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Wie es scheint, regieren die Familien sich hier ganz allein; die Gewalt des Mannes über seine Frau, des Vaters über seine Kinder, des Herrn über seine Sklaven ist etwas Schattenhaftes. In alle ihre Mißhelligkeiten mischen sich die Gerichte, und man kann überzeugt sein, daß sie immer gegen den eifersüchtigen Gatten, den strengen Vater und den unnachsichtigen Herrn entscheiden.
Neulich besuchte ich des Gebäude, in welchem die Gerichtsverhandlungen stattfinden. Ehe man in das Innere gelangt, muß man an einer Unzahl junger Verkäuferinnen vorüber, von denen man mit Schmeichelworten angerufen wird. »Les galieries du palais« war der Titel einer Komödie von Corneille. Die Galerien des Justizpalastes, damals ein Bazar, dienten den Schaulustigen ebenso zur Promenade, wie heutzutage die Galerien des Palais Royal. Dies Vorspiel ist heiter genug; aber das Bild wird gar düster, sobald man die großen Säle betritt; denn dort erblickt man nur Leute, deren Kleid noch ernsthafter ist, als ihr Gesicht. Endlich erreicht man die geweihte Stätte, wo sich alle Familiengeheimnisse enthüllen, und wo die verborgensten Thaten ans Licht gebracht werden.
Hier bekennt ein sittsames Mädchen die Qualen einer zu lange bewahrten Jungferschaft, ihre Kämpfe und ihren schmerzlichen Widerstand; weit entfernt davon, auf ihren Sieg stolz zu sein, droht sie vielmehr mit ihrer demnächstigen Niederlage; und damit ihr Vater über ihre Bedürfnisse nicht länger im Unklaren bleibe, macht sie alle Welt zu Mitwissern.
Nach ihr tritt ein freches Weib auf und giebt als Grund der Scheidung von ihrem Manne eine haarkleine Darstellung von allem Schimpf, den sie ihm angethan.
Mit ähnlicher Sittsamkeit verkündet eine andere, sie habe es satt, den Namen einer Frau zu tragen, ohne ihrer Rechte zu genießen. Sie enthüllt die verborgensten Geheimnisse der Hochzeitsnacht; sie verlangt, von den erfahrensten Sachverständigen untersucht und durch Urteilsspruch in alle Rechte der Jungferschaft wieder eingesetzt zu werden. Es giebt selbst Weiber, welche sich nicht entblöden, ihre Männer herauszufordern und ihnen einen öffentlichen Kampf anzutragen, den die Gegenwart von Zeugen so schwierig macht, und welcher zudem für die siegreiche Frau so schimpflich ist wie für den unterliegenden Mann. Diese Gerichtspraxis war im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts eingeführt, aber, nach Parrelle, bereits gegen Ende desselben wieder abgeschafft worden. Boileau hatte sie bereits in seiner achten Satire gegeißelt. Da sie also zur Zeit dieses Briefes schon seit Generationen (?) nicht mehr bestand, so sagt Schvarcz (a. a. O.), Montesquieu sei um des Effekts willen sogar bereit, die Geschichte zu fälschen.
Eine Unmenge von entehrten oder verführten Mädchen schildern die Männer viel schlechter, als sie sind. Von Liebe hallt der ganze Gerichtshof wieder; man hört nur von erzürnten Vätern, von betrogenen Töchtern, von ungetreuen Liebhabern und von gekränkten Ehemännern.
Nach den Gesetzen dieses Landes gilt jedes während der Ehe geborene Kind als rechtmäßiger Sproß des Mannes. Mag er noch so triftige Ursachen haben, es nicht zu glauben, das Gesetz glaubt es für ihn und überhebt ihn dadurch allen Zweifeln und weiteren Untersuchungen.
In diesem Gerichtshofe entscheidet die Stimmenmehrheit; doch hat die Erfahrung gelehrt, daß es besser sein würde, wenn die Minderzahl den Ausschlag gäbe; und dies ist ganz natürlich; denn nur wenige Menschen sind geradsinnig und gerecht; aber die Zahl der Querköpfe ist, wie niemand bezweifelt, unendlich.
Paris, am 1. des zweiten Mondes Gemmadi, 1715.