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Sebalds Mutlosigkeit. – Land in Sicht. – Der Pacific auf dem Korallenriff.
Das Boot war schon eine weite Strecke vom Schiff entfernt, noch immer aber stand der alte Rüstig verschränkten Armes auf dem Achterdeck und schaute den Davonsegelnden nach.
Herr Sebald stand neben ihm; er konnte kein Wort reden, sein Herz war zu voll; während er das Boot immer mehr verschwinden sah, drohte ihn auch alle Hoffnung zu verlassen und er glaubte fest, daß nun sein Weib und seine Kinder, er selber und der alte Mann an seiner Seite dem baldigen Untergange verfallen seien. Diese Empfindungen prägten sich auch auf seinem bleichen Antlitz aus.
Nach langem Schweigen wendete Rüstig endlich den Blick von dem Boote ab und seinem Unglücksgefährten zu.
»Die da,« sagte er, »bilden sich wahrscheinlich ein, daß sie schon so gut wie gerettet sind und daß wir untergehen müssen; sie vergessen aber, daß der alte Herrgott dort oben noch das letzte Wort hat und daß alles noch ganz anders kommen kann.«
»Das ist wohl wahr,« versetzte Herr Sebald kleinlaut, »aber wir sitzen hier auf einem sinkenden Schiff, mit einer Menge hilfloser Geschöpfe um uns herum, und woher da noch eine Aussicht auf Rettung kommen soll, das ist mir unverständlich.«
»Wir müssen uns selber helfen, so gut wir können, und den Rest Gott anheimstellen,« antwortete der alte Steuermann ruhig.
Damit ging er nach hinten und legte das Ruder so, daß das Schiff wieder vor den Wind kam.
Wie er den Matrosen vorausgesagt hatte, war der Sturm jetzt vorüber und auch die See glättete sich wieder. Er band das Ruder in seiner Lage fest und begab sich nach vorn, um einen Blick auf den Notmast und das Segel zu werfen.
Als er zurückkam, fand er Sebald mutlos auf derselben Stelle sitzend, wo vorhin der arme Kapitän gelegen hatte.
Er redete ihn mit freundlichen Worten an und bat ihn, nicht zu verzagen.
»Verzagen werde ich nicht,« antwortete Sebald, »aber ich gestehe, daß ich meine Gedanken noch immer nicht recht ordnen kann. Eine große Sorge bereitet mir meine Frau; wie soll ich ihr das Schreckliche nur mitteilen?«
»Kommt Zeit, kommt Rat,« antwortete Rüstig. »Unsere Lage ist übrigens noch lange keine verzweifelte. Zwar ist das Schiff halb voll Wasser, seit aber das Wetter ruhiger geworden ist, scheint es nicht mehr so leck zu sein wie vorher, denn das Wasser im Raum ist seit zwei Stunden fast gar nicht mehr gestiegen. Es kann sehr wohl sein, daß die gelockerten Planken sich wieder zusammenziehen. Wenn daher das gute Wetter eine Weile anhält, dann brauchen wir ein Sinken des Schiffes so bald noch nicht zu fürchten, und da wir uns in der Gegend der Koralleninseln befinden, so ist es sehr wahrscheinlich, daß wir eine derselben anlaufen und so unser Leben retten können. Diese Gedanken kamen mir, als die Leute das Boot herrichteten, und sie bewogen mich, bei Ihnen zu bleiben. Will's Gott, dann wird mein Beistand Ihnen und Ihrer Familie von Nutzen sein.«
Sebald war aufgestanden und drückte nun dem braven alten Seemann in dankbarer Rührung die harte Hand.
Der aber fuhr fort:
»Wenn Sie mir folgen wollen, dann gehen Sie jetzt hinunter in die Kajüte und überraschen Ihre Frau mit der freudigen Nachricht, daß wir feines Wetter haben und wahrscheinlich auch lange behalten werden und daß alle Hoffnung vorhanden ist, in nächster Zeit das Schiff an einen sicheren Ort zu bringen. Wenn sie noch nicht weiß, daß die Mannschaft uns verlassen hat, dann erwähnen Sie vorläufig noch kein Wort davon. Sollte sie nach dem Steward fragen, dann sagen Sie nur, der sei bei den Matrosen, was ja auch die Wahrheit ist; so ersparen wir ihr vorläufig den großen Schreck. Ihrem Sohn Wilhelm aber können wir vertrauen; schicken Sie ihn zu mir herauf, damit ich mit ihm reden kann. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ihr Rat ist gut und soll befolgt werden, lieber Rüstig. Wenn ich nur wüßte, wie ich Ihnen für Ihre edelmütige Selbstaufopferung danken kann. Sollten wir dem Tode entrinnen, der uns jetzt so nahe ist, dann wird meine Dankbarkeit –«
»Reden wir nicht davon!« unterbrach ihn der Steuermann. »Ich bin alt und wenn ich mit meiner letzten Lebenskraft noch guten Menschen dienen und nützlich sein kann, dann will ich dem Herrgott dafür von Herzen Dank wissen. Was kann diese Welt einem Manne noch bieten, der von Jugend auf ein hartes Leben geführt hat und der keine Seele weiß, die um seinen Tod eine Thräne vergießen würde? Gehen Sie hinunter, Herr Sebald; ich will hier oben noch Umschau halten.«
Sebald drückte noch einmal des Alten Hand, und dann stieg er in die Kajüte hinab. Hier fand er seine Frau in festem Schlaf; auch die Kinder lagen still in ihren Betten, nur Juno und Wilhelm saßen und warteten auf ihn.
Wilhelm zeigte auf die schlafende Mutter und winkte dem Vater, leise zu sein.
»Ich wollte sie nicht verlassen, während du an Deck warst,« flüsterte er. »Der Steward hat sich schon seit zwei Stunden nicht sehen lassen; er wollte die Ziege melken und für Albert Milch bringen, ist aber nicht wiedergekommen. Wir haben alle noch kein Frühstück gehabt.«
»Spring' hinauf an Deck,« antwortete der Vater, »Rüstig hat dir etwas zu sagen.«
Der Knabe gehorchte, und bald hatte der Steuermann ihm die jetzige Lage des Schiffes und seiner Insassen geschildert. Er forderte ihn auf, seinen Vater und ihn nach Kräften zu unterstützen und seine Mutter nicht unnötig zu beunruhigen.
Wilhelm hatte schnell begriffen, um was es sich handelte; er versprach, die auf ihn gesetzten Erwartungen nicht zu täuschen.
»Aber lieber Papa Rüstig,« sagte er, »da der Steward doch nun mit den andern fortgesegelt ist, was soll ich thun, wenn die Mutter aufwacht und mich fragt, warum die Geschwister noch kein Frühstück erhalten haben?
»Hm,« sagte der Steuermann, »da mußt du wohl selber gehen und eine der Ziegen melken; das ist nicht schwer, ich will dir zeigen wie's gemacht wird, unterdessen besorge ich den andern Frühstückskram.«
Wie gesagt, so gethan. Den vereinten Anstrengungen Wilhelms und des alten Rüstig gelang es, ein ganz prächtiges Frühstück herzustellen und in der Kajüte aufzutischen.
Die Bewegungen des Schiffes waren jetzt kaum noch zu merken. Es rollte nur sehr langsam von einer Seite zur andern, weil das seinen Raum füllende Wasser es schwer und unbeholfen machte. Die See und der Wind hatten sich gelegt und hell schien die Sonne vom klaren Firmament hernieder. Von dem Boote war schon lange nichts mehr zu sehen.
Langsam strich der Pacific durch die blaue Flut; wenn das Segel am Notmast auch nur klein war, so zog es das ungefüge Schiff dennoch merklich vorwärts; Rüstig schätzte des Fahrzeugs Schnelligkeit auf zwei Knoten die Stunde.
Auf seinen Rat hatte sich Juno mit den Kindern an Deck begeben, Wilhelm aber blieb in der Kajüte bei der noch immer schlafenden Mutter.
Die Negerin war heftig erschrocken, als sie den Zustand des Schiffes und die Abwesenheit seiner Besatzung gewahrte. Sebald erzählte ihr, was geschehen war und ermahnte sie, ihrer Herrin kein Wort davon zu sagen. Das arme Mädchen versprach dies, aber unwillkürlich drückte sie den kleinen Albert fester an sich, wie um ihn vor der Gefahr zu schützen, die sie sehr wohl erkannte. Sogar Tommy und Karoline fragten, wo denn die Masten und die Segel geblieben wären und warum der Kapitän nicht zu ihnen käme.
Rüstig lenkte die Aufmerksamkeit Sebalds auf kleinere Massen von Seetang, die vorübertrieben. Der schaute ihn fragend an.
»Das ist so ein Zeichen für uns Seefahrer,« lächelte der Steuermann; »es genügt aber noch nicht. Sehen Sie jene Vögel dort dicht über dem Wasser?«
»Die sehe ich.«
»Nun, solche Vögel entfernen sich niemals weit vom Lande; jetzt wissen Sie, was meine Zeichen sagen wollen. Ich will meinen Oktanten holen; wenn ich damit auch nicht den Längengrad finden kann, so läßt sich doch annähernd die Breite bestimmen; nachher wollen wir auf der Karte sehen, wo wir uns ungefähr befinden.«
Damit ging er, um sehr bald mit seinem Instrument wieder zurückzukehren. Es währte nicht lange, da hatte er die Sonnenhöhe bestimmt.
»Es ist gerade zwölf Uhr mittags,« sagte er. »Jetzt gehe ich hinunter, rechne die Breite aus und bringe dann die Karte herauf.«
Sebald blieb in tiefen Gedanken an Deck; schwere Sorgen erfüllten seine Brust; das war nicht zu verwundern, befand er sich doch mit seiner hilflosen Familie inmitten des Oceans auf einem verlassenen Wrack, und seine einzige Hilfe war ein alter Mann. Welch einem Geschick gingen sie entgegen? Ihre einzige Hoffnung war, eine Insel, vielleicht ein ödes, kahles Eiland, zu erreichen. Was dann? Oder wie, wenn sie an ein Land kamen, das von wilden Menschen bewohnt war, die sie feindlich bedrohten? Dann erlitten sie entweder den Tod des Verschmachtens, oder sie wurden gräßlich hingemordet. Aber vorausgesetzt, daß sie eine Insel erreichten, die ihnen Schutz und Lebensunterhalt gewährte, sollten sie dann ihr ganzes Leben dort zubringen?
In diesen Gedanken unterbrach ihn des alten Steuermannes muntere Stimme.
»Hier ist die Karte, Herr Sebald,« rief dieser, aus der Kajüte auftauchend, »ich habe einen Bleistiftstrich darauf gezogen, der bezeichnet unsere Breite; sehen Sie, er geht gerade durch diese Inselgruppe; wir sind entweder nicht mehr weit davon, oder schon mitten drin. Ich will schnell in die Kombüse und nach dem Essen sehen, das ich für uns aufgesetzt habe, hernach aber muß ich scharf nach Land ausgucken. Sie können das übrigens schon jetzt thun, besonders in der Richtung nach vorn.«
Sebald that wie ihm geheißen; er stieg auf die Back und stellte sich vorn an das Bugspriet, von dem ebenfalls nur noch ein Stumpf vorhanden war. Es währte nicht lange, da fand sich auch Rüstig bei ihm ein.
»Mein Fleisch kocht,« sagte er, »und auch die Kartoffeln werden bald gar sein. Haben Sie schon etwas gesehen?«
»Ja, Rüstig, ich glaube, ich sehe dort etwas, das aber auch eine Wolkenbank sein kann. Folgen Sie gefälligst meinem Finger.«
»Eine Wolkenbank kann es nicht gut sein, danach ist das Wetter nicht angethan,« versetzte Rüstig. »Jetzt sehe ich es auch, es ist Land – das heißt, nicht eigentlich Land, sondern Bäume – das heißt, nicht eigentlich Bäume, sondern der Widerschein von Bäumen in der Luft, was man eine Luftspiegelung nennt. Jedenfalls nähern wir uns einer Insel, Herr Sebald, verlassen Sie sich darauf; warten Sie, ich springe hinunter und hole das Teleskop.«
Er lief in seine Kammer und erschien gleich darauf mit einem langen Fernrohr wieder auf der Back.
»Ja, es ist Land,« sagte er, nachdem er lange hingeschaut hatte. »Ich wollte nur, wir hätten es früher gesehen, aber wir müssen auch so dankbar sein.«
Sebald sah den Alten fragend an.
»Es wäre besser gewesen, wenn wir es früher in Sicht gekriegt hätten,« fuhr dieser fort. »Das Schiff läuft nur geringe Fahrt, es ist daher kaum denkbar, daß wir die Küste noch vor Anbruch der Nacht erreichen, und ich hätte den alten Kasten doch gern an einer recht bequemen Stelle auf den Strand gesetzt.«
»Mir ist, als habe der Wind ein wenig zugenommen,« meinte Sebald.
»Nun, da wollen wir hoffen, daß es bald mehr giebt; wenn nicht, dann müssen wir uns helfen, so gut es eben geht. Jetzt will ich ans Ruder gehen und das Schiff auf die Insel zusteuern; es wäre ein Unglück, wenn wir vorbeiliefen, denn wenn auch das Schiff jetzt nicht mehr so leck ist wie zuvor, so muß ich Ihnen doch mitteilen, daß es sich kaum noch vierundzwanzig Stunden über Wasser halten kann. Heute früh dachte ich anders, als ich jedoch vorhin das Fleisch heraufholte, da gewahrte ich, daß die Gefahr doch größer ist, als ich geglaubt; immerhin, Herr Sebald, ist dort das Land und wir haben alle Aussicht auf Rettung, wofür wir Gott nicht genug danken können.«
Er ging an das Ruder und richtete den Kurs des Schiffes gerade auf die Insel. Dieselbe war gar nicht so entfernt, als er anfänglich gemeint hatte, denn das Land war sehr niedrig. Nach und nach wurde die Brise frischer; sie kamen schneller vorwärts, die Baumwipfel, die bisher in der Luft zu schweben schienen, vereinigten sich mit der Küste, und bald war deutlich zu erkennen, daß man eine niedrige, mit Kokospalmen bewaldete Insel vor sich hatte.
Ab und zu ließ sich Rüstig von seinem Unglücksgefährten am Ruder ablösen, um nach vorn zu gehen und die Küste zu mustern. Man war nur noch drei Seemeilen davon entfernt.
»Jetzt bin ich meiner Sache gewiß,« sagte Rüstig, wieder auf das Achterdeck kommend. »Sehen Sie dort jene drei Bäume dicht an der Wasserkante? Dort denke ich das Schiff auf den Strand zu setzen. Wir befinden uns auf der Luvseite der Insel und können daher dicht heranlaufen, während der Leeseite solcher Koralleneilande gewöhnlich eine Unmenge Klippen und Untiefen aller Art vorgelagert sind. Wir haben auch hierin Glück gehabt. Da ich nun aber hier vom Ruder aus jenen Punkt der flachen Küste nicht gut sehen kann, so müssen Sie nach vorne gehen, Herr Sebald, und mir signalisieren; soll ich mehr rechts steuern, dann heben Sie die rechte Hand auf, muß ich nach links halten, dann die linke Hand; läuft das Schiff aber den richtigen Weg, dann lassen Sie die erhobene Hand sinken. Haben Sie mich genau verstanden?«
»Ja, Rüstig,« antwortete Sebald, »Sie sollen mit mir zufrieden sein.«
Damit ging er nach vorn und gab dem Steuermann die verlangten Zeichen.
Als man dem Lande bis auf eine Seemeile nahe war, bemerkte Rüstig mit Genugthuung, daß die Farbe des Wassers sich veränderte; er erkannte daraus, daß die Tiefe sich merklich verringerte, wodurch das Wagnis erleichtert wurde. Gewöhnlich findet man bei Koralleninseln fast unmittelbar an der Wasserkante eine Tiefe von fünfzig bis sechzig Faden; es leuchtet ein, daß es in solchem Falle fast unmöglich gewesen wäre, das Schiff mit einigem Erfolg auf den Strand laufen zu lassen.
Hier waren die Aussichten besser, das Wasser wurde flacher, und dennoch – das Schiff befand sich kaum noch eine Kabellänge vom Ufer und noch immer war die Tiefe beträchtlich.
Der beiden Männer bemächtigte sich eine zunehmende Aufregung; da – endlich – ein schurrendes, knisterndes, kratzendes Geräusch unter dem Kiel – es rührte von den brechenden Korallenzweigen her, über die der Boden des Schiffes hinstreifte – das Geräusch hörte auf – jetzt wurde es wieder hörbar, stärker und gewaltsamer als zuvor – nun ein Ruck, dann ein Stoß – noch einmal hob die Dünung das Schiff empor und trug es eine Strecke weiter landwärts – jetzt ein neuer Stoß, heftig, krachend und knirschend – das Schiff saß fest, der Pacific hatte seine letzte Fahrt beendet.
Rüstig ließ das Steuerrad fahren, trat an die Reeling und schaute hinab. Er hatte erreicht, was er gewollt, das Fahrzeug lag unbeweglich und sicher auf einem Bette von Korallenfelsen.