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Vierzehntes Kapitel.

Warum Romulus und Remus Durst leiden mußten. – See-Anemonen und Schildkröten.

 

Es war ein herrliches Panorama, das sich vor den Blicken unserer Abenteurer ausbreitete. Die Grenze des Waldes, an der sie jetzt standen, war ungefähr eine Viertelmeile vom Strande entfernt; vor ihnen fiel der Hügel dreißig Fuß ziemlich steil hinab zu dem ebenen Küstenstrich, der bis auf hundert Schritte von der Wasserkante mit üppigem Graswuchs bedeckt war; dann kam weißer Sand, hier und da mit kleinen Felspartien durchsetzt.

Das Meer war blau, eine Schattierung dunkler als der klare Himmel, ausgenommen an den Stellen, wo das Wasser schneeweiß über den Riffen brandete, die sich weit in die See hinaus erstreckten und auf deren zackigem Felsgestein große Mengen von Seevögeln saßen. Schwärme dieser Vögel wiegten sich kreisend in der sonnigen Luft, ab und zu niederschießend in die Flut und dann mit einem Fisch im Schnabel wieder emporsteigend; denn das Wasser wimmelte von Fischen, die in dichten Schwärmen hin und her zogen oder sich silberblitzend über die Flut hinwegschnellten.

Die Küste bildete eine weite Bucht von der Form eines Hufeisens, rechts und links liefen zwei kleine Landzungen, dicht mit Vegetation bedeckt, in das Meer hinaus.

Rüstig stand eine lange Zeit ohne ein Wort zu sprechen; sein Auge schweifte über den ganzen Horizont; er betrachtete die Riffe in der Ferne und dann den Strand, so weit er sich vor ihm ausbreitete.

»Woran denken Sie, Papa Rüstig?« unterbrach Wilhelm endlich das Schweigen.

»Ich denke daran, daß wir sobald als möglich Wasser finden müssen.«

»Ist Ihre Besorgnis deswegen wirklich so groß?«

»Ja, mein Junge, denn ich sehe hier im Lee unserer Insel kein anderes Eiland, was ich eigentlich erwartet hatte, und dadurch wird die Aussicht, hier fortzukommen, immer unwahrscheinlicher; außerdem ist diese Bucht durch jene Riffe unzugänglich, was ich auch nicht gern sehe. Nun, wir müssen abwarten. Jetzt wollen wir uns hinsetzen und unser Mittagsmahl einnehmen, hernach sehen wir uns die Gegend näher an.«

Er hieb mit der Axt einige der den Waldrand bildenden Bäume an.

»Damit wir den Ort wiederfinden, wo unser Weg zu Ende ging,« meinte er.

Nach kurzer Rast schritten sie zum Wasser hinab und von hier aus schaute Rüstig zurück, um an den Hügelhängen Schluchten oder Höhlungen zu entdecken, in denen vielleicht Wasser anzutreffen wäre.

»Ich bemerke da einige Stellen,« sagte er, »wo während der Regenzeit das Wasser Rinnen ausgespült hat; die müssen wir sorgfältig untersuchen, aber nicht jetzt, dazu ist morgen auch noch Zeit. Zunächst muß ich die Gewißheit haben, ob sich zwischen den Riffen eine Durchfahrt für unser Boot findet, denn wenn wir für den Fall, daß wir hier unsern künftigen Wohnsitz aufschlagen wollen, alle unsere Vorräte über Land hierher transportieren müssen, dann können Wochen, ja Monate vergehen, ehe wir dieses Stück Arbeit geschafft haben; wir wollen daher den Rest dieses Tages auf die Untersuchung der Küste verwenden und uns morgen nach Trinkwasser umschauen.«

»Sehen Sie doch die Hunde an, Papa Rüstig,« rief Wilhelm, »wie die armen Tiere das Seewasser saufen!«

»Davon werden sie bald genug haben; sieh nur, sie lassen's schon bleiben.«

Wilhelm war an den Strand getreten und blickte ins Wasser hinab.

»O, wie schön sind die Korallen hier!« sagte er bewundernd, »sie wachsen wie kleine Bäume in der durchsichtigen Tiefe – und hier, o, Papa Rüstig, hier wächst eine wirkliche, wunderbar schöne Blume auf dem Stein, dicht unter der Oberfläche!«

»Berühre sie einmal mit dem Finger, Willy,« lächelte Rüstig.

Wilhelm that, wie ihm geheißen; sogleich aber schloß die Blume ihren farbenbunten Kelch.

»Das Ding ist lebendig und faßt sich an wie Fleisch!« rief der Knabe.

»Das ist's auch, ich kenne diese Blumen, die Gelehrten nennen sie See-Anemonen, es sind aber keine Pflanzen, sondern Tiere. Laß uns jetzt nach der Spitze dieser Landzunge hinausgehen, vielleicht gewahren wir von dort eine Durchfahrt zwischen den Riffen. Die Sonne geht unter und wir werden kaum noch eine Stunde Tageslicht haben, bis dahin aber müssen wir einen Ort finden, wo wir die Nacht zubringen können.«

»Sehen Sie doch, Papa Rüstig,« rief Wilhelm jetzt, auf den Sand deutend, »was mag das für ein schwarzer runder Gegenstand sein?«

»Ei,« sagte der Alte, »das ist etwas, was ich gern sehe, nämlich eine Schildkröte; diese Tiere kommen um die Abendzeit aus dem Wasser, um ihre Eier in den Sand zu legen.«

»Können wir sie nicht fangen?«

»O ja, wenn wir vorsichtig zu Werke gehen; von hinten aber darfst du dich dem Tier nicht nähern, sonst wirft es dir mit seinen Füßen so viel Sand in die Augen, daß du nichts sehen kannst, und dann entwischt es dir. Man muß von vorne kommen, sie bei einem Fuß greifen und auf den Rücken werfen, dann sind sie hilflos.«

»Kommen Sie, lassen Sie uns die da fangen!«

»Das wäre ebenso unnütz wie grausam, lieber Willy; wir haben jetzt keine Verwendung für das Tier, und wenn wir es auf dem Rücken liegen ließen, dann müßte es morgen im Sonnenbrand umkommen. Man soll nie ein Leben ohne Not vernichten, und wenn wir jene Schildkröte jetzt umbrächten, dann könnte es sein, daß wir sie ein andermal schmerzlich entbehrten.«

»Daran dachte ich nicht, Papa Rüstig; wenn wir erst hier wohnen werden, dann fangen wir Schildkröten, so oft wir welche brauchen, nicht wahr?«

»Schwerlich; denn die Tiere kommen nur zur Brutzeit ans Land. Aber, wenn das Glück gut ist, dann legen wir uns einen Schildkrötenteich an, der von der See aus bewässert wird, aus dem die Tiere aber nicht entweichen können. So oft wir welche fangen, sperren wir sie da hinein, und dann können wir Schildkrötensuppe essen, so oft uns danach gelüstet.«

»Eine vortreffliche Idee,« sagte Wilhelm höchlichst befriedigt.

Sie setzten ihren Weg fort, indem sie sich mit Axt und Beil durch das Gestrüpp Bahn brachen, und bald waren sie an der Spitze der Landzunge angelangt.

Suchend überflogen ihre Blicke die endlose Ferne.

»Dort drüben sehe ich etwas,« sagte Wilhelm, mit der Rechten über das Meer deutend. »Was kann das sein?«

»Das ist eine andere Insel,« antwortete Rüstig, die Augen mit der Hand gegen den blendenden Schein der sinkenden Sonne schützend. »Wie ich sehe, ist sie viel größer, als unser Eiland; auch ist es eine tüchtige Bootsfahrt bis dahin, wenn es aber sein muß, dann erreichen wir sie wohl. Jetzt aber wollen wir umkehren; ich fühle, wie ich müde werde, auch dir wird es nicht besser gehen, mein armer Willy; sehen wir uns nach einer passenden Schlafstelle um und verschieben wir alles weitere auf morgen.«

Sie gingen zurück bis zur Waldgrenze; hier bereiteten sie sich an geschützter Stelle aus dürren Blättern ein weiches Lager.

»So,« sagte der Alte, indem er sich niederwarf, »jetzt noch einen Schluck Wasser und dann die Augen zu. Schau, Wilhelm, wie lang die Schatten der Bäume schon sind; die Sonne muß gleich verschwunden sein.«

»Soll ich den Hunden auch etwas zu trinken geben?« fragte Wilhelm. »Sehen Sie doch, wie der arme Remus an den Flaschen leckt!«

»Nein, keinen Tropfen; es mag dies grausam erscheinen, aber wir brauchen morgen auf der Suche nach einer Quelle den Instinkt der Tiere. Und nun, lieber Wilhelm, wollen wir nicht vergessen, noch dem zu danken, der uns bisher so treulich beschützt hat. Wer weiß, was morgen der Tag uns bringen mag. Hättest du dir vor vier Wochen wohl träumen lassen, daß du heute auf dieser Insel, unter freiem Himmel, und nur von einem alten Manne begleitet, dein Nachtlager würdest suchen müssen? Hätte dir das jemand prophezeit, du würdest es schwerlich geglaubt haben. Du siehst daraus, wie seltsam der Herrgott die Geschicke der Menschen lenkt. Und nun gute Nacht, mein lieber Junge.«


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