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Einmal im Leben tauchte Wagner aus seiner Welt empor, einmal in seiner künstlerischen Bahn verlor er den Willen zur Wirkung. Dies eine Mal entstand das Werk, das einsam zwischen seinen Werken steht, wie Mathilde in seinem Leben. Im Tristan ist wirklich das Theater ausgeschaltet, sind wirklich alle Gaben krampflos frei entwickelt, hier ist ein Drama, hier ist der melodische Antrieb, hier sind Menschen, hier allein.
»Nur in die Tiefe der inneren Seelenvorgänge,« sagt Wagner, versenkte er sich hier »und gestaltete zaglos aus diesem innersten Zentrum der Welt ihre äußere Form ,… Leben und Tod, die ganze Bedeutung und Existenz der äußeren Welt hängt hier allein von der inneren Seelenbewegung ab. Die ganze ergreifende Handlung kommt nur dadurch zum Vorschein, daß die innerste Seele sie fordert, und sie tritt so an das Licht, wie sie von innen aus vorgebildet ist.« Und doch hat die Dichtung dieselbe Länge als alle jene, die eine Überfülle von Theater mit umschließen. Hier findet, wie Wagner sagt, »keine Wortwiederholung mehr statt, sondern im Ausbau der Worte und Verse ist bereits die ganze Ausdehnung der Melodie vorgezeichnet, nämlich diese Melodie dichterisch bereits konstruiert.«
Immer war Wagner den umgekehrten Weg gegangen, hatte das szenisch Wirksame nachträglich psychisch vertieft, hier baute er um das Psychische die Szene; ja, eine Szene, die das Auge nicht reizt. Im ersten Akt ein Stück Schiff, später nichts als Garten, Burg und Meer. »Nur: Brille ab! Nichts als das Orchester hören!« schrieb Wagner vor einem Tristanabend an Nietzsche. Ist das der nämliche, der in der szenischen Darstellung mit allen modernen Apparaten stets das notwendige Korrelat seiner Dichtung und Musik gesehen?
Der Lohn für diese Bändigung aller groben Instinkte war zunächst: ein wirkliches Drama. Oder doch ein erster Akt von solcher Geschlossenheit, daß man über die Lockerung der beiden andern nicht murren mag. Hier ist der Mythos mit Schlichtheit ergriffen und allenthalben nur durch ein Pathos verankert, das in den Stil der Sage besser paßt als moderne Psychologieen. Vom ersten Satze an: »Wer wagt mich so zu höhnen?« geht der erste Akt in grader Linie dramatisch vorwärts, und doch ist jede Zeile zugleich Charakteristik der Redenden. Hier ist einmal ein Stück Epos wahrhaft dramatisch geballt.
Was im Ringe gedanklich war, hier ist es Gebärde. Man muß die Schritte zählen, die die Musik dem unsichtbaren Tristan vormacht, ehe er den Vorhang zurückschlägt, und nun steht er da. Oder wie Isolde den Trank reicht. Oder wie sie die Fackel löscht. Das sind wahrhaft gespielte Symbole. Auch die Zauber fehlen. Denn hier ist der Trank die einzige Lösung eines Konfliktes, – der fertig ist, wenn das Stück beginnt.
Die Geschichte der Gestalten liegt zurück: darum beginnt das Drama auf seinem Höhepunkte, ohne »Ahnung«. Alle andern Helden und Heldinnen Wagners trifft der coup de foudre. Sie ahnten sich, sie sehen sich, sie lieben sich. Wollüstig vorgeträumt erzeugen sie sich Wollust. Im Tristan allein, ein einziges Mal schildert Wagner Leidenschaft, nicht Wollust.
Isolde ist weder Dämon noch typische »Jungfrau«. Jene wollen den Mann, sie will Tristan, will ihn aus Haß, der unmittelbar in Liebe springt. An die Stelle der schwülen, erlösungsbedürftigen Erlöserinnen tritt hier ein Weib voll Stolz, Haltung, Rasse. Diese Menschen sind zu sich entschlossen. » Dein Werk? O törichte Magd! Frau Minne kenntest du nicht?« (Vgl. den großen Einsatz im Tannhäuser: »Ein Wunder war's!«) Hier ist die Antithese (im ersten Akte) musikalisch möglich, weil eine unterirdische Vereinigung vorgefühlt wurde, die dann im Tranke ihren Ausdruck findet. Von nun an rinnt nur noch der lyrische Strom.
Hier gibt es keine Götter oder Wesen, nur Menschen großen Stiles. Nichts ist hier übermenschlich, vieles hold. Das hektische Wortgetürme weicht einer natürlichen Verwirrung, in der der Liebestrankberauschte nur immer jenen Namen stammeln kann: Isolde!
Treue, Glauben, jenseits des Geschlechtes, blüht aus den wunderbaren Seitengestalten auf, aus Kurwenal und Brangäne, ganz in Dur.
Der Stabreim, den die Theorie forderte, fehlt, der Reim, der an seine Stelle getreten ist, stützt die melodische Welt und fordert sie zugleich heraus. Der großen Geste entsprechen gewisse edle Wiederholungen. (»Das Schwert, ich ließ es sinken,« dreimal in einem Akt), anderes fällt durch sichere Skandierung auf (»War Morolt dir so wert, so wieder nimm das Schwert«). Verse von tragischer Schönheit, wie sie nirgends sonst bei Wagner stehen, finden sich hier: »O König, das kann ich dir nicht sagen!« Oder:
Das dunkle Land,
Daraus die Mutter mich entsandt,
Da, den im Tode sie empfangen,
Im Tode ließ an das Licht gelangen ,…«
Man vergißt darüber sogar jene Stellen, wo die Liebenden sich zu telegraphieren scheinen: »Ertrinken – versinken – unbewußt – höchste Lust.«.
Da hier vier Stunden lang eine einzige Stimmung herrscht, hat einzig hier die unendliche Melodie ihren ungestörten Lauf. Dadurch unterscheidet sich das Tristan-Orchester von allen anderen, daß es Stimmungen, daß es im Grunde diese eine Stimmung kommentiert; das Nibelungen-Orchester aber Sätze, Gedanken, Handlungen. Überall sonst war es hoch stilisiert und zugleich tonmalerisch, »naturalistisch«. Das gab die Dissonanz. Hier hat es die melodisch-dramatische Einheit gefunden.
Da das ganze Motivspiel hier wegfällt – es gibt im Tristan keine eigentlichen »Motive« im Sinne der Tetralogie –, da eine Grundstimmung das Ganze durchwallt, wird es auch diesem Musiker möglich, melodisch zu sein. Eine Anmut, die die herrschende Melancholie noch hebt, atmet durch diese Musik, wie sie bei Wagner in solcher Kontinuation nie und nirgends zu finden ist. Um dieser Anmut willen gibt es hier sogar wirkliche Koloraturen. Und um Kurwenal und Brangäne flutet eine ganze melodische Welt.
Und doch behandelt dieses Stück die Liebe der Geschlechter, behandelt sie mit einer Ausschließlichkeit und Weite wie kein anderes. Warum hier allein alles Harmonie geworden, wurde oben dargetan. Aus den nämlichen Gründen läuft das große Duett, das beinah eine Stunde dauert, den umgekehrten Weg als alle andern Liebesduette bei Wagner. Überall sonst wird eine Brunst emporgetrieben, bis »der Vorhang schnell fällt«; oder eine Hinderung tritt ein und reißt die Liebenden auseinander. In jedem Falle ist es ein großes Crescendo. Dieses hier ist ein großes Decrescendo. Nach dem ersten leidenschaftlichen Auftritt sänftigt sich in großen Triolen das Pochen, und alles tritt in die Sphäre des Mondlichtes ein. Nun aber werden die Stimmen mit solcher Vorsicht in die orchestralen Fluten eingelassen, daß das melodisch geglättete Meer sie wahrhaft wie Schwäne davonträgt.
Es ist ganz zwecklos, die Fülle wunderbarer Dinge aufzuzählen, die in der Partitur des Tristan stehn. Dieses Werk liegt auf einer Insel, alle andern liegen auf dem festen Land. Die andern kann man erreichen auf dem Wege der Theorie, auf dem Wege musikalischen Studiums, auf den Wegen der Sage oder des Theaters. Den Tristan kann nur erreichen, wer das große Wasser durchschwimmt, in dem er ruht.
Dann aber denkt man wieder an den einzigartigen Anlaß zu diesem Werke und an Wagners eigenes Wort: »Tristan ist und bleibt ein Wunder. Wie ich so etwas habe machen können, wird mir immer unbegreiflicher.«