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Der beste Freund

Hätte es an Tänzern nicht gefehlt bei jenem Jubiläum meiner Firma – ich könnte heute die Geschichte nicht erzählen.

Denn einen Lehrling setzt man für gewöhnlich nicht an einen Tisch, wo erste Köpfe und – um's gleich zu sagen – einer Hauptstadt reichste Leute tafeln.

So kam es, daß ich all die vielen Reden eines großen Jubiläums hören konnte – hören durfte – hören mußte – ich weiß heute noch nicht, welches dieser Hilfszeitwörter mehr am Platze war – ich sage also einfach: hörte.

Alle diese Reden habe ich vergessen. Bis auf eine. Nicht weil sie die beste war. Man vergißt so viele beste Reden. Sondern weil die achtzehn grünen Jahre eines Lehrlings diese Rede nicht verstanden. Sonderbar, daß einem oft nur das bleibt, was man nicht verstanden hatte. Ich glaube heute, daß fast alle Gäste damals – so oftmals meine achtzehn Jahre auch in ihre reifen Jahre hineindividiert werden konnten – jene Rede nicht verstanden haben. Das Nichtverstandene hat die größte Macht. Man wittert ein Geheimnis. Man sinnt nach. Oft jahrelang vergeblich. Es sinkt unter die Bewußtseinsoberfläche. Bis es aus einem dunklen Samenkern mit einem Male aufschießt, einer Wunderblume gleich, die im Sonnenlichte einer neugewonnenen Erkenntnis stumm dich anblickt wie ein dunkles Auge: Hast du's jetzt verstanden?

Ich hatte fünfunddreißig Jahre nötig, bis ich es verstand. Reiche mußten fallen. Kronen mußten rollen. Riesenwirtschaftsmächte untergehn und wiederauferstehen, bis auch mir die Wunderblume jener Handvoll Worte aufging – doch ich will's der Reihe nach erzählen.

Die Zeiger jenes Jubiläums rückten damals schon auf Mitternacht. Die offiziellen Reden waren abgeschnurrt. Die Jubiläumsmienen hatten sich gelöst, gefrorenes Lächeln war getaut, man rückte freundlich näher zueinander – da ward von irgend jemand eine Frage aufgeworfen, welche nicht zum Fest gehörte: Wer der beste Freund des deutschen Kaufmanns sei?

Scheinbar eine platte Frage, die man überhören durfte. Nun, es hat sie damals keiner überhört. Es gibt schlichte Fragen, denen man – so sehr man's möchte – nicht ausweichen kann. In die man sich nur immer mehr verfilzt, je mehr man zerrt, um ihnen zu entgehen.

Der jene Frage damals stellte, war ein junger Kaufmann, der erst kürzlich in die Jubiläumsfirma eingetreten war. Er war schon bekannt als unbequemer Frager. Aber da die Frage nun einmal im Rollen war und sie immerhin dazu verwendet werden konnte, um die übliche Langeweile hinter einem offiziellen Jubiläum zu beschwören, sah man ihr ins Angesicht – der unbequemen Frage, meine ich.

»Hem,« sagte einer leichthin, »der beste Freund des deutschen Kaufmanns? Na, ich denke, das ist jener Kunde, der am meisten bei ihm umsetzt.«

Allgemeines Nicken. Aber wirklich einverstanden war man doch nicht. So jung ich war, das fühlte ich.

»Nein,« sagte der Frager, »das ist nicht sein bester Freund – wer weiß einen besser'n?«

Einer wiegte schwer den Kopf: »'n dickes Bankkonto.«

»Kann besser sein, gewiß, jedoch der beste ist es nicht.«

»Des deutschen Kaufmanns bester Freund?« sagte ein Schwärmerischer in die Stille, »das ist seine kluge deutsche Frau.«

»Nicht übel – doch der beste ist es nicht.«

Noch eine lange Reihe bester Freunde wurde angeführt: sein guter Ruf, sein Kredit, seine Zuverlässigkeit, sein Fleiß, seine guten Einfälle. Mancher Unsinn war dabei, über den Gelächter niederprasselte auf den großen Jublläumstisch, daß er fast zu wackeln schien. Aber auch manch gutes Wort mit oft noch besserer Begründung wurde angeführt. So angeführt, daß meine achtzehn Jahre dachten: Jetzt – jetzt wird der Frager sagen müssen, ja, das ist des deutschen Kaufmanns bester Freund.

Aber der junge Frager lächelte nur: das sei alles schön und gut, das seien lauter gute Freunde, aber keiner darunter sei der beste.

»Keiner der beste?« verlor der Hausherr plötzlich die Geduld, »mir scheint, Verehrtester, daß Sie selbst uns zum besten haben wollen.«

»Nein,« sagte der Frager ruhig, »nicht zum besten haben will ich Sie, zum besten Freunde will ich Ihnen allen nur verhelfen.«

»Gut,« sagte der Hausherr unwirsch, »dann stellen Sie uns, bitte, selber diesen besten Freund vor – sollte er vielleicht schon draußen vor der Türe stehen? – Johann, öffnen Sie doch, bitte.«

Alle lachten. Nur der alte Johann lachte nicht. Er öffnete die große Flügeltüre. Wind strich herein, ein kalter Zugwind. Ich sah große Kaufherrn frösteln. Uns war, als käme wirklich jemand in den Saal, unsichtbar, gewaltig und schier unbezwinglich.

Und mitten in dieses Frösteln hinein sagte der Fragesteller langsam, so langsam, daß die Einzelworte mir wie schwere Tropfen in die aufgeschlagenen Kragen Fröstelnder zu fallen schienen: »Der beste Freund des deutschen Kaufmanns ist der drohende Bankrott.«

Eine große Stille folgte. Die Gewaltigsten der Hauptstadt sahen einander an, so sonderbar, so sonderbar. Dann schlug der Zugwind beide Flügeltüren zu. Der Unsichtbare war hinausgegangen. Die zurückgeblieben waren, fingen langsam an, sich zu erholen. Sie lachten, schlugen auf den Tisch, sie sagten, sie hätten viele Witze schon vernommen, gute Witze, schlechte Witze, aber niemals einen, der in einen feierlichen Anlaß, wie man heute einen habe, sich so gottesjämmerlich gefügt und sie bedauerten den Takt gewisser Menschen, die – um geistreich zu erscheinen – nicht davon zurückzubringen seien, mit den gröbsten Händen feinstes altes Porzellan – und das sei die Firma, die man heute feiere – anzutasten.

Zwei Jahre später war dieses feinste alte Porzellan zerbrochen. Nein, nicht ganz, nur Sprünge gingen durch, Sprünge drohenden Bankrotts. Eben jener Fragesteller hatte eine jahrelange verborgene Mißwirtschaft ans Licht gezogen. Ein großes Reinemachen gab es. Alle Kräfte wurden angestrengt – es gelang, man kam hinüber. Heute noch besteht die Firma, weit und breit ist sie geachtet.

Von jenen, die sie erbten – sie hatten damals unser Jubiläum miterlebt – erzählt man, daß sie dann und wann die großen Flügeltüren öffnen, um mit der frischen Zugluft einen großen Unbekannten durch die Arbeitssäle gehen zu lassen.

Der Fragesteller selber war nicht lange nach dem Jubiläum aus der Firma ausgeschieden. Er nahm einen steilen Aufstieg in der Kaufmannschaft. Er war einer von den wenigen, die nach dem verlornen großen Kriege nicht den Mut verloren. Die es wagten, in der Handelskammer von den großen Niederlagen als von einem Freund zu sprechen, der vor Schlimmerem als es verlorene Schlachten sind, uns bewahrt hätte.

Die Industrie, der jener diente, hat sich nach und nach vertrustet. Es kam von selber so. Der sie leitete – eben jener Frager – hat es nicht gewollt. Er pflegte in den letzten Jahren nur die Stirn zu runzeln, wenn vom Trust die Rede war, der auf absehbare Zeiten alle Unbill und Gefahren von den angeschlossenen Firmen fernhielt. Von Verkalkung pflegte er zu murmeln, und es sei nun bald die höchste Zeit fürs Kommen eines Freundes, eines besten ...

Jener Fragesteller ist gestorben. Ein Jahr vor seinem Tode hat er selbst den Trust zerschlagen. Die Flügeltüren hat er weit geöffnet. Wieder auf den eigenen Füßen stand ein jeder. Sie hatten mit der Rechten sich wie Löwen mit der besten Kraft zu wehren, indes sie – an der Linken von dem unsichtbaren besten Freunde an der Hand genommen – durch das Tal der neuen Kämpfe gehn zu neuen Siegen.


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