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Dreiundsechzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

Fast möchte man glauben, daß Du Dein ganzes Leben auf dem Lande zubringen willst. Im Anfang meinte ich, Dich nur auf zwei oder drei Tage entbehren zu müssen; aber nun habe ich Dich schon seit vierzehn nicht mehr gesehen. Freilich bist Du in einem angenehmen Hause, wo Du passende Gesellschaft hast und reden darfst, wie es Dir gefällt: mehr brauchst Du ja nicht, um die ganze Welt zu vergessen.

Was mich betrifft, so hat sich fast nichts in meiner Lebensweise geändert. Ich gehe fleißig unter die Leute und suche sie kennen zu lernen. Unmerklich verliert mein Geist sein asiatisches Gepräge, und europäische Sitte wird mir zur zweiten Natur. Es setzt mich gar nicht mehr in Erstaunen, wenn ich in einem Hause fünf bis sechs Frauen und fünf bis sechs Männer bei einander finde, und es scheint mir gar keine so üble Erfindung zu sein.

Ich kann wohl sagen: erst seit ich hier bin, kenne ich die Weiber; in einem Monat habe ich sie hier besser verstehen gelernt, als ich es in einem Serail in dreißig Jahren vermocht hätte.

Bei uns sind alle Charaktere gleichförmig, weil der Zwang sie gebildet hat; man sieht die Leute nicht wie sie sind, sondern in der Truggestalt, die man ihnen aufnötigt.

In dieser Knechtschaft des Herzens und des Geistes redet bloß die Furcht, die nur eine Sprache kennt, nicht aber die Natur, die sich auf so vielerlei Art verständlich macht, und der solch ein Reichtum von Formen zu Gebote steht.

Die Kunst der Verstellung, bei uns so viel geübt und keinem entbehrlich, ist hier unbekannt. Alles redet, alles sieht und versteht sich; man zeigt sein Herz so offen wie sein Gesicht; an den Sitten, an der Tugend, ja selbst am Laster bemerkt man immer einen Zug von Naivetät.

Das Talent, dessen man bedarf, um den Weibern zu gefallen, ist verschieden von dem, welches ihnen noch mehr gefällt. Es besteht in einer Art witziger Schäkerei, welche sie ergötzt, indem sie ihnen jeden Augenblick zu versprechen scheint, was man leider nur in zu langen Zwischenräumen halten kann.

Eigentlich paßt diese Tändelei nur für den Putztisch; allein nach und nach scheint sie der allgemeine Nationalcharakter geworden zu sein. Man tändelt im Staatsrat, man tändelt vor der Front eines Heeres, man tändelt mit einem Gesandten, und es ist gerade die Ernsthaftigkeit seines Gebahrens, wodurch ein Beruf sich lächerlich macht. Man würde über die Ärzte nicht mehr lachen, wenn sie aufhörten, sich wie Leichenbitter zu kleiden, Die Kleidung der Ärzte war damals schwarz. Der Doktorsmantel ist scharlachrot, wovon nach Weber (Demokritos, Bd. 11, 46) Charlatanerie herkommen soll. An dieser Lächerlichkeit der Ärzte hatte wohl die komische Figur, die sie in Molière's »Malade imaginaire« auf der Bühne spielten, nicht geringen Anteil. Sie waren zu jener Zeit meist unwissende Quacksalber. Montaigne sagt von ihnen: »Nicht sie selbst sind mir zuwider, sondern ihre Kunst, und ich nehme es ihnen nicht besonders übel, daß sie aus unsrer Dummheit ihren Vorteil ziehen.« (Essais, II, 27.) und ihre Kranken mit Getändel aus der Welt schafften.

Paris, am 10. des ersten Mondes Rebiab, 1714.



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