wochen später kam die Kommission ins Klassenzimmer. Der mit dem höchsten Zylinder räusperte sich: »Es haben sich bedauerlicherweise eine Menge Fehlüberweisungen der Quäkerspenden herausgestellt. In einer einzigen Klasse hat die Prüfung ergeben, daß alles klappte. Fräulein Krauß, ich habe Ihnen namens der Kommission die Anerkennung auszusprechen für die offenbar unübertreffliche Gewissenhaftigkeit, mit der Sie die Indexe berechnet und verglichen haben und bitte Sie, mir Ihre rechnerischen Unterlagen zu den Akten zu überreichen.«

Fräulein Krauß senkte den Kopf.

»Darf ich bitten, Fräulein Krauß?«

Fräulein Krauß senkte den Kopf noch tiefer. Sie stieß mit dem Fuß an den unteren Ofen, der vor drei Wochen zum letzten Male geheizt worden war. Ein wenig Asche fiel durch eine Spalte.

»Ich muß Sie nochmals bitten, mir zu geben, was ich sagte.«

Da gab es Fräulein Krauß einen Ruck. Sie bückte sich. Sie erhob sich lächelnd. Sie streute etwas Asche in die ausgestreckte Hand des Schulrats.

Die Herren von der Kommission schauten rund und düster. »Verrückt?« murmelte einer.

»Nein,« sagte die Lehrerin heiter.

»Symbolik?« lenkte ein anderer ein.

»Erklären Sie uns,« dräute der Schulrat, »was der Schnickschnack da bedeuten soll, Fräulein Krauß!«

»Daß man's machen soll, wie unsre Putzfrau: schauen anstatt rechnen.«


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