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Hundertundzwanzigster Brief.
Usbek an denselben

Die Fruchtbarkeit eines Volkes hängt zuweilen von den allerunscheinbarsten Ursachen ab, so daß es oft nur einer neuen Wendung seiner Phantasie bedarf, um es zahlreicher zu machen, als es vorher war.

Immer vertilgt und immer wieder erstehend, haben die Juden ihre Verluste und ihre beständige Vernichtung einzig durch die Hoffnung wieder gut gemacht, die von allen Familien unter ihnen geteilt wird, einstmals einen mächtigen König unter sich auftreten zu sehen, welcher der Beherrscher des Erdkreises sein soll.

Die alten Könige von Persien verdankten ihre vielen tausend Unterthanen allein jener Lehre der alten Magierreligion, die Gott wohlgefälligsten Handlungen, die ein Mensch vollbringen könne, seien: ein Kind zu zeugen, einen Acker zu bebauen und einen Baum zu pflanzen. Nicht nur jener Glaubenslehre, sondern auch einem viel materielleren Motiv verdankten sie die Volksvermehrung; auf eine hohe Kinderzahl war ein jährlicher Preis gesetzt: ô? ä? ôï?ò ðëåßóôïõò ðá?äáò ?ðïäåéêíýíôé, ä?ñá ?êðÝìðåé ? âáóéëå?ò ?í? ð?í ?ôïò. (Herodot, É, 136) (Wer die meisten Söhne hat, erhält vom König ein jährliches Geschenk. – Anm.d.Hrsg.)

Wenn China eine so erstaunliche Volksmenge umschließt, so ist das nur die Folge einer bestimmten Denkungsart. Die Kinder betrachten nämlich dort ihre Eltern als Götter, bezeugen ihnen schon in diesem Leben göttliche Ehrfurcht und bringen ihnen nach ihrem Tode Opfer dar, weil sie glauben, daß ihre im Tyen »Name des Himmels, der von einer chinesischen Religionssekte als einzige Gottheit angebetet wird. In Peking wallfahrten die Familien alljährlich an bestimmten Tagen zu den Grabstätten der Ihrigen und feiern ein Fest zu deren Gedenken.« Strodtmann. vernichteten Seelen dadurch neues Leben erhalten. Aus diesem Grunde ist jeder bestrebt, seine Familie zu vermehren, die ihm in dieser Welt so treu ergeben und in der künftigen zu seinem Heile so notwendig ist. Ob den Chinesen in der That so viel daran gelegen ist, von ihren Kindern göttlich verehrt zu werden, muß man bezweifeln, wenn man bedenkt, wie häufig sie dieselben aussetzen. Die Kinderaussetzung scheint bei ihnen gesetzlich erlaubt zu sein. Allein in Peking sollen jährlich 2–8000 in den Straßen ausgesetzt, dazu noch viele ins Wasser geworfen oder gleich nach der Geburt in Badekübeln ersäuft werden. »Die Straßenfindlinge wurden jeden Morgen auf einen Polizeikarren geladen, tote und lebendige durch einander, und vor der Stadt in eine Grube geschüttet.« (Roscher, a. a. O. § 251, Anm. 6.)

Andrerseits nimmt in den muhamedanischen Ländern die Bevölkerung täglich ab, weil in ihnen eine Ansicht herrscht, welche trotz ihrer Heiligkeit höchst verderbliche Wirkungen hat, wenn sie einmal im Geiste des Volkes eingewurzelt ist. Wir betrachten das Leben als eine Wanderschaft, deren Endziel ein anderes Vaterland ist. Nützliche und dauerhafte Werke, das Bestreben, unsere Kinder im Wohlstand zurückzulassen, die Pläne,welche über die Grenzen eines kurzen und vergänglichen Daseins hinausgehen, erscheinen uns als eitle Chimären. Ruhig in der Gegenwart und unbesorgt um die Zukunft, nehmen wir uns weder die Mühe, unsre baufälligen öffentlichen Gebäude wieder herzustellen, noch die unbebauten Ländereien urbar zu machen, noch denjenigen, welche unserer Bearbeitung bedürfen, unsere Pflege angedeihen zu lassen. Wir leben in allgemeiner Gleichgültigkeit und überlassen alles der Vorsehung.

Bei den Europäern hat der Geist der Eitelkeit das ungerechte Recht der Erstgeburt geschaffen. Dies wirkt sehr nachteilig auf die Fortpflanzung, einerseits, indem es die ganze Aufmerksamkeit des Vaters auf ein einziges seiner Kinder richtet und sie von allen übrigen abkehrt; andrerseits, indem es ihn nötigt, die Selbständigkeit mehrerer Kinder zu verhindern, um das Glück eines einzigen fester zu begründen; und endlich, indem es die Gleichheit der Bürger, diese Grundlage alles Wohlstandes, unmöglich macht.

Paris, am 4. des Mondes Rhamazan, 1718.



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