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Wenn es einen Gott giebt, mein lieber Rhedi, so muß er notwendig gerecht sein; denn wenn er es nicht wäre, so würde er das schlimmste und unvollkommenste aller Wesen sein.
Die Gerechtigkeit ist der Ausdruck thatsächlicher Übereinstimmung zwischen zwei Gegenständen, und für jedes Wesen bleibt er der nämliche, sei es Gott, ein Engel oder endlich ein Mensch.
Freilich erkennen die Menschen diese Übereinstimmung nicht immer; und selbst wenn sie dieselbe erkennen, weichen sie oft davon ab; am besten erkennen sie stets ihr eigenes Interesse. Die Gerechtigkeit erhebt zwar ihre Stimme; allein im Aufruhr der Leidenschaften findet sie nur mit Mühe ein geneigtes Ohr.
Die Menschen sind ungerecht, weil es ihnen Nutzen bringt, und weil sie lieber für ihren eigenen als für fremden Vorteil sorgen. Bei allen ihren Handlungen haben sie ihre selbstischen Zwecke; ohne ernstliche Beweggründe thut niemand etwas Böses; es muß eine Ursache geben, die ihn dazu bestimmt; und diese Ursache ist stets der Eigennutz.
Aber es ist unmöglich, daß Gott jemals etwas Ungerechtes thue; setzt man voraus, daß er die Gerechtigkeit kennt, so muß man auch schließen, daß er sie mit Notwendigkeit befolgt; denn da er keine Bedürfnisse hat und sich selbst genügt, würde er sich durch Ungerechtigkeit als das bösartigste aller Wesen kennzeichnen, weil er nicht die Entschuldigung des persönlichen Interesses hätte.
So sollten auch wir, selbst wenn es keinen Gott gäbe, allezeit die Gerechtigkeit lieben, d. h. jenem Wesen ähnlich zu werden suchen, von dem wir eine so schöne Vorstellung haben, und welches, wenn es existierte, notwendig gerecht sein würde. Wären wir dann auch frei vom Joche der Religion, so dürften wir doch das der Billigkeit nicht abschütteln.
Aus diesen Gründen, lieber Rhedi, nehme ich an, daß die Gerechtigkeit ewig ist und nicht von menschlichen Verträgen abhängt. Indem hier die Gerechtigkeit (von Schopenhauer die erste und recht eigentliche Kardinaltugend genannt; Ethik, S. 199) als kategorischer Imperativ und etwas von menschlicher Übereinkunft Unabhängiges dargestellt wird, erhält der Theismus eine Stütze; andererseits aber sucht Montesquieu im Folgenden den biblischen Gottesbegriff durch sie zu erschüttern. Indessen ist auch hier, wie aus Brief 69, zu ersehen, daß er in der Philosophie zur Zeit der »Persischen Briefe« nur ein zweifelnder und noch unfertiger Dilettant war. Um über dies Thema zu befriedigenden Ergebnissen zu gelangen, hätte er vor allem die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des Willens untersuchen müssen. Bereits Locke (Human Understanding I, III) hatte gelehrt, daß weder die Gerechtigkeit noch andere moralische Eigenschaften angeboren sind. Hinge sie aber dennoch davon ab, so müßte man diese entsetzliche Wahrheit vor sich selbst verbergen.
Auf allen Seiten umgeben uns Menschen, welche stärker sind, als wir; auf tausenderlei Art können sie uns schaden, und zwar in den meisten Fällen ungestraft. Wie beruhigend also ist uns das Bewußtsein, daß ihnen allen ein inneres Prinzip im Herzen lebt, das uns verteidigt und uns gegen ihre Gewaltthätigkeit schützt!
Wenn es anders wäre, so müßten wir in beständiger Furcht schweben; so oft wir Menschen begegneten, würden wir ein Grauen empfinden, als wären sie Löwen, Obwohl in andren Stücken durch Hobbes' staatswissenschaftliche Ansichten (De cive) beeinflußt, zeigt sich Montesquieu doch hier fundamental von ihm verschieden; denn Hobbes lehrt, daß die Menschen von Natur sich wie wilde Tiere gegenüberstehen (Homo homini lupus est), während Montesquieu sie für natürlich gerecht hält. Der eine begründet auf seinem Pessimismus den Absolutismus, der andere auf seinem Optimismus die Republik. Wir glauben, die Wahrheit liegt in der Mitte. Der Mensch ist weder ein Engel noch ein Wolf, sondern ein Mensch, d. h. was Aristoteles ein î?ïí ðïëéôéêüí nennt, ein Wesen, das durch seine Bedürfnisse auf gegenseitige Hilfe und darum auch auf Gerechtigkeit hingewiesen ist. und keinen Augenblick unsres Lebens, unserer Habe und unserer Ehre sicher sein.
Alle diese Betrachtungen erfüllen mich mit Unwillen gegen jene Theologen, die Gott als ein Wesen darstellen, welches sich seiner Macht nach Art eines Tyrannen bedient. Sie lassen ihn handeln, wie wir selbst, aus Furcht, ihn zu erzürnen, nicht handeln möchten; sie hängen ihm alle die Unvollkommenheiten an, wegen deren er uns bestraft; sie erklären ihn in ihren widerspruchsvollen Äußerungen bald für ein böses Wesen, bald für ein Wesen, welches das Böse haßt und bestraft.
Welche Genugthuung empfindet ein Mensch, wenn er nach strenger Selbstprüfung sich sagen kann, sein Herz sei gerecht! Tiefernst, wie diese Befriedigung ist, muß sie ihn doch mit Freude erfüllen; denn er findet sich so hoch über allen, denen das Glück versagt ist, wie über Tigern und Bären. Ja, Rhedi, wenn ich mir bewußt wäre, allezeit unentwegt jener Gerechtigkeit zu folgen, deren Ideal mir vor Augen steht, so würde ich mich für den größten aller Menschen halten.
Paris, am 1. des ersten Mondes Gemmadi, 1715.