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Einundneunzigster Brief.
Usbek an denselben in Smyrna.

Aus dieser allgemeinen Leidenschaft der französischen Nation für den Ruhm hat sich im Geiste der Einzelnen ein unbeschreibliches Etwas gebildet, das man Ehrgefühl nennt. Eigentlich hat jeder Beruf sein eigenes Ehrgefühl; aber im Soldatenstaude ist es am meisten ausgeprägt, und es ist dort das Ehrgefühl im höchsten Sinne des Worts. Es würde mir sehr schwer fallen, Dir deutlich zu machen, was es eigentlich ist; denn uns fehlt ein gleicher Begriff. Auch im Deutschen können wir »point d'honneur« nicht sinngetreu wiedergeben. In früheren Zeiten waren die Gesetze dieses Ehrgefühls fast die einzigen, durch welche die Franzosen, besonders die Adligen, sich leiten ließen. Dieselben bestimmten ihre ganze Lebensführung und waren so streng, daß man sie, ich will nicht sagen: nicht übertreten, sondern selbst die nebensächlichste ihrer Anordnungen nicht umgehen konnte, ohne es durch eine grausamere Strafe als den Tod zu büßen.

Wenn es sich darum handelte, eine Streitigkeit zu schlichten, so gab es nach ihrer Vorschrift nur eine einzige Art der Entscheidung, nämlich den Zweikampf, welcher allen Schwierigkeiten rasch ein Ende machte; nur hatte dieser das Üble, daß auf solche Weise das Urteil oftmals an andren Parteien, als den eigentlichen Gegnern, vollzogen wurde.

Mochte jemand auch nur auf das Oberflächlichste mit einem andern bekannt sein, so mußte er sich doch an dem Streit beteiligen und persönlich Rechenschaft geben, als wäre er selbst in zorniger Aufregung gewesen. Aber durch eine solche Wahl und eine so schmeichelhafte Bevorzugung fühlte er sich immer geehrt; und wer einem Menschen nicht vier Pistolen hätte geben mögen, um ihn samt seiner ganzen Familie vom Galgen zu retten, trug kein Bedenken, sein Leben tausendmal für ihn zu wagen. Früher konnten die Gegner sich durch bezahlte Stellvertreter im Zweikampf vertreten lassen. Später wurde diese Stelle von ihren Freunden eingenommen. Montaigne erklärt, die Einführung von Sekundanten sei der Feigheit zuzuschreiben. (Essais, II. 27)

Diese Art der Entscheidung war ziemlich übel erdacht; denn daraus, daß jemand gewandter oder stärker ist, als ein andrer, folgt noch nicht, daß sein Recht das bessere ist. Mit Recht schrieb Professor Häckel in Jena kürzlich: »Als wirkliche Ehrenrettung lässt sich das Duell ohnehin nur dann noch rechtfertigen, wenn man es im Sinne des Mittelalters als ›Gottesurteil‹ auffaßt.«

Daher haben auch die Könige das Duell bei strengster Strafe Vergl. Brief 69. verboten, aber ganz vergeblich; denn die Ehre, welche ihrer Herrschaft nicht entsagen will, lehnt sich dagegen auf und erkennt keine Gesetze über sich.

Auf diese Weise befinden sich die Franzosen in einer sehr widerspruchsvollen Lage; denn jene Ehrengesetze machen es einem Mann von Ehre zur Pflicht, sich zu rächen, wenn man ihn beleidigt hat; andrerseits aber treffen ihn die härtesten Strafen der Justiz, wenn er sich rächt. Gehorcht man den Gesetzen der Ehre, so stirbt man durch Henkershand; gehorcht man denen der Justiz, so ist man für immer aus der menschlichen Gesellschaft verbannt: man hat also nur die grausame Wahl, entweder zu sterben, oder des Lebens unwürdig zu sein. Wer zu wissen wünscht, welchen Mittelweg die Franzosen heutzutage gefunden haben, lese die heitre Beschreibung von Gambetta's Duell bei Mark Twain (A tramp abroad, vol. I).

Paris, am 18. des zweiten Mondes Gemmadi, 1715.



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