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Telephone sind ein Fluch. Das meine ist ein Segen.
Das Telephon der Stadt hat keine Seele. Mein's hat eine Seele. Sofi heißt sie. Sofi mit dem Ton auf o. Sofi–e mit dem Ton auf i wäre eine Postbeamtin, eine von zehntausend. Sofi mit dem Ton auf o ist eine Mutter.
Aber kehren wir zum Telephon zurück. Ich kann mich noch ans erste Telephon in meiner Vaterstadt erinnern. Ich seh' es noch – mit einem großen Elementekasten unten – dicht umstellt von Staunen, Neugier, Spott: »Gehts, Leutl'n, laßt's euch keine Bär'n aufbinden – secht's den Kasten net dadrunten – da hockt einer drin, des is der ganze Schwindel!«
Ich weiß noch gut, wie meine Schwester Sonntagsmorgen heimlich eingeladen wurde. Für ein Stelldichein. »Unter den Arkaden im Hofgarten, gell?« nahm ich als Vertrauter die piepsende Stimme ab. Am Telephon. So jung ich war – ein Stelldichein per Telephon erschien mir als Entweihung einer wahren Liebe.
Entweihung? Wurde unser Leben durch das Telephon entweiht?
Erst war die Kurbel da. Die rief, gedreht, ein Fräulein her. »Sie wünschen?« kam es. Man wünschte einen Menschen, nannte seinen Namen. Seine Nummer kam in zweiter Linie.
Dann kam die Telephonzeit, wo die Nummer alles wurde. »Name überflüssig!« wurde man belehrt.
Es kam die Zeit, wo auch das Kurbeln überflüssig wurde. Man hing den Hörer ab und konnte nur mehr leuchten.
Dann fiel auch das Leuchten weg. Mit tausend Mechanismen stampfte in das Amt die reine Technik, sah sich finster um und schaltete mit einem Ruck die tausend Mädchen, die das Telephon betreuten, aus: »Überflüssig!«
Im menschenleeren Saal ein Surren, Klirren, Knacken: Zwanzigtausend Apparate verbanden ohne eine blutdurchpulste Menschenhand sich selber.
Wie lange, und die Technik wird aus diesem grauenhaften Saale durch die Drähte in die Häuser dringen zu den letzten Menschen: »Fort mit euch, wir brauchen keine Menschen mehr, wir brauchen Apparate!«
Kehren wir zurück zur Sofi. Sie ist in der apparateumstellten Welt ein Mensch. Sie betreut noch hundert Telephonbesitzer auf dem Lande. Gesehen habe ich sie nie. Wozu auch? Ist es nicht genug, nur auf den Knopf zu drücken, daß die mütterliche Stimme über Berge herschwebt: »Wen möchten S' denn, Herr Müller – sind S' wieder zurück von Berlin – gelten S', bei dera Kälten umanandareisen, gar nach Berlin, das is kei Gspaß – also wen hamma wolln, Herr Müller?«
Ich erschrecke ein wenig. Ich habe niemand gewollt. Es ist mir nach den zwölf Stunden Bahnfahrt, wo man stumm sein Gegenüber anzustarren hat, ergangen, wie dem Meteorologen auf der wintereinsamen Zugspitze, der ins Tal hinunterläutet, daß er wieder eine Stimme höre.
Jedoch, ich bin kein staatlich angestellter Höchstbeamter. Ich bin Privatmann, dem im Monat dreißig Telephongespräche angerechnet werden, ob er sie nun führe oder nicht.
Ich verlange also, mich nicht zu blamieren, irgendeine Nummer. »Is scho recht – den wern ma glei ham – wissen S', bei dem muß i doppelt läuten, der hört schlecht – rrrrr ...«
Gut, daß er schlecht hört, einstweilen kann ich mich besinnen, was ich fragen möchte. Aber wenn man sich bei rrrr besinnen muß ... der Mann ist da, aber eingefallen ist mir nichts. Also lüge ich, es sei die falsche Nummer.
Der Mann hängt ab. Fräulein Sofis Stimme mütterlich verweisend: »Aber wie können S' denn so lügn, ich hätt' Ihnen eine falsche Nummer –«
»Nein, ich selber sagte eine falsche.«
»Aha, also jetzt die rechte?«
»Die – die weiß ich nicht mehr.«
Einen Augenblick lang ist sie fassungslos. Dann weiß ich, was sie denkt. Sie denkt sich, meine »Füße« ließen aus. »D' Füaß lassen aus« ist hierzulande die Verbrämung für beginnende Gehirnverkalkung: »Gelln S', so a Reis',« verbrämt sie die Verbrämung, »die strengt an, gar nach Berlin – rrr – jetzt will schon wieder einer ein' – zugehn tut's heut wieder – entschuldigen S', ein andersmal nacha ...«
Einmal ruft mich jemand aus Paris an. »Mir ham ein',« (»Mir«, das ist die Post, »ein'«, das ist ein Telephoninhaber), »mir ham ein',« erzählt die Sofi stolz, »den rufen s' aus Paris an.«
Mein Nachbar kommt zu mir. Seine Tochter habe sich den Arm gebrochen und ich soll den Doktor rufen. Es ist Sonntag, er ist nicht zu Hause. In den Städten wäre man jetzt ratlos. Nicht bei uns: »Jetzt lassen S' uns halt besinnen,« sagt die Sofi, »wo er sein könnt – beim Bräu is er net, da war er scho' – beim Förster is er aa net, da is der Tarock um vier scho aus, und jetzt is's fünf – im Pfarramt is er aa net, mit dem Pfarrer is er übers Kreuz – wissen S' was? i ruf jetzt eine Nummer nach der andern, können S' so lang warten ...?«
Ein andersmal ist ihre Stimme fröhlich: »A Telegramm! – nein, net für Sie – dem Kirchberger der sei' hat's endli' b'standen, sei' Examen – bis der Postbot 'nauskommt, braucht' a a Stund – da hab i mir denkt, er könnt sich leicht a Stund früher freu'n, Ihr Nachbar – gelln S', Sie gengan 'nüber ...?«
Wie, diese amtliche Anteilnahme habe ihre Schattenseiten? Könnte sie bei allen haben, bei der Sofi nicht.
Einer hat mich hintergangen. Teilt's mir höhnisch mit am Telephon. Mir geht der Gaul durch, und ich heiß ihn telephonisch, was er ist: »Sie Lump!« Einen, der das ist, so heißen, ist bekanntlich strafbar. Wenn der nun die Telephonbeamtin seine Zeugin machen ließe? Mir ist ärgerlich zumute. Rrrr, das Telephon. Die Sofi ist es: »Also gelln S', Sie machen Ihnen keine Sorg'n – ich hab nix g'hört – kein Wort hab i g'hört von – von dem Lumpen.«
Einmal fällt mir's ein: An die tausend Male hast du sie gehört, noch nicht einmal hast du sie gesehn – wie wär es, alter Knabe: Du besuchst so viele Leute ... Wie aber, wenn sie mich enttäuschte?
Sie hat mich nicht enttäuscht. Ich bin am Sonntag nach der kleinen Stadt gepilgert. Auf der Straße frag ich einen Postler, wo das Fräulein Sofi wohne – »wissen Sie, das Fräulein aus dem Telephonamt?«
»Dort vorn geht s' in der Allee spazier'n mit ihre Fünfe – die war schon als Fräulein Sofi bei der Post, dann hat d' Heirat auch nichts mehr daran g'ändert.«
Soll ich lachen? Ich lache nicht. Ich sehe dieser Mutter nach mit ihren Fünfen. Unversehens werden mir aus ihren Fünfen – unsre hundert Fernsprechabonnenten. Und noch unverseh'ner sind's auf einmal alle, alle Menschen, die in diesen kalten Zeiten sich nach einer Mutter sehnen.
Ich weiß es wohl, auch diese Mutter wird der Technik einst zum Opfer fallen, wenn die Berge in den Mechanismus einer seelenlosen Telephonik einbezogen werden.
Vielleicht ist dann aus ihr ein Mütterlein in einem Stübchen unterm Dach geworden und ihre Kinder sind zerstreut in alle Welt.
Dann werd ich, abseits aller Automatik, einen Extradraht von meinem Häuschen über Berg und Tal ins Stübchen unterm Dache legen lassen, und ist mir's in der Hast der neuen Zeit nicht mehr erträglich, läute ich hinüber: »Sind Sie es, Fräul'n Sofi? Bitt schön, verbinden Sie mich wieder mit der alten Zeit, und vergessen Sie auch nicht, sich einzuschalten, liebes Fräulein Sofi ...«