Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nachweis

Mein Vetter kriegt vom Staat eine kleine Rente. Er hat sie, weil er sich im letzten Jahre auswärts aufhielt, nicht erhoben. Jetzt ist er wieder da und hat sich zum Quartalsschluß vor dem Schalter eingefunden.

»Schön,« sagt der Beamte, »es fehlt nur noch der Lebensnachweis.«

»Der was?«

»Der Nachweis, daß Sie noch am Leben sind.«

»Ich stehe doch vor Ihnen.«

»Wer sagt mir, daß Sie der sind, welcher?«

»Vielleicht kennen Sie mich von früher?«

»Früher! Das letzte Geld erhoben Sie im Jahre 1928 – heute schreibt man 1930 – in zwei Jahren kann mit einem Menschen vieles vorgehn – lassen Sie sich von der Polizei bescheinigen, daß Sie derzeit noch am Leben sind.«

Mein Vetter ging zur Polizei. Mein Vetter ging zum Rentenschalter. Mein Vetter kriegte seine 1930-Rente.

»Und die Renten 1929?« fragte er bescheiden.

»Können ebenfalls erhoben werden.«

»Bitte.«

»Erst den Lebensnachweis.«

»Den – den was?«

»Den Nachweis, daß Sie noch am Leben –«

»Den haben Sie doch schon an meine Quittung angeheftet.«

»Das ist der Nachweis 1930. Zu der Quittung 1929, die in einen andren Akt 12 kommt, brauche ich den Nachweis, daß Sie 1929 noch am Leben waren.«

»Aber die Logik –«

»Es handelt sich hier nicht um Logik, sondern um Befolgung amtlicher Vorschriften – gehen Sie zur Polizei.«

Mein Vetter ging zur Polizei. Mein Vetter kriegte von der Polizei den Lebensnachweis 1929. Mein Vetter wies den Lebensnachweis 1929 vor am Rentenschalter 1930.

»Betrifft 1929,« sagte der Beamte.

»Weiß ich.«

»Sie müssen sich zu jenem Herrn verfügen, der Sie, wenn Sie 1929 vorgesprochen hätten, ausgezahlt haben würde.«

»Schön, und dieser Herr befindet sich?«

»Am übernächsten Schalter links.«

Mein Vetter ging zum übernächsten Schalter links. Dort erhielt er, was er wünschte.

Bitte, die Geschichte hab ich nicht erfunden, mein Vetter hat sie mir erzählt und zugefügt, er habe sich erkundigt und erfahren, alle Dienstbehörden seien angewiesen so zu handeln.

Ich habe mich dabei beruhigt. Aber eine Frage läßt mich seitdem nicht mehr schlafen: Wenn am übernächsten Schalter links nun der Beamte nicht mehr der gewesen wäre, welcher 1929 meinen Vetter, wenn er damals vorgesprochen hätte, ausbezahlt haben würde –

Ob das Staatsgefüge, das auf Ordnung halten muß, ins Wanken geraten wäre?

Oder ob es genügt hätte, wenn der Nachfolger des Beamten, der meinen Vetter, wenn er 1929 vorgesprochen hätte, ausbezahlt haben würde, bescheinigt hätte, daß, wenn sein Vorgänger 1930 noch am Leben gewesen wäre, er meinen Vetter, wenn er 1929 vorgesprochen hätte ...


 << zurück weiter >>