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Die ungeschriebenen Gedichte sind die stärksten.
Da ist ein Blütenbaum. Auf dem Weg vom Baum zu mir geht ein Viertel seines dichterischen Duftgehalts verloren.
Das zweite Viertel vertropft in dem Bemühen, diesen Duftgehalt an Form und Reim zu binden.
Und es zerstäubt der Viertel drittes auf dem gestrüppbewachsenen Weg vom Druck zum Leser.
Das vierte Viertel senkt die Wurzeln in die Leserherzen, erstarkt und wächst und setzt Verlorenes wieder an – wenn's gut geht. Und wenn es schlecht geht – es geht öfter schlecht als gut –, so dorren seine Wurzeln hilflos in der Luft.
Da stehen sie an Quellen, schöpfen mit hohlgemachten Händen, laufen über Land, und zwischen Fingerfugen versträhnt das meiste Naß. Ein Restchen rieselt über jene Pflänzchen, zu denen sie das Wasser trugen.
Wie kann man diese Fingerfugen dichter machen, immer dichter?
Und das Echo gibt die Antwort aus der Frage:
Dichter? – Dichter?
Ja, der Dichter kann es, nur der Dichter. Freilich muß er ein Verdichter sein und nicht ein Breiter.
Ein Breiter ist er und Verflacher, wenn er über Dinge redet, ein Dichter aber, wenn er diese Dinge selber reden läßt. Wenn er nicht mehr Quellenwasser mit gespreizten Fingern über Land trägt zu den Menschen, sondern wenn er diese Menschen selber an die Quellen leitet.
Freilich werden dann die meisten an den Quellen sitzen, also redend:
»Wo ist nun deine Quelle? Wir hören sie nicht rauschen, und wir sehen sie nicht glitzern. Zeig' uns endlich deine Quelle, Dichter.«
»Ihr sitzt dicht daran.«
»Wir sitzen an einem grauen Felsen. Hier fließt keine Quelle.«
Dann wird der Dichter seinen Hammer nehmen. An den Felsen wird er schlagen. Zwei, drei Schläge tut er, und – wer Ohren hat, der höre, wer Augen hat, der sehe – es rauscht und glitzert allerorten von erschlossenen Quellen.
Des Dichters Hammer ist das Wort.
»Fels,« sagt er langsam und sieht dich an. Komm, sprich's nach.
»Fels.«
Nein, nicht so. In deinem Worte muß der Felsen selber liegen. Mit deinem Worte mußt du diesen Felsen bauen, wie das Meer ihn baute. In deinem Worte muß es quellen, wie die Lava quoll, ehe sie zu Fels erstarrte. – So, jetzt sprich's noch einmal.
»Fels.«
»So, das war richtig. Sieh, nun bist du selbst ein Dichter. Nun kann's dir nicht fehlen. Wo du auch gehst. Wo du auch gehst, vergiß den Hammer nicht, den Hammer nicht.
Wenn du einen frühen Weg gehst, wenn du über Sand gehst – schlag zu, schlag zu – schlag mit deinem Hammer zu. So – schon genug – jetzt horch – horch, was dir der Sand erzählt:
›Ich war ein Berg. Mich lockerte der Frost. Wasser wuschen mich zu Tag. Ein Rollstein ward ich. Durch Wiesen zog ich und durch Städte. Das Meer zerrieb mich. Trocken lag ich wieder. Mörtel war ich. Die Fugen eines stolzen Hauses band ich. Das Haus zerbröckelte. Ich mit ihm. Winde nahmen mich und führten mich vor deinen Fuß. Ich grüße dich.‹
So erzählt der Sand.
Oder wenn du in das Gras gehst. Winters früh am Morgen. Grau ist alles. Auf der ganzen Welt nicht ein Gedicht. Nie mehr wird die Sonne sich erheben. Trübe Gaslaternen brennen.
Gas, sagst du – Gas? Flugs deinen Hammer. Laß den Laternenpfahl die Schläge weiterleiten. Schlag zu, schlag zu. So – schon genug – jetzt horch – horch, was dir das Gas erzählt:
›Ich war Licht der Sonne. Auf die Erde fuhr ich. Ich schlüpfte in den Baum. Stück um Stück erbaute ich den Baum. Erde und Wasser schob ich über Bäume. Die Zeit schob sich darüber. Kohle war ich. Menschen stiegen in der Erde Eingeweide. Menschen brachen mich. Menschen holten das alte Sonnenlicht aus mir heraus. Ich brenne. Ich bin das Gas.‹
So erzählte das Gas.
Und was der Sand erzählt, und was das Gas erzählt, das sind Gedichte.
Augen auf, ihr Freunde. Mit Gedichten ist die Welt beschneit, mit ungeschriebenen Gedichten.
Du gehst die Prielmayerstraße entlang. Die Prielmayerstraße ist kein Gedicht. Aber im vierten Stock steht irgendwo ein Blumenstock, an dem eine Blüte locker ward und fiel. Sie schneit auf deinen Hutrand. Und du gehst weiter durch das Stadtgewühl, vielleicht verärgert, voller Mißmut und hast keine Ahnung, daß auf deinem Hutrand ein Gedicht liegt. Heim kommst du, überschreitest deine Schwelle und deine Zimmerwirtin sagt:
›Aber Herr Müller, jetzt ham S' schon wieder d' Stiefeln net abg'wischt an der Matt'n.‹
Du wirfst energisch deinen Hut auf die Kommode – der Wurf ersetzt den Hammerschlag – da fällt die Blüte in dein Zimmer. Die Blüte, ein Gedicht. Der Ärger sinkt mit ihr zu Boden, Mißmut stäubt in einen Winkel. Das Gedicht regiert, das aus der Blüte steigt.
Es braucht keine Blüte zu sein.
Der Wetterhahn da drüben auf dem Haus, wenn er knarrt, tut's auch. Der Wetterhahn ist ein Gedicht, wofern du daran klopfst, mein Freund.
Es braucht kein Wetterhahn zu sein. Da steht ein Straßenpferd. Du gehst vorüber. Es hat nach dir den Kopf gewandt. Es sieht dich aus großen dunklen Augen an. Mensch, spürst du nicht, daß ein Gedicht an deine Ohren klopft?
Jemand schilt dich. Sein Auge sprüht. Steil steht die Flamme seines Zorns im Auge – o, ein Gedicht – welch ein Gedicht.
Die Erde ist mit ungeschriebenen Gedichten dicht beschneit.