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Hundertundneunundzwanzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

Neulich ging ich über den Pont-Neuf. In meiner Begleitung war einer meiner Freunde, und wir begegneten einem Bekannten des letzteren, von dem er mir sagte, er sei ein Mathematiker. Das konnte man demselben auch anmerken; denn er war tief in Gedanken versunken. Mein Freund mußte ihn lange am Ärmel zupfen und schütteln, um seine Aufmerksamkeit anzuziehen, so sehr lag ihm eine krumme Linie im Sinne, die ihm vielleicht schon über acht Tage zu schaffen machte. Sie sagten sich gegenseitig viele Höflichkeiten und tauschten einige litterarische Neuigkeiten mit einander aus. Im Gespräche kamen sie bis an die Thür eines Kaffeehauses,««) Auch hier ist, wie in Brief 36, an das Café Procope zu denken; denn von dem Pont Neuf ist die demselben sehr nahe gelegene Rue de l'Ancienne Comédie durch die Rue Dauphine in gerader Linie zu erreichen. und ich trat mit ihnen in das" selbe ein. I

Ich machte die Bemerkung, daß unser Mathematiker dort von jedermann mit Zuvorkommenheit empfangen wurde, und daß die Kellner ihm weit größere Aufmerksamkeit erwiesen als zwei Musketieren, die in einer Ecke saßen. Er seinerseits schien sich an diesem Orte behaglich zu fühlen; denn die Falten auf seiner Stirn glätteten sich ein wenig, und er begann zu lachen, als habe er keine blasse Idee von Geometrie.

Indessen beurteilte sein regelmäßiger Geist die ganze Unterhaltung nach dem Klaftermaß. Er erinnerte mich an jenen Mann, der in einem Garten alle Blumen, die höher als die Mehrzahl waren, mit seinem Degen köpfte. Periander von Korinth ließ den Thrasybulus von Milet befragen, auf welche Weise er am besten den Staat regieren könne. Statt jeder Antwort führte der Milesier den Boten vor die Stadt, wo er auf einem Acker mit seinem Schwerte sämtliche Gesträuche abhieb, welche über die niedrigen hervorragten. Periander folgte diesem Rate und brachte jeden um, der in Korinth Einfluß hatte. (Herodot, V, 92, 6.) Ein Märtyrer seines logischen Verstandes, wurde er durch überraschende Gedankenblitze ebenso verletzt, wie schwache Augen durch ein zu grelles Licht geblendet werden. Nichts galt ihm als unbedeutend, vorausgesetzt, daß es wirklich war. Seine Reden waren daher auch sehr seltsam. Er war an jenem Tage mit jemand vom Lande gekommen, der ein herrliches Schloß und prachtvolle Gärten gesehen hatte; er selbst aber hatte nur ein sechzig Fuß langes, fünfunddreißig Fuß breites Gebäude und zehn Morgen Gebüsch in Form eines ungleichseitigen Vierecks bemerkt. Er würde es gern gesehen haben, wenn man die Regeln der Perspektive daselbst derart beobachtet hätte, daß die Alleen überall gleich breit erschienen wären; er wußte dafür eine unfehlbare Methode anzugeben. Er äußerte sich sehr befriedigt über eine sehr sonderbar eingerichtete Sonnenuhr, die er daselbst aufgespürt hatte, und über die Frage eines in meiner Nähe sitzenden Gelehrten, ob diese Sonnenuhr die babylonischen Stunden anzeige, geriet er in große Hitze. Als irgend ein Neuigkeitskrämer von der Beschießung der Burg Fontarabia Die spanische Grenzfestung Fuenterabia ergab sich im englischen Kriege dem Herzog von Berwick nach einer schweren Belagerung am 18. Juni 1719. Nach dem Datum dieses Briefes muß von einer Beschießung während der Belagerungszeit die Rede sein. redete, gab er uns sofort die Linie an, welche die Bomben in der Luft beschrieben hätten; und in seiner Freude diese zu kennen,wollte er von ihrer Wirkung durchaus nichts wissen. Einer der Anwesenden klagte, er sei im verflossenen Winter durch eine Überschwemmung zu Grunde gerichtet worden. »Was Sie da sagen, ist mir ja höchst angenehm zu hören,« entgegnete ihm der Mathematiker. »Ich sehe nun, daß ich mich in meiner Beobachtung nicht getäuscht habe, und daß auf der Erde mindestens zwei Zoll mehr Wasser gefallen sind, als im vorigen Jahre.«

Kurz darauf entfernte er sich, und wir begleiteten ihn. Da er sehr schnell ging und auf nichts Achtung gab, was ihm in den Weg kam, so rannte er hart gegen einen anderen. Sie stießen heftig auf einander, und nach diesem Stoße prallten sie im Verhältnis ihrer Geschwindigkeit und Masse jeder nach seiner Seite wieder zurück. Als sie sich von ihrer Betäubung etwas erholt hatten, sagte der Zuletztgekommene, indem er sich mit seiner Hand die Stirn hielt, zu dem Mathematiker: »Es ist mir sehr lieb, daß Sie mich gestoßen haben; denn ich möchte Ihnen eine große Neuigkeit mitteilen. Soeben habe ich meinen Horaz herausgegeben« – »Wie?« fragte der Mathematiker; »der ist ja schon seit zweitausend Jahren heraus!« – »Sie mißverstehen mich,« versetzte der andere. »Was ich soeben veröffentlicht habe, ist eine Übersetzung dieses alten Autors. Schon seit zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit Übersetzungen,«

»Wie, mein Herr,« antwortete der Mathematiker, »schon seit zwanzig Jahren denken Sie nicht mehr? Sie reden für die anderen, und diese denken für Sie?« – »Mein Herr,« erwiderte der Gelehrte, »glauben Sie denn nicht, daß ich dem Publikum einen großen Dienst erwiesen habe, indem ich ihm die Lektüre der guten Schriftsteller erleichterte?« – »Das will ich nicht gerade sagen; ich verehre die erhabenen Genies, denen Sie neue Formen geben, so hoch wie irgend ein andrer. Aber Sie werden es ihnen nicht gleichthun; denn wenn Sie immer übersetzen, wird man Sie niemals übersetzen.

Übersetzungen gleichen den Kupfermünzen, die zwar denselben Wert haben wie ein Goldstück, ja für das Volk sogar von größerem Nutzen sind; aber sie sind doch immer gering und von schlechtem Gehalt.

Sie sagen, daß Sie jene ruhmreichen Toten wieder bei uns ins Leben rufen wollen, und ich gebe zu, daß Sie ihnen einen Körper verleihen. Aber das Leben geben Sie ihnen doch nicht zurück; es fehlt ihnen immer der beseelende Geist.

Warum lenken Sie Ihre Studien nicht vielmehr auf die Erforschung so vieler schöner Wahrheiten, zu deren Entdeckung wir täglich mittelst einer leichten Berechnung gelangen?« – Nachdem er ihm diese Ratschläge erteilt, trennten sich die beiden; und ich glaube, sie waren sehr unzufrieden mit einander.

Paris, am Letzten des zweiten Mondes Rebiab, 1719.



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